eJournals motorik 41/1

motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2018
411

Ansätze der Psychomotorik / Motologie im Kontext von Flucht und Migration

11
2018
Frank Francesco Birk
Die Thematik Flucht und Migration hat seit den letzten Jahren in der deutschen Psychomotorik / Motologie an Bedeutung gewonnen. In den 2010er Jahren kamen über zwei Millionen Menschen mit Flüchtlingshintergrund in die Bundesrepublik Deutschland und es entwickelten sich unterschiedliche Initiativen, die psychomotorisch-motologische Angebote für diese Zielgruppe anbieten. Im Zentrum dieses Beitrags steht die Auseinandersetzung mit einigen relevanten psychomotorisch-motologischen Ansätzen für das Handlungsfeld Flucht und Migration.
7_041_2018_001_0004
Zusammenfassung / Abstract Die Thematik Flucht und Migration hat seit den letzten Jahren in der deutschen Psychomotorik/ Motologie an Bedeutung gewonnen. In den 2010er Jahren kamen über zwei Millionen Menschen mit Flüchtlingshintergrund in die Bundesrepublik Deutschland und es entwickelten sich unterschiedliche Initiativen, die psychomotorischmotologische Angebote für diese Zielgruppe anbieten. Im Zentrum dieses Beitrags steht die Auseinandersetzung mit einigen relevanten psychomotorisch-motologischen Ansätzen für das Handlungsfeld Flucht und Migration. Schlüsselbegriffe: Flucht, Psychomotorik, Bewegung, Körper, Integration, Trauma, Ansätze Approaches of Psychomotricity in the context of escape and migration For the last few years escape and migration have gained importance in German psychomotricity. In the 2010s more than two million refugees have come to the Federal Republic of Germany. As a result, different initiatives have been developed offering this target group psychomotor treatments. This article mainly discusses relevant approaches of psychomotricity for escape and migration. Key words: escape, psychomotricity, movement, body, integration, trauma, approaches [ TiTelRubRik ] [ FORuM PSyCHOMOTORik ] Ansätze der Psychomotorik/ Motologie im Kontext von Flucht und Migration Theoretische Grundlagen des Handlungsfeldes Frank Francesco birk Die Prognose, dass die Zahl der einreisenden Flüchtlinge in Deutschland weiter steigt, ist nach der Bekanntgabe der Zahlen von 2016 entkräftet. Im Jahr 2016 stellten 722.370 Personen mit Flüchtlingshintergrund einen Antrag auf Asyl in der Bundesrepublik. Die Verdichtung der Balkanroute, Informationen von Menschen mit Flüchtlingshintergrund, die schon in Deutschland bzw. in Europa angekommen sind, sowie vielfältige Todesfälle bei der Flucht, sind auch für das Sinken dieser Zahlen, trotz andauernden Kriegen in Ländern wie Syrien und Irak, zuständig. Laut der Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge stellten 111.616 Personen im ersten Halbjahr 2017 einen Erstantrag auf Asyl. Dies ist ein Rückgang von über 71,9 % im Vergleich zum Vorjahr (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2017, o. S.). Trotzdem sind nach Angaben der United Nations Organization (UNO) derzeit ca. 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016, o. S.). Ob neue Flüchtlingswellen in Deutschland ankommen und wie die Bundesregierung und die Europäische Union mit der Flüchtlingssituation in Zukunft umgehen werden, ist derzeit nicht abzuschätzen. Aktuelle Entwicklungen in der Psychomotorik/ Motologie im Kontext Flucht und Migration Der Mensch sucht »nach etwas in der Umwelt, das verlorengegangen ist, nach einer menschlichen Haltung, die so zuverlässig ist, dass (es) (der Mensch) die Freiheit gewinnt, sich zu bewegen und zu handeln und Erregungen zu unterlassen« (Winnicott 2006, 163). 1| 2018 motorik, 41. Jg., 4-10, DOI 10.2378 / motorik2018.art02d © Ernst Reinhardt Verlag [ 4 ] [ 4 ] [ 5 ] Birk • Ansätze der Psychomotorik/ Motologie im Kontext von Flucht und Migration 1| 2018 Nach einigen Beiträgen des psychomotorischmotologischen Handlungsfeldes (Birk 2016a, 2016b, 2017; Birk/ Mirbek 2017) entstanden etliche Praxisangebote u. a. vom Verein für Bewegungsförderung und Psychomotorik e. V. Marburg, dem Projekt »Bewegte Familienzeit« von Ruhrbewegung sowie Mogli »Mobil gemeinsam lernen international«, initiiert von der Stadt Mönchengladbach in Kooperation mit der Hochschule Niederrhein und finanzieller Unterstützung des Rotary-Clubs. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Thematik Flucht und Migration als ein bedeutsamer Megatrend in der Psychomotorik/ Motologie angesehen und auf Fortbildungen, Weiterbildungen sowie Tagungen (Wissenschaftliche Vereinigung für Psychomotorik und Motologie e. V. 2017, o. S.) rezipiert wird. Durch die vielseitige Beschäftigung mit der Thematik hat sich das Handlungsfeld in Theorie und Praxis des psychomotorisch-motologischen Diskurses etabliert. Auch wenn die Einreisezahlen aktuell sinken, ist die Thematik von hoher Aktualität und die Menschen, die bereits in Deutschland leben, müssen bei der Konzeption von Angeboten bzw. sonstigen Hilfestellungen mitgedacht werden. Das vorrangige Ziel ist dabei die Stabilisierung der Menschen sowie deren Integration in die deutsche Gesellschaft. Der Autor möchte weiterhin für die Thematik sensibilisieren und die Konzeptentwicklung des Handlungsfeldes Flucht und Migration vorantreiben, mit dem Ziel, dieses Handlungsfeld im Bereich Diversität und Inklusion in der Psychomotorik/ Motologie einzugliedern. Im folgenden Abschnitt werden Grundlagen der psychomotorisch-motologischen Arbeit mit den Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen bezogen auf die Ansätze der Psychomotorik/ Motologie skizziert. Das Handlungsfeld Flucht und Migration in der Psychomotorik/ Motologie »Und je weniger sie die Sprache als Ausdrucksmittel zur Verfügung haben, desto beredter sind ihr Leib, ihre Körpersprache und ihre ganzkörperlichen Inszenierungen« (Aichinger 2008, 65). Die Psychomotorik/ Motologie bieten durch ihren spielerischen Charakter immer neue Erfahrungen, in denen sich die Adressaten in Bewegung erproben. Diese spielerischen Bewegungssituationen bieten insbesondere Kindern einen Raum, in dem sie ihre Vergangenheit vergessen und sich aktiv ausagieren können (Birk 2017, 110 f ). Diese Vergangenheit bleibt gewiss im Körpergedächtnis haften, aber für den Moment geraten die Erfahrungen in den Hintergrund (Birk 2017, 116). Die Untersuchung aus der Schweiz von Knöpfli & Magnin Schürch (2010) gibt Hinweise darauf, dass das psychomotorisch-motologische Angebot im Empfangs- und Verfahrenszentrum dazu führt, dass die Kinder mit Fluchterfahrung »als ruhiger, zufriedener und ausgeglichener (…), als umgänglicher und offener, je nachdem auch zutraulicher und anhänglicher« (Knöpfli / Magnin Schürch 2010, 58) erlebt werden. Weiter wird interpretiert, dass bestimmte Mütter stolz auf ihre Kinder waren und hierdurch ein höheres Engagement in ihrer Elternrollen zeigten (Knöpfli / Magnin Schürch 2010, 58). Trotz dieses Pilotprojekts ist nicht klar festzustellen, ob diese Wirkung spezifisch dem psychomotorisch-motologischen Angebot zuzuschreiben ist, oder andere Angebote, die sich den Kindern zuwenden, ähnliche Resultate erbringen würden. Hier sind weitere Untersuchungen nötig, um diesen positiven Effekt der psychomotorisch-motologischen Angebote genauer zu betrachten und von anderen Angeboten abgrenzen zu können. Die Psychomotorik/ Motologie wird vom Autor als niederschwelliges Angebot zur Entwicklungsbegleitung angesehen, dass nicht als alleinige Intervention bei der Verarbeitung von Erfahrungen hilfreich ist, sondern im Kontext Trauma nur als eine Ergänzung zur Psychotherapie angesehen wird. Auf dem Weg nach Deutschland haben die Menschen mit Fluchtbiografie oftmals Folter, Verfolgung oder Misshandlung erlebt (Krus 2016, o. S.) und waren in dieser Phase einem Zustand der »extremen Anspannung, Ungewissheit und Angst« (Fröhlich- Geflüchtete haben Folter, Verfolgung und Misshandlung erlebt. [ 6 ] 1| 2018 Forum Psychomotorik Gildhoff et al. 2016, 10 f ) ausgesetzt. Diese unvorstellbaren Erfahrungen bzw. Qualen können zu Traumata geführt haben und bedürfen professioneller Behandlung und Hilfe. Nach Schätzungen der Bundespsychotherapeutenkammer leiden 35 % bis 40 % der Kinder mit Flüchtlingshintergrund an einem Trauma (Bundespsychotherapeutenkammer 2015, o. S.). »Der Begriff Trauma (griech.: Wunde) lässt sich bildhaft als eine >seelische Verletzung< verstehen, zu der es bei einer Überforderung der psychischen Schutzmechanismen durch ein traumatisierendes Erlebnis kommen kann. Als traumatisierend werden im Allgemeinen Ereignisse wie schwere Unfälle, Erkrankungen und Naturkatastrophen, aber auch Erfahrungen erheblicher psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt sowie schwere Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen bezeichnet« (Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie 2016, o. S.). Aus diesem Trauma resultiert eine doppelte Sprachlosigkeit. Diese entsteht v. a. dort, wo auch das familiäre Umfeld der Kinder fehlt bzw. belastet ist und wenige Ressourcen vorhanden sind, um für das seelische Wohlbefinden der Kinder zu sorgen, bzw. große Zukunftsängste vorherrschen. Hierbei vertrauen sich die Kinder oft keinem Erwachsenen an, da neben dieser Herausforderung, sich zu öffnen und über diese Erlebnisse zu sprechen, auch eine Deutsch-Sprachbarriere herrscht, die die Kommunikation erschwert (Fröhlich-Gildhoff et al. 2016, 13). Die Psychomotorik/ Motologie hat hierbei die Aufgabe diese Themen durch Bewegung mit dem Klienten zu bearbeiten. Schüürmann (2010) stellt fest, dass in der psychomotorisch-motologischen Arbeit »keiner der Ansätze das komplexe psychophysische Problemspektrum in seiner Gesamtheit abdeckt« (Schüürmann 2010, 66). In Bezug auf die »verschiedenen Symptom-cluster (Wiedererleben, Vermeidungsverhalten und vegetative Übererregtheit) und dem grundlegend erschütterten Welt- und Selbstverständnis, kann« (Schüürmann 2010, 66) die Psychomotorik/ Motologie mit ihren unterschiedlichen Zugängen einen unmittelbare »Verbesserung der biopsychosozialen Lebensqualität« (Schüürmann 2010, 66) ermöglichen. Gerade in der Arbeit mit traumatisierten bzw. psychisch erkrankten Adressaten sollte die Fachkraft eine Weiterbildung in Traumapädagogik bzw. -therapie abgeschlossen sowie eine interdisziplinäre Anbindung haben. Eine psychotherapeutische Behandlung ist für einige Klienten unumgänglich. Weiter sollten Fachkräfte, wenn möglich vom Träger finanzierte, Supervision in Anspruch nehmen, um professionell Hilfestellung zu erhalten und sich kollegial auszutauschen. Nachfolgend werden die jeweiligen Ansätze und deren Bedeutung für das psychomotorisch-motologische Handlungsfeld Flucht und Migration dargestellt. Psychomotorisch-motologische Ansätze in der Arbeit mit Menschen mit Fluchterfahrung Die Ansätze der Psychomotorik/ Motologie sind die Grundlage für Theorie und Praxis. Diese werden auch als theoretischer Hintergrund in der Arbeit mit Menschen mit Fluchtbiografie angesehen, die ein Bewusstsein schaffen sollen, welche Ziele mit welchen Interventionen erreicht werden können. Die Ansätze stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander und zeichnen sich durch unterschiedliche Perspektiven auf Bewegung, Körper und Leib als Ressource für die praktische Arbeit mit den Klienten aus. Anschließend werden folgende Ansätze dargestellt und auf das Handlungsfeld Flucht und Migration bezogen: Handlungsorientierter Ansatz (Schilling 1981), Kindzentrierter Ansatz (Zimmer 2012), Sensorische Integration (Kesper / Hottinger 2007), Verstehendender Ansatz (Seewald 1998) sowie Systemischkonstruktivistischer Ansatz (Balgo 1998). Handlungsorientierter Ansatz Die Kinder sollen nach diesem Ansatz vielfältige Handlungsmuster entwickeln, um angemessen Die Ansätze zeichnen sich durch unterschiedliche Perspektiven auf Bewegung, Körper und Leib aus. [ 7 ] Birk • Ansätze der Psychomotorik/ Motologie im Kontext von Flucht und Migration 1| 2018 auf verschiedene Situationen reagieren zu können. Durch die Fluchterfahrungen kann diese Variabilität gestört sein, sodass unbekannte bzw. die Vielzahl neuer Situationen (z. B. Klima, Sprache, Sitten und Bräuche) zu Überforderungen und im schlimmsten Fall zu neurotischem Verhalten führen können. Hierdurch kann ein Teufelskreis entstehen, in welchen die Kinder durch ihre mangelnde Adaptionsfähigkeit gelangen und somit von ihrer sozialen Umwelt exkludiert werden (Seewald 1998, 155). Dieser Ansatz hat zum Ziel, dass das Kind befähigt wird »sich sinnvoll mit sich selbst, mit seiner dinglichen und personalen Welt kritisch auseinandersetzen und entsprechend handeln zu können« (Schilling 1981, 188). Dabei gilt es, den Kindern vielfältige Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrung anzubieten, um ein besseres Gelingen von Anpassungsprozessen zu ermöglichen und somit die Handlungsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere unter dem Einbezug der Selbst-, Sozial- und Sachkompetenz, weiterzuentwickeln. Das gemeinsame Üben von Problemlöseaufgaben und Sinnesaufgaben stehen im Fokus der Intention zur Förderung der Handlungsfähigkeit (Schilling 1981, 189 ff ). Bewegungsorientierte Sprachangebote können in diesem Kontext sinnvolles Mittel sein, um die Sprachkompetenz der Kinder zu fördern. (Moto-)Diagnostisch lassen sich hierbei Bewegungsschemata und Handlungsabläufe erkennen. Kindzentrierter Ansatz Im Kindzentrierten Ansatz kommen die Kinder durch Klettern, Springen, Fallen, Bauen, Konstruieren mit Gleichaltrigen in Kontakt. Über Bewegung wird im Kindzentrierten Ansatz die Persönlichkeit stabilisiert. Dies ist besonders für Kinder mit Fluchterfahrung von Bedeutung, da diese durch die Flucht Situationen erlebt haben, in denen sie ausgeliefert waren und sich nicht als selbstwirksam erleben konnten (Krus 2016, o. S.). Die oben genannten Bewegungssituationen verschaffen den Kindern das Gefühl, selbstständig etwas geschafft zu haben, und steigern ihre Selbstwirksamkeit (Krus 2016, o. S.). Deshalb werden den Kindern in Spiel- und Bewegungssettings Situationen angeboten, in denen die Kinder Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln und Kontrolle über die Situationen erhalten können. Denn durch Bewegungslandschaften, Rollenspiele und Wahrnehmungsübungen erlebt das Kind vielfältige Herausforderungen, die die Eigenaktivität anregen und zu individuellen Selbstwirksamkeitserlebnissen führen, sodass sich in diesem Prozess Ressourcen entwickeln können (Krus 2016, o. S.; Zimmer 2012, 22). Sie klettern über ein Hindernis und haben das Gefühl, das aus eigenem Antrieb geschafft zu haben (Krus 2016, o. S.). Zusammenfassend wird in diesem Ansatz Bewegung als ein Medium eingesetzt, um den Kindern Selbstwirksamkeitserlebnisse zu ermöglichen. Hierbei ist das »Ziel, die kognitiven, motorischen, emotionalen und sozialen Kompetenzen der Kinder durch Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen zu fördern« (Krus 2016, o. S.). Sensorische Integration Dieses Entwicklungsprinzip beschreibt die Aufnahme von Sinneseindrücken durch die Umwelt und deren adäquate Verarbeitung im zentralen Nervensystem. Hiernach werden alle Informationen, Eindrücke und Erlebnisse aus der Umwelt zu einem individuellen Gedächtnisinhalt zusammengeführt (Kesper / Hottinger 2007, 42). Durch die Flucht und die daraus entstandenen schlimmen Erfahrungen kann es passieren, dass die Reize der Umwelt entweder nicht als Input ins zentrale Nervensystem gelangen, dort nicht richtig verarbeitet oder nicht als adäquater Output umgesetzt werden. Die Sensorische Integration geht davon aus, dass es durch vielfältig angeleitete Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen, insbesondere der drei Basissinne (taktiler, vestibulärer und kinästhetischer Sinn), »zur Integration von Sinneseindrücken (kommt), die aus traumatischen Erfahrungen resultieren« (Schüürmann 2010, 67). Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen fördern Anpassungsprozesse. [ 8 ] 1| 2018 Forum Psychomotorik Verstehender Ansatz Gerade bei Kindern mit Fluchterfahrungen können in Bewegungsstunden Situationen entstehen, in denen sie aggressiv sind, Kampf- und Kriegssituationen nachspielen oder in frühere Entwicklungsstufen zurückfallen (Fröhlich- Gildhoff et al. 2016, 13). Die Verarbeitung dieser Erfahrungen und die Einordnung des Geschehens und der Verhaltensweisen erfolgt dabei durch Bewegung über den Leib und »vollzieht sich im Entwickeln von Spielen und Geschichten und ist angewiesen auf zwischenmenschliche Beziehung« (Fischer 2009, 231). Hierfür bietet der Verstehende Ansatz Spiel- und Bewegungssituationen, in denen die Kinder ihre Lebensthemen bespielen können und so eine Chance erhalten, diese zu verarbeiten (Fischer 2009, 31). Aggressives Verhalten kann in diesem Kontext als Ausdruck von Hilflosigkeit, Wut oder unterdrückten Gefühlen verstanden werden. Auch erfahrene Hilflosigkeit der Eltern kann beim Kind zu Aggressionen führen. Somit versucht der Verstehende Ansatz, Bewegung als Bedeutungsphänomen zu interpretieren und daraus Entwicklungsthemen zu erkennen und gegebenenfalls zu bearbeiten. Hierfür »werden Geschichten und Spielsituationen inszeniert, um ein dialogisches Verstehen (…) (dieser) dahinterstehenden Lebensthemen zu ermöglichen« (Fischer 2009, 31). Neben der Bewegung werden weitere kreative Medien wie Tanz, Stegreifspiele, Geschichten oder Gestalten mit Materialien (z. B. Ton, Farben, Ytong, Naturmaterialien) genutzt (Seewald 2007, 19, 55). Zu diesem Zweck können auch Spiele, Musik und Tänze, Märchen und Geschichten, die aus den Herkunftsländern der Menschen mit Fluchterfahrung stammen, in der psychomotorisch-motologischen Arbeit eingesetzt werden (Birk/ Mirbek 2017, 109 f ). Hierbei ist zu beachten, dass die Adressaten, die kulturelles Bildungsgut in die Bewegungsstunden einbringen, selbst entscheiden können, welche Einflüsse sie aus ihrer Kultur einbringen wollen und was ihnen womöglich zu viel ist. Weiter ist zu berücksichtigen, dass es kulturelle Unterschiede beim Symbolisieren bzw. im Ausdruck von Lebensthemen gibt. Dieser Prozess entsteht zu großen Teilen über den Körper. »Wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannten und Freunde er hat, all das ist eng miteinander verknüpft« (Bourdieu 1987, 32). Für das Handlungsfeld Flucht und Migration ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Kulturkreisen notwendig, um über das Verstehen der Kultur einen Zugang zu den Lebensthemen der Betreffenden zu erhalten. Beispielsweise sind die Themen Heimat, Trennung von Familien / Freunden, fremde Sprache, Fremdenangst und Diskriminierung nicht normativ festgelegt, sondern dynamisch im Wandeln und somit immer zu überprüfen. Systemisch-konstruktivistischer Ansatz Flucht, Trauma und Doppelidentität beschreibt keine in Wirklichkeit bestehende Störung. Störungen werden erst beim Diagnostizieren geschaffen. Eine psychomotorisch-motologische Intervention ist nach dem Systemisch-konstruktivistischen Ansatz folglich nur dann sinnvoll, wenn der Mensch sich gestört fühlt und seine Störung bearbeiten möchte. Eine Störung bzw. ein auffälliges Verhalten wird dabei nicht als krankhaft, sondern als angemessene Reaktion in der Interaktion bzw. Beziehung zur Lebenswelt angesehen (Fischer 2009, 236). Die Fachkraft und der Mensch agieren aus der Systemisch-konstruktivistischen Sicht autonom, voneinander unabhängig und gleichberechtigt. Ziel ist ein leib- und bewegungsorientierter Dialog, um den Menschen beim Auffinden und Ausprobieren von Alternativen zu begleiten (Balgo 1998, 247). Dabei muss auch bei Kindern mit Fluchterfahrung und unbegleiteten Minderjährigen immer die ganze Familie bzw. das ganze Umfeld mitgedacht werden. In dem Systemisch-konstruktivistischen Ansatz wird die Fachkraft für eigene blinde Flecke sensibilisiert sowie geschult, Störungen im System zu ermitteln und gegebenenfalls Irritationen hervorzurufen. Geschichten und Spielsituationen werden inszeniert, um ein dialogisches Verstehen zu ermöglichen. [ 9 ] Birk • Ansätze der Psychomotorik/ Motologie im Kontext von Flucht und Migration 1| 2018 Resümee Das psychomotorisch-motologische Handlungsfeld Flucht und Migration entwickelt sich durch die Flüchtlingsströme 2014-2016 nach Deutschland zu einem Megatrend in vielen Disziplinen. Abzuwarten bleibt, wie sich die Situation in den Heimatländern der Menschen mit Flüchtlingshintergrund entwickelt und wie viele Menschen in den nächsten Jahren nach Deutschland flüchten. Ungeachtet der Anzahl der neu einreisenden Flüchtlinge werden das Interesse und die Angebote für die bereits in Deutschland angekommenen Menschen mit Fluchtbiografie nicht abbrechen. Das Handlungsfeld Flucht und Migration braucht dabei einen integrativen Ansatz, damit Menschen mit Flüchtlingshintergrund in Deutschland heimisch werden können. Allgemein soll die aktive Auseinandersetzung mit diesem Handlungsfeld für Interkulturalität und Andersartigkeit sensibilisieren und benachteiligten Menschen Chancen auf Selbstwirksamkeitserfahrungen durch Bewegung bieten. Dies kann durch eine komplementäre Nutzung der verschiedenen Ansätze geschehen, denn zusammen ergänzen sich die psychomotorischmotologischen Ansätze mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen auf Körper, Bewegung und Leib und ermöglichen eine ganzheitliche Arbeit mit diversen Zielgruppen. Durch die Handlungsorientierung in der Psychomotorik rückt die Sprachbarriere aus dem Fokus, sodass sich gleichzeitig zu den Handlungsschemata durch die vielfältigen Spiel- und Bewegungsangebote spielerisch die Sprachkompetenz weiterentwickelt. Die dabei entstehenden Spielthemen und Bewegungen werden als (Verstehens-) Anlässe gesehen, die Ausdruck der Lebensthemen sind. Diese werden unter Berücksichtigung von Bedürfnissen, Interessen, Stärken sowie Schwächen in den Fokus genommen, um den Adressaten ressourcenorientiert zu fördern. »Demgemäß ist festzuhalten, dass nur ein Zusammenwirken und Ineinandergreifen verschiedener Komponenten aus allen (…) Ansätzen eine bestmögliche psychomotorische Intervention und Förderung (insbesondere) für traumatisierte Kinder darstellen kann« (Schüürmann 2010, 66). Zusätzlich muss im Handlungsfeld Flucht und Migration beachtet werden, dass die Menschen oft traumatische Erfahrungen machen mussten und die Fachkräfte in diesem Bereich ausreichend weitergebildet und supervidiert werden sollten, um diese Prozesse adäquat begleiten zu können. Literatur Aichinger, A. (2008): Einzel- und Familientherapie mit Kindern: Kinderpsychodrama Bd 3. Springer Verlag, Wiesbaden Balgo, R. (1998): Bewegung und Wahrnehmung als System. Systemisch-konstruktivistische Position in der Psychomotorik. Verlag Karl Hofmann, Schorndorf Birk, F. F. (2016a): Motologische Flüchtlingshilfe am Beispiel des Entwicklungsthemas Doppelidentität. Praxis der Psychomotorik 41 (1), 13-16 Birk, F. F. (2016b): Psychomotorische Projekte in der Flüchtlingshilfe für Kinder - Konzeptentwicklung für Kinder mit Flüchtlingshintergrund. Praxis der Psychomotorik 41 (2), 110-114 Birk, F. F. (2017): Flucht, Rassismus, Identität - Eine Einführung in das motologische Handlungsfeld Flucht und Migration. In: Richter-Mackenstein, J., Blos, K. (Hrsg.): Megatrends und Werte: Zukunftsweisende Themen und Herausforderungen für Psychomotorik und Motologie. WVPM Verlag, Marburg, 107-121 Birk, F. F., Mirbek, S. (2017): Eine unbekannte Sprache in Bewegung erfahren - Psychomotorische Sprachförderung und Begleitung von Kindern mit Flüchtlingshintergrund. Praxis der Psychomotorik 42 (2), 85-90 Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt/ M. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016): Asyl und Flüchtlingsschutz. In: http: / / www.bamf.de/ DE/ Migration/ AsylFluechtlinge/ asylfluechtlingenode.html, 30.03.2016 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2017): Asylgeschäftsstatistik Juni 2017. In: http: / / www.bamf. de/ SharedDocs/ Meldungen/ DE/ 2017/ 20170710asylgeschaeftsstatistik-juni.html, 26.07.2017 Bundespsychotherapeutenkammer (2015): Psychische ErkrankungenbeiFlüchtlingen.In: http: / / www.bptk. de/ uploads/ media/ 20150916_BPtK-Standpunkt _psychische_Erkrankungen_bei_Fluechtlingen.pdf, 01.06.2017 Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (2016): Was ist ein Trauma und wie entstehen Traumafolgestörungen? In: www.degpt.de/ informationen/ fuer-betroffene/ trauma-und-trauma folgen/ , 15.12.2016 Fischer, K. (2009): Einführung in die Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München / Basel Fröhlich-Gildhoff, K., Kerscher-Becker, J., Hüsson, D., Steinhauser, H., Fischer, S. (2016): Handreichung [ 10 ] 1| 2018 Forum Psychomotorik für pädagogische Fachkräfte, Stärkung von Kita- Teams in der Begegnung mit Kindern und Familien mit Fluchterfahrung. FEL Verlag an der Evangelische Hochschule Freiburg, Freiburg Kesper, G., Hottinger, C. (2007): Mototherapie bei Sensorischen Integrationsstörungen. Ernst Reinhardt, München / Basel Knöpfli, E., Magnin Schürch, N. (2010): Ein Bewegungs- und Beschäftigungsangebot mit ausgewählten Arbeitsmethoden der Psychomotorik für Kinder von Asylsuchenden. In: https: / / www.hfh.ch/ fileadmin/ files/ documents/ Dokumente…/ archiv _barb_nb.pdf, 24.08.2017 Krus, A. (2016): Kindheitspädagogik - Studierende unterstützen Flüchtlings-Kinder. In: www.hs-niederrhein.de/ news/ news-detailseite/ kindheitspaedagogik-studierende-unterstuetzen-fluechtlingskinder-12387/ , 20.08.2016 Schilling, F. (1981): Grundlagen der Motopädagogik. In: Clauss, A. (Hrsg.): Förderung entwicklungsgefährdeter und behinderter Heranwachsender. Spitta Verlag, Erlangen, 184-194 Schüürmann, L. (2010): Aus dem Trauma bewegen - Psychomotorische Interventionsmöglichkeiten in der Arbeit mit traumatisierten Kindern. Praxis der Psychomotorik 35 (2), 64-71 Seewald, J. (1998): Bewegungsmodelle und ihre Menschenbilder in verschiedenen Ansätzen der Psychomotorik. Motorik 21 (4), 151-158 Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München / Basel Winnicott, D. W. (2006): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Psychosozial-Verlag, Gießen Wissenschaftliche Vereinigung für Psychomotorik und Motologie e. V. (WVPM): Psychomotorik und Megatrends - Megatrends in der Psychomotorik? In: http: / / www.wvpm.org/ de/ veranstaltungen-undtermine.html, 19.01.2017 Zimmer, R. (2012): Handbuch der Psychomotorik: Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Herder, Freiburg Der Autor Frank Francesco Birk M.A. Doktorand der Universität zu Köln, Motologe (M.A.), Kindheitspädagoge (B.A.) und Motopäde. Lehrkraft für besondere Aufgaben im Schwerpunktfach »Psychomotorik als Frühe Hilfe in Institutionen der Kindheit« (PMK) am Lehrstuhl für Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in der Heilpädagogik an der Universität zu Köln. Anschrift Frank Francesco Birk Universität zu Köln Gronewaldstr. 2a D-50931 Köln frankbirk2003@yahoo.de