eJournals motorik 40/3

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2017.art18d
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2017
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Embodiment - Leiblichkeit - Psychomotorik

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2017
Holger Jessel
Ausgehend von der Darstellung einer Praxissequenz wird die Be­deutung des Embodiment-Diskurses für die Psychomotorik erörtert. Hierzu werden zunächst zentrale Begriffe und Positionen der Embodiment-Forschung dargestellt. Im Anschluss daran wird die These vertreten, dass ein wesentlicher Schlüssel zur Klärung der Relevanz der Embodiment-Forschung für die Psychomotorik in den Begriffen der Leiblichkeit und der Zwischenleiblichkeit sowie der damit verbundenen phänomenologischen Theorietradition zu finden ist. Abschließend werden einige wesentliche Implikationen für die Psychomotorik formuliert.
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Zusammenfassung / Abstract Ausgehend von der Darstellung einer Praxissequenz wird die Bedeutung des Embodiment-Diskurses für die Psychomotorik erörtert. Hierzu werden zunächst zentrale Begriffe und Positionen der Embodiment-Forschung dargestellt. Im Anschluss daran wird die These vertreten, dass ein wesentlicher Schlüssel zur Klärung der Relevanz der Embodiment-Forschung für die Psychomotorik in den Begriffen der Leiblichkeit und der Zwischenleiblichkeit sowie der damit verbundenen phänomenologischen Theorietradition zu finden ist. Abschließend werden einige wesentliche Implikationen für die Psychomotorik formuliert. Schlüsselbegriffe: Embodiment, Leiblichkeit, Psychomotorik, Leib, Körper, Entwicklung Embodiment - Corporeality - Psychomotricity. Interrelations and Implications Based on the presentation of a therapeutic process, the article discusses the significance of the scientific embodiment discourse for psychomotricity. First, key terms and positions of the embodiment research are being presented. Secondly, the following thesis is being discussed: Clarifying the significance of embodiment research for psychomotricity requires an analysis of the terms corporeality and inter-corporeality and of the phenomenological tradition. Finally, substantial implications for psychomotricity are being illustrated. Key words: Embodiment, Corporeality, Psychomotricity, Lived Body, Body, Development [ TITELRuBRIK ] [ FORuM PSyCHOMOTORIK ] Embodiment - Leiblichkeit - Psychomotorik Zusammenhänge und Implikationen Holger Jessel Spürbare Beziehung Ich möchte mit der Darstellung einer Szene beginnen, die unmittelbar zum Kern der vorliegenden Fragestellung führt. Elisabeth Wellendorf schildert eine Therapie mit einem fünfjährigen Jungen, den sie als »kluges, kleines Kerlchen, spindeldürr, blass, mit einer dicken Brille über seinen hellen Augen« (Wellendorf 2002, 234) beschreibt, der die ganze Stunde rechnete. In bemerkenswerter Offenheit schreibt sie: »Ehrlich gestanden war er mir nicht sympathisch« (Wellendorf 2002, 234). Ihr wurde klar, »dass, wenn sich nicht etwas in der Beziehung zu ihm änderte, er Jahre kommen könnte, ohne dass sich etwas anderes entwickeln würde« (Wellendorf 2002, 234). »Eines Tages, als er sich wieder an den Tisch begeben hatte und rechnete, ging ich mit meinen Blicken auf seinem Kopf spazieren. Seine dünnen hellen Haare waren kurz geschnitten und streng zurückgekämmt, aber da gab es eine Bewegung, eine Linie zwischen seinem Ohr und seinem Hals, die war so rührend, da war auf einmal das Kind da, das er doch war und das ich offenbar immer übersehen hatte. Da schaute er zum ersten mal (sic! ) auf von seinen Rechnereien und sah mich mit seinen durch die dicken Brillengläser vergrößerten Kinderaugen an. Ich war ganz fassungslos, dass ich das übersehen hatte. (…) Als ich ihm am Ende der Stunde sagte, dass ich in 14 Tagen drei Wochen Urlaub machen würde, weinte er und fragte: ›Warum? ‹ Das erschütterte mich. Er hatte offenbar viel eher schon eine Beziehung zu mir aufgebaut« (Wellendorf 2002, 234 f ). Wie lässt sich diese Szene verstehen? Im Rückgriff auf Maurice Merleau-Pontys (1966) 3| 2017 motorik, 40. Jg., 108-113, DOI 10.2378 / motorik2017.art18d © Ernst Reinhardt Verlag [ 108 ] [ 108 ] [ 109 ] Jessel • Embodiment - Leiblichkeit - Psychomotorik 3| 2017 Konzeption einer ursprünglichen Sphäre kommunikativer Zwischenleiblichkeit lässt sich folgende Interpretation formulieren: »Sobald zwei Personen einander leiblich begegnen, sind sie von vorneherein in ein systemisches Interaktionsgeschehen einbezogen, das ihre Körper miteinander verbindet und ein präverbales und präreflexives Verstehen herstellt. Die Gefühle des Anderen werden in seinem Ausdruck unmittelbar verständlich, weil dieser in uns einen meist unbemerkten leiblichen Eindruck mit subtilen Empfindungen, Bewegungs- und Gefühlsvorstufen hervorruft. Daraus ergibt sich eine zwischenleibliche Resonanz: Man spürt den Anderen buchstäblich am eigenen Leib« (Fuchs 2008, 186). Die Szene macht deutlich, dass wir für das Verstehen und die professionelle Begleitung solcher Prozesse eine theoretische Basis sowie ein anschlussfähiges Vokabular benötigen. Die Bedeutung des Embodiment- Diskurses für die Psychomotorik Seit Anfang der 1990er Jahre erleben wir in den Sozial- und Geisteswissenschaften einen Body Turn (Gugutzer 2006, 9), eine deutliche Hinwendung zum Körper, die mit dessen gesellschaftlicher und kultureller Neubewertung in Verbindung steht (Geuter 2015, 10). »In der heutigen Zeit wird der Körper als Referenzpunkt immer bedeutender. Denn die Haltepunkte der Orientierung nehmen ab. (…) Die Frage ›Was will ich‹ ersetzt die Frage ›Was kann ich‹ und wirft Menschen zurück auf eine Erkundung der eigenen Bedürfnisse. Diese aber macht einen spürenden Bezug zum Körper geradezu notwendig. Der Körper wird zu dem Ort, an dem jeder selbstverantwortlich Sinn, Halt und Orientierung im Leben gewinnt« (Geuter 2015, 10). Seit den 1990er Jahren erfahren auch die Termini Embodiment, Embodied Cognition und Embodied Mind u. a. in der Kognitionswissenschaft, der Psychologie, der Anthropologie, der Philosophie und der Neurobiologie eine differenzierte und kontroverse Auseinandersetzung (u. a. Geuter 2015, 8 ff; Koch 2013, 17). In der Psychomotorik spielen die Begriffe bis auf wenige Ausnahmen (Geuter 2015, Kopelsky 2016) kaum eine Rolle, obwohl sie sich - so meine These - aufgrund ihrer interdisziplinären Orientierung zwingend mit angrenzenden Fachdiskursen auseinandersetzen sollte, um ihre Anschluss- und Entwicklungsfähigkeit zu sichern. Beispielhaft sei hier auf Gerd Hölter verwiesen, der der Psychomotorik eine »Tendenz zur wissenschaftlichen ›Verinselung‹« (Hölter 2013, 11) bescheinigt, die fatal sein könne. Die Psychomotorik habe zwar ohne Zweifel »wesentliche Aspekte des Diskurses über die Bedeutung von Leiblichkeit und Bewegung in Erziehung und Therapie angeregt und mitgestaltet« (Hölter 2013, 11), allerdings sei im Hinblick auf die eigene Profilierung »mehr Realismus, Kooperationsbereitschaft und Bescheidenheit angesagt« (Hölter 2013, 12). Die Psychomotorik bezieht sich auf ein außerordentlich breites Spektrum an Disziplinen, Diskursen und Theorien, sie ist damit von einem gemeinsamen theoretischen Fundament und einer einheitlichen Terminologie weit entfernt. In Analogie zu Geuters (2015, 3 f.) Argumentation ließe sich feststellen, dass dies nicht nur an der Psychomotorik liegt, sondern auch an ihrem Gegenstandsbereich. Mit der Embodiment-Forschung existiert ein interdisziplinärer Diskurs, der möglicherweise das Potenzial enthält, zu einer begrifflichen und anthropologischen Selbstvergewisserung der Psychomotorik beizutragen. Als zentral könnte sich hierfür der Begriff der (Zwischen-) Leiblichkeit erweisen. Begriffe und Positionen der Embodiment-Forschung Das gegenwärtig sehr präsente Konzept Embodiment ist - folgt man Sabine Koch - »begrifflich überstrapaziert und gleichzeitig unterdeterminiert« (Koch 2013, 18). Sie kritisiert, »dass der Begriff sinngemäß nichts anderes sei als ein Pflaster für eine 300 Jahre alte Wunde, dass er jedoch die Spaltung von Körper und Geist perpe- Der Begriff der Leiblichkeit ist für-die-Psychomotorik zentral. [ 110 ] 3| 2017 Forum Psychomotorik tuiere, weil die dichotomen Konzepte integraler Teil unseres Denkens blieben« (Koch 2013, 18). Diese Herausforderung gilt auch für den Kontext der Psychomotorik. So sieht etwa Jürgen Seewald die Herausforderung darin, dass Körper und Bewegung im Schatten einer »dualistisch geprägten Denkkultur« (Seewald 2003, 84) liegen, was unter anderem in den dualistischen Begrifflichkeiten wie psychosomatisch oder psychomotorisch zum Ausdruck komme. Darüber hinaus schwingt im Begriff Embodiment mit, »dass der Körper mit etwas beladen ist, das sich durch ihn zeigt (Kognition, Affekt, Erinnerung, etc.). Damit verstellt der Begriff den Blick auf das Lebendige, Dynamische, Qualitative, das konstituierender Bestandteil unseres leiblichen In-der-Welt-Seins ist: Der Körper ist von Anfang an da und Bewegung macht ihn erst spürbar« (Koch 2013, 18). Es wird vor allem kritisiert, dass die fundamentale Bedeutung von Bewegung in der Embodiment-Forschung bislang nicht ausreichend berücksichtigt worden sei und diese damit dem Leib nicht gerecht werde (Koch 2013, 18). Sabine Koch (2013, 18) verwendet als Übersetzung des Begriffs Embodiment den Begriff der Leiblichkeit, einerseits als Alternative zur internationalen Verwendung und andererseits in Anlehnung an die phänomenologische Philosophie (Geuter 2015, 81 f.). Sie verbindet damit die Forderung, »dass sich die Embodiment-Forschung noch umfassender in Richtung einer Leiblichkeitsforschung entwickeln muss, da dynamische und kinästhetische Aspekte noch nicht hinreichend berücksichtigt werden« (Koch 2013, 20). Ihre Arbeitsdefinition lautet: »Embodiment bezeichnet Leibphänomene, bei denen dem Körper als lebendigem Organismus, seinen Bewegungen und Funktionen sowie der Interaktion von Leib und Umwelt eine zentrale Rolle im Rahmen der Erklärung von und den Wechselwirkungen mit Denken, Wahrnehmen, Lernen, Gedächtnis, Intelligenz, Problemlösen, Affekt, Einstellungen und Verhalten zugewiesen wird« (Koch 2013, 22). Embodiment meint also nicht, »dass sich etwas verkörpert, also zu etwas Körperlichem wird, sondern dass geistige Prozesse in einem Körper entstehen oder vielmehr Teil der Natur eines körperlichen Wesens, also eingekörpert sind« (Geuter 2015, 83). Die radikale Version der Theorie des Embodied Mind, der Enaktivismus (u. a. Hutto / Myin 2013), ist der Auffassung, »mit dem Konzept des verkörperten Geistes die cartesianische […] Trennung zwischen geistiger und körperlicher Welt überwunden zu haben« (Geuter 2015, 8). Mittlerweile liegen zahlreiche empirische Befunde vor, die zeigen, dass Bewegungen und körperliches Ausdrucksverhalten die mentale Repräsentation der Umwelt und anderer Menschen bestimmen (Geuter 2015, 8). »Der Körper legt fest, was ein Mensch wahrnehmen, wie er handeln und wie die Welt auf ihn wirken kann« (Geuter 2015, 84). Erfahrung ist damit nicht nur eine Begleiterscheinung, »im Enaktivismus ist sie verbunden damit, lebendig zu sein und in einer bedeutungsvollen Welt zu handeln« (Geuter 2015, 88). Die Dimension der intersubjektiven Interaktion, die laut Thompson und Varela (2001) »im vollen Sinne verkörperte Prozesse umfasst und Gesichtsausdruck, Haltung, Bewegung, Gestik und unterschiedliche Formen sensomotorischer Kopplung einschließt« (Gallagher 2012, 330), ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Diese Position weist eine große Nähe zur phänomenologischen Tradition sowie zum Begriff der (Zwischen-)Leiblichkeit auf, der auch im psychomotorischen Fachdiskurs eine bedeutende Rolle spielt (z. B. Seewald 1992; Jessel 2010). Leiblichkeit und Zwischenleiblichkeit Folgt man Waldenfels, so »ist beim Thema Leiblichkeit (…) nicht an einen rein physiologischen Bereich zu denken, sondern an das, was überhaupt das Leben in der Welt ausmacht« (Waldenfels 2000, 16). Thomas Fuchs schlägt vor, das »traditionelle Bild des Menschen als ›Bürger zweier Welten‹« (Fuchs 2013, 12) durch eine Anthropologie zu ersetzen, »die einen wechselseitigen ›Übergang‹ von Animalität zu Rationalität denkbar macht, ohne damit Geist auf Naturprozesse zu reduzieren« (Fuchs 2013, 12). Er geht davon aus, »dass die spezifische Befähi- [ 111 ] Jessel • Embodiment - Leiblichkeit - Psychomotorik 3| 2017 gung des Menschen zur symbolischen Intersubjektivität und Reflexivität (Sprache, Selbstbewusstsein, Rationalität) in seiner ›Leiblichkeit und Zwischenleiblichkeit‹ selbst verankert ist« (Fuchs 2013, 12). Ich folge seiner These, wonach »der Mensch ›qua‹ Leib ein natürliches und zugleich ein soziales Subjekt ist« (Fuchs 2013, 13). Um diese These zu belegen, werden vier Erscheinungsformen der Leiblichkeit unterschieden. Sie leisten einen Beitrag zum Verstehen der eingangs geschilderten Szene und sie sind für eine anthropologische Selbstvergewisserung der Psychomotorik fundamental. Der fungierende Leib In unseren alltäglichen Handlungen, zum Beispiel beim Gehen, Sprechen oder in der Orientierung im Raum ist der Leib »das selbstverständliche Medium unserer Existenz« (Fuchs 2013, 14). Maurice Merleau-Ponty (1966, 234) spricht deshalb auch vom Leib als »natürliches Subjekt«, das allen bewussten und reflektierenden Handlungen vorausgeht und zugrunde liegt. Über die genannten Fähigkeiten verfügt der Mensch aber nicht von vornherein. Der Säugling gewöhnt sich vielmehr im »wiederkehrenden Funktionskreis von spontaner Bewegung und wahrgenommener Antwort der Umgebung (…) an seinen Körper und lernt sich in der Umwelt geschickt zu bewegen« (Fuchs 2013, 15). Diese sensomotorische Eingewöhnung wird dem impliziten Gedächtnis oder Leibgedächtnis zugeschrieben. Die außerordentliche Plastizität und Formbarkeit des menschlichen Leibes ist einerseits Voraussetzung dafür, dass der Mensch durch Gesellschaft und Kultur so stark geprägt werden kann, und andererseits ist sie »eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung der Kultur« (Fuchs 2013, 16). Der pathische bzw. affizierbare Leib Der pathische Leib umfasst Erlebnisformen wie Hunger, Durst, Müdigkeit, Schmerz etc. Leiblichkeit ist hier etwas, »was einem widerfährt, was man an sich selbst spürt, und wovon man betroffen ist« (Fuchs 2013, 17). Damit sind zugleich die menschliche Empfindlichkeit und Verletzlichkeit, seine Bedürftigkeit und sein Angewiesensein angesprochen. Der Mensch ist mit leiblichen Impulsen bzw. Grundbewegungen konfrontiert, die einerseits mit intensiven Affekten verbunden sind und andererseits »bereits den Säugling in ein komplexes Geflecht von Beziehungen mit den Anderen verstricken« (Fuchs 2013, 18.). Die anfangs noch undifferenzierten Affekte erhalten ihre intentionale und kommunikative Bedeutung erst in der Interaktion zwischen Säugling und Bezugsperson. Diese Offenheit ist zugleich die Basis für die Feinheit und Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen, wobei frühe Beziehungs- und Resonanzerfahrungen maßgeblich auch die späteren Beziehungen sowie die Entwicklung der Sprach- und Gefühlsfähigkeit beeinflussen (Rosa 2016, 257). Der mimetische bzw. resonante Leib Babys verfügen bereits kurz nach der Geburt über eine angeborene Ausdrucksresonanz. »Sie imitieren wiederholt dargebotenes Mundöffnen, Zunge-Zeigen und andere mimische Signale, und zwar nicht nur reflexartig, sondern gezielt. (…) Sie sind also von Geburt an in der Lage, eine wahrgenommene Mimik in ihre eigene, propriozeptive Körperempfindung und entsprechende Bewegung zu übersetzen« (Fuchs 2013, 20). Durch diese Nachahmungsprozesse über Mimik, Gestik und Bewegung entsteht auch eine affektive Resonanz. »Generell werden Gefühle im Ausdruck verständlich, weil er einen leiblichen Eindruck hervorruft: Man spürt den anderen förmlich am eigenen Leibe« (Fuchs 2013, 21). Insbesondere die Empathieforschung hat deutlich gemacht, dass die Fähigkeiten zur wechselseitigen Einfühlung, zum Nachvollzug und zur Frühe Beziehungs- und Resonanzerfahrungen beeinflussen die Sprach- und Gefühlsfähigkeit. [ 112 ] 3| 2017 Forum Psychomotorik Perspektivenübernahme für Lernen, Denken, Handeln und damit für Entwicklung generell von elementarer Bedeutung sind. So geht etwa der Neurobiologe Joachim Bauer (2005) davon aus, dass es ein »eigenständiges biologisches Kernmotiv [gibt]: die Suche nach Passung, Spiegelung und Abstimmung zwischen biologischen Systemen (…) Nicht dass wir um jeden Preis überleben, sondern dass wir andere finden, die unsere Gefühle und Sehnsüchte binden und spiegelnd erwidern können, ist das Geheimnis des Lebens« (Bauer 2005, 173). Kinder erwerben sehr früh ein implizites Beziehungswissen (Stern 2010), d. h. ein leibliches Wissen, wie man gelingende Kontakte zu anderen gestaltet. »Die frühen Interaktionen verwandeln sich in ›implizite Beziehungsstile‹ und prägen damit die Grundstrukturen des Beziehungsraums, in dem ein Mensch sein Leben lang lebt« (Fuchs 2013, 22). Der inkorporative bzw. kultivierte Leib Mit ca. 16-18 Monaten erkennen sich Kinder im Spiegel und spätestens ab diesem Moment wird der Körper auch zum gesehenen Körper und zum Träger sozialer Symbolik. Hier verdeutlicht sich bereits sehr früh in der kindlichen Entwicklung das von Helmuth Plessner (1975) formulierte ambivalente Verhältnis des Menschen zu seiner körperlichen Existenz, die er ist (Leib-Sein) und gleichzeitig hat (Körper-Haben). Der Mensch kann sich dadurch einerseits in seinem Körper selbst darstellen, er muss es aber auch. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich zu verstellen, verschiedene Rollen zu spielen und das spontane Ausdrucksverhalten zu hemmen. Mit der Entwicklung der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel wird der Leib zunehmend auch der von anderen gesehene bzw. missachtete, der sich zeigende bzw. verbergende oder der wertgeschätzte bzw. abgewertete Leib (Fuchs 2013, 25). Der Umgang der wichtigsten Bezugspersonen mit den spontanen leiblichen Impulsen und Bewegungshandlungen des Kindes ist auch hier von entscheidender Bedeutung. Insgesamt gehen sämtliche zwischenleiblichen Beziehungs- und Erziehungserfahrungen des Menschen sowie das Erleben von Kultur und gesellschaftlichen Strukturen (u. a. Normen, Werte, Umgangsweisen in der Familie, in Bildungseinrichtungen etc.) als Habitus (Bourdieu 1982) in das Leibgedächtnis ein. Der Habitus ist damit die einverleibte, gleichsam zur Natur gewordene (Lebens-)Geschichte des Menschen. Implikationen Für die Psychomotorik ergeben sich aus den dargestellten Zusammenhängen einige grundlegende Implikationen, die hier lediglich benannt werden können. Für die Entwicklung psychomotorischer Könnerschaft und Expertise ist es unabdingbar, dass Lernende und Professionelle ihre Aufmerksamkeit auch auf leibliche und zwischenleibliche Resonanzphänomene richten. Für Fuchs zeigt sich die fundamentale Bedeutung der Zwischenleiblichkeit darin, dass sie ein übergreifendes System bildet, »in dem die biologische und die soziale Entwicklung von frühester Kindheit an miteinander verknüpft sind, und das den Dualismus von Natur und Kultur, Körper und Geist aufhebt« (Fuchs 2013, 27). Der Bezug zu Lern- und Entwicklungsprozessen lässt sich wie folgt formulieren: »Wir können nur lernen, weil wir leiblich leben, sowohl denken als auch körperlich, raumzeitlich vorhanden sind. Wir schweben nicht als Geister über dem dunklen Wasser und spiegeln seine Oberfläche. Menschen sind nicht nur sinnsuchende, vernünftige Geistwesen, sondern auch sinnliche und zugleich herausragende, empfindsame und somit auch verletzliche Körper in Raum und Zeit. Unhintergehbare Voraussetzung menschlichen Lernens ist seine Leiblichkeit« (Faulstich 2013, 143). Welche konkreten inhaltlichen Erfahrungen für ein gutes und gelingendes Leben, für die Qualität unserer Weltbeziehung, elementar sind, Kinder erwerben früh ein leibliches Beziehungswissen, ein Wissen, wie man gelingende Kontakte gestaltet. [ 113 ] Jessel • Embodiment - Leiblichkeit - Psychomotorik 3| 2017 lässt sich von außen nicht bestimmen. Entscheidend dürfte hingegen die Erfahrung einer existentiellen »Resonanzgewissheit« (Rosa 2016, 297) sein, die Erfahrung, gesehen und gehört zu werden, die Erfahrung, antworten zu können und Antworten zu erhalten. Die Relevanz solcher Erfahrungen betrifft sämtliche Lehr-, Lern- und Entwicklungsprozesse im Kontext der Psychomotorik und bezieht sich demnach nicht nur auf den Dialog mit KlientInnen in den verschiedensten Settings, sondern auch auf die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von PsychomotorikerInnen sowie auf Prozesse im Kontext der Team- und Organisationsentwicklung. Ohne eine solide theoretische und terminologische Basis lassen sich diese Prozesse weder angemessen verstehen noch begleiten. Der Begriff der (Zwischen-) Leiblichkeit eröffnet hierbei Anschlussstellen zwischen dem Embodiment-Diskurs und der Psychomotorik. Literatur Bauer, J. (2005): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. 4. Aufl. Hoffmann und Campe, Hamburg Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main Faulstich, P. (2013): Menschliches Lernen. Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie. transcript, Bielefeld, https: / / doi.org/ 10.14361/ transcript.978383 9424254 Fuchs, T. (2013): Verkörperung, Sozialität und Kultur. In: Breyer, T., Etzelmüller, G., Fuchs, T., Schwarzkopf, G. (Hrsg.): Interdisziplinäre Anthropologie. Leib - Geist - Kultur. Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 11-33 Fuchs, T. (2008): Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. 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