motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2017.art22d
7_040_2017_3/7_040_2017_3.pdf71
2017
403
Aktuelles Stichwort: Zur Embodimentforschung
71
2017
Jörg Lemmer Schmid
Nach einer Begriffsklärung werden fünf Forschungstraditionen benannt, welche sich explizit mit dem Konzept »Embodiment« befassen. Abschließend wird die Embodimentforschung in der Motologie skizziert.
7_040_2017_3_0007
[ 137 ] motorik, 40. Jg., 137-139, DOI 10.2378 / motorik2017.art22d © Ernst Reinhardt Verlag 3| 2017 [ AuF DEN PuNKT GEBRACHT ] Aktuelles Stichwort: Zur-Embodimentforschung Jörg Lemmer Schmid Nach einer Begriffsklärung werden fünf Forschungstraditionen benannt, welche sich explizit mit dem Konzept »Embodiment« befassen. Abschließend wird die Embodimentforschung in der Motologie skizziert. Begriffsklärung Das Wort »Embodiment« kann aus dem Englischen mit »Verleiblichung« übersetzt werden. Hierbei handelt es sich um einen interdisziplinär verwendeten Fachbegriff, welcher im Kern den Zusammenhang zwischen materiellen, körperlichen und nicht-materiellen, psychischen Ebenen beschreibt. In Abhängigkeit der jeweiligen Diskurse differieren Forschungsmethodik und Anwendungsbezug. Die zentrale Fragestellung wird als »Leib-Seele-Rätsel« von jeher in der Philosophie diskutiert. Der Embodimentansatz ergänzt die bereits unter »Psychosomatik« bekannte Annahme, dass sich seelische Prozesse auf körperlicher Ebene wiederspiegeln können, um die genau umgekehrte Wirkrichtung: Körperhaltungen und Bewegungsqualitäten sowie jegliche Art sinnlicher Erfahrung können auch Denkprozesse, Einstellungen oder Stimmungen beeinflussen. Denken geschieht also nicht nur im Kopf, sondern der ganze Körper ist daran beteiligt (Fuchs 2008). Fünf Blickwinkel der Embodimentforschung Folgende Aufzählung erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit, sondern soll vielmehr als Orientierungshilfe in einem komplexen Forschungsfeld verstanden werden. 1. Mit als Erstes wurde in den 1980er Jahren in den Kognitionswissenschaften und Robotik explizit zum Thema »Embodied Cognition« der Frage nachgegangen, wie der künstlichen Intelligenz ein Körper verliehen werden könnte. Wie kann eine Maschine sich nicht nur ihrer eigenen materiellen Existenz bewusst sein, sondern auch aktiv mit der Umwelt in Interaktion treten? Aktuelle Forschungsergebnisse verzeichnen eine rasante Entwicklung; so werden bspw. Androiden bereits in der Altenpflege als Personal eingesetzt (Stanford Report AI, 2016). 2. Etwa zeitgleich wurde in der Sozialpsychologie der Zusammenhang zwischen psychischen Prozessen wie Einstellungen, Entscheidungsverhalten oder Erinnerungsleistung und körperlichen Prozessen wie z. B. Bewegungsrichtung, Bewegungsqualität oder Körperhaltung in experimentellen Versuchsanordnungen beforscht (Storch et al. 2010; Fuchs / Koch 2014; Geuter 2015). Stark vereinfacht lassen sich diese Ergebnisse mit folgendem Satz zusammenfassen: Ein Mensch lacht nicht nur, weil es ihm gut geht; ihm geht es auch gerade gut, weil er lacht. Derartige Forschungsergeb- [ 138 ] 3| 2017 Auf den Punkt gebracht nisse finden auch zunehmend Anwendung in der Psychotherapie (Tschacher / Storch 2010). 3. In der Neurologie und Medizin setzte die Embodimentforschung eher am Körper an. Mittels bildgebender Verfahren konnte gezeigt werden, dass bei kognitiven Prozessen wie Erinnerung oder Handlungsplanung immer auch sensomotorische Hirnregionen aktiviert werden. Dies belegt die zentrale Bedeutung von Bewegung und Körperwissen für das Denken. Ebenfalls bedeutsam für den Embodimentdiskurs waren Forschungen zum Thema »Spiegelneurone« oder »Somatische Marker« (Damasio 2015). Sie erklären, wie Menschen in der Lage sind, sich in andere einzufühlen, bzw. ihr eigenes Gefühl als Entscheidungsgrundlage zu verwenden: Etwas fühlt sich »richtig« oder »nicht stimmig« an (Geuter 2015). 4. Spirituell-kontemplativ ausgerichtete Forschungstraditionen wie in der buddhistischen und transpersonalen Psychologie nutzen überwiegend die Introspektion als Untersuchungsmethode. Die sogenannte Achtsamkeitspraxis zeichnet sich durch eine besondere Aufmerksamkeitslenkung auf die gegenwärtig körperliche und geistige Erfahrung aus. »Die Erforschung des Bewusstseins erfordert sowohl eine Innenals auch eine Außenperspektive« (Damasio 2015, 104). Das Besondere derartiger Forschungstraditionen liegt vor allem in der expliziten Beschreibung von Zuständen einer »Non-Dualität« zwischen Geist und Körper (Heidenreich / Michalak 2009). 5. Als Letztes ist die sogenannte somatische Praxisforschung zu erwähnen, welche auf Einzelfall- und Selbststudien basiert. Thomas Hanna prägte den Begriff »Somatics« als die »Praxis des Embodiments«. In den primär als Meisterlehren zu bezeichnenden Ansätzen wie z. B. »Eutonie« nach Gerda Alexander oder der »Feldenkrais Methode« liegt der Fokus darauf, innere Vorstellungsbilder mit der subjektiven Körper- und Bewegungserfahrung in Einklang zu bringen. So wird die »Body- Mind-Centering«-Methode nach Cohen (1993) bspw. explizit als »Experiential Anatomy« bezeichnet. Durch die Förderung leiblicher Bewusstheit und durch das Erkennen eigener Wahrnehmungs- und Bewegungsmuster wird eine neue Entscheidungsfreiheit für selbstbestimmtes gesundheitsdienliches Handeln geschaffen (Rytz 2012). Auch der freie Tanz wie z. B. die Kontakt-Improvisation kann als somatische Praxis bezeichnet werden. Embodimentforschung in der Motologie Das Leib-Seele-Rätsel ist eine der zentralen Fragestellungen der Motologie (Kim Blau 2013). Fast normativ gilt dabei ein Postulat der Ganzheitlichkeit. Ein originär motologischer Embodimentansatz wurde bisher jedoch noch nicht formuliert. Trotz bedeutender Ausnahmen wird in der motologischen Praxissowie Theorieentwicklung überwiegend eklektizistisch vorgegangen (Richter 2011). Ergebnisse aus neuro- und sozialpsychologischer Embodimentforschung werden dabei zur Legitimierung psychomotorischen Vorgehens zitiert. Kontemplative Ansätze wie die Praxis der Achtsamkeit finden ebenfalls Aufmerksamkeit im motologischen Diskurs (Jessel 2012). Einen besonderen Einfluss auf die Sprache und damit auch auf die Konzeptentwicklung in der Motologie hatte vor allem die philosophische Strömung der Phänomenologie. Edmund Husserl gelang es, mit dem Leibbegriff dem sprachlich sonst nur schwer überwindbaren cartesianischen Dualismus eine ganzheitliche Vorstellung entgegenzusetzen. Anstatt von einer Wechselwirkung zweier Ebenen zu sprechen, beschreibt der Begriff »Leib« die Erfahrung des Selbst als eine Einheit, welche sich über die rein körperlichen Grenzen ausweiten kann (Waldenfels 1992). Somatics ist die Praxis des Embodiments. [ 139 ] Schmid • Aktuelles Stichwort: Zur-Embodimentforschung 3| 2017 Literatur Cohen, B. B. (1993): Sensing, feeling, and action. The experiential anatomy of body-mind centering. MA: Contact ed., Northampton Damasio, A. R. (2015): Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn 8. Aufl. List, München Fuchs, T. (2008). Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Kohlhammer, Stuttgart Fuchs, T., Koch, S. C. (2014): Embodied affectivity: on moving and being moved. Frontiers in psychology 5, 508. Geuter, U. (2015): Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis (Psychotherapie). Springer, Berlin Heidenreich, T., Michalak, J. (Hrsg.). (2009): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Ein Handbuch. 3. Aufl. DGVT-Verlag, Tübingen Jessel, H. (2012): Achtsamkeit - Leiblichkeit - Gesundheit. Zur Relevanz des Achtsamkeits-Konzepts für eine psychomotorisch orientierte Gesundheitsförderung. motorik,35 (2), 61-68 Kim Blau, J. (2013): Das Leib-Seele-Problem in Psychomotorik und Motologie. Wissenschaftlicher Verlag für Psychomotorik und Motologie, Marburg Richter, J. (2011): Freie Fundamente. Wissenschaftstheoretische Grundlagen für eklektische und integrative Theorie und Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Rytz, T. (2012): Vorwort. In: Johnson, D. H. (2012): Klassiker der Körperwahrnehmung. Erfahrungen und Methoden des Embodiment. Huber, Bern, 4 Storch, M., Hüther, G., Tschacher, W. (Hrsg.) (2010): Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Huber, Bern Stanford Report on Artificial Intelligence (2016): www. ai100.stanford.edu/ sites/ default/ files/ ai_100_ report_0831fnl.pdf, 3.2.2017 Tschacher, W., Storch, M. (2010): Embodiment und Körperpsychotherapie. In: Müller-Braunschweig, H., Stiller, N. (Hrsg.): Körperorientierte Psychotherapie. Methoden - Anwendungen - Grundlagen. Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg, 163-174 Waldenfels, B. (1992): Einführung in die Phänomenologie. UTB, München Der Autor Jörg Lemmer Schmid ist Diplom Psychologe und Professor für Motologie an der Hochschule Emden-Leer im FB Soziale Arbeit und Gesundheit. Er ist approbierter Verhaltenstherapeut für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich somatische Bewegungspraxis und Körperpsychotherapie. Kontakt Post@Joerg-Lemmer-Schmid.de
