eJournals motorik 41/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2018
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Beratung als zwischenleiblicher Resonanzraum und als Verkörperung des Sozialen

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2018
Holger Jessel
Ausgehend von der Darstellung einer Fallvignette wird Beratung in diesem Beitrag einerseits als zwischenleiblicher Resonanzraum und andererseits als Verkörperung des Sozialen gefasst. Hierzu werden zunächst das Beratungsphänomen sowie grundlegende Spannungsfelder von Beratung dargestellt. Darauf aufbauend wird die These vertreten, dass ein wesentlicher (und häufig vernachlässigter) Schlüssel zur Klärung des Beratungsphänomens in den Begriffen der Zwischenleiblichkeit sowie der Resonanz zu finden ist. Abschließend werden Perspektiven für die Beratung und das Beratungslernen formuliert.
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Zusammenfassung / Abstract Ausgehend von der Darstellung einer Fallvignette wird Beratung in diesem Beitrag einerseits als zwischenleiblicher Resonanzraum und andererseits als Verkörperung des Sozialen gefasst. Hierzu werden zunächst das Beratungsphänomen sowie grundlegende Spannungsfelder von Beratung dargestellt. Darauf aufbauend wird die These vertreten, dass ein wesentlicher (und häufig vernachlässigter) Schlüssel zur Klärung des Beratungsphänomens in den Begriffen der Zwischenleiblichkeit sowie der Resonanz zu finden ist. Abschließend werden Perspektiven für die Beratung und das Beratungslernen formuliert. Schlüsselbegriffe: Beratung, Spannungsfeld, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit, Resonanz, Embodiment Counselling as an intercorporeal resonance space and as an embodiment of social phenomena Based on a case vignette counselling is discussed as an intercorporeal resonance space and as an embodiment of social phenomena. First, the phenomenon of counselling and fundamental fields of tension in counselling are outlined. Subsequently, the thesis is promoted that a crucial (and often neglected) key to the clarification of the counselling phenomenon is a closer analysis of the terms intercorporeality and resonance. Finally, substantial perspectives for counselling and the acquisition of competences in counselling are illustrated. Key words: counselling, field of tension, corporeality, intercorporeality, resonance, embodiment [ TITELRuBRIK ] [ 70 ] 2| 2018 motorik, 41. Jg., 70-76, DOI 10.2378 / motorik2018.art13d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORuM PSyCHOMOTORIK ] Beratung als zwischenleiblicher Resonanzraum und als Verkörperung des Sozialen Holger Jessel Ich eröffne die Darstellung mit einer Fallvignette, die zentrale Facetten des Beratungsphänomens verdeutlicht. Der Traumaforscher Peter A. Levine beschreibt einen Prozess mit einer Klientin: »Miriam betritt den Raum, setzt sich zögernd hin und umklammert mit beiden Armen ihren Brustkorb. Diese Haltung vermittelt den Eindruck, dass sie sich selbst stark schützen muss. […] Miriam ist aufgeregt, drückt die gekreuzten Beine wiederholt zusammen. Ihr Gesichtsausdruck ist sichtbar verhalten; die Lippen sind schmal und zusammengepresst. Miriam erzählt, dass sie mit ihrer Ehe und ihrer beruflichen Situation unzufrieden ist und viel Ärger verspürt« (Levine 2011, 202). Wahrscheinlich tauchen bereits beim Lesen dieser Beschreibung erste leibliche Resonanzen auf. Befinden wir uns in einer Beratungsinteraktion mit dieser Klientin, dürfte die Intensität der Resonanzen noch deutlich stärker sein. Was könnte Miriam zum Ausdruck bringen? Levine beschreibt dies in einem ersten Schritt wie folgt: »Miriams Körpersprache spiegelt sowohl ihre Bedrängnis als auch ihren Widerstand wider. Dieser Widerstand hat bestimmte Gründe: Er bringt körperlich zum Ausdruck, wie Miriam sich schützt. Zum Teil verteidigt Miriam sich gegen ›Angriffe‹ von außen. Primär jedoch schützt sie sich vor den eigenen abgespaltenen Empfindungen und Gefühlen« (Levine 2011, 202). Von zentraler Bedeutung für den Beratungsprozess ist nun, dass die Klientin in Kontakt mit ihren Empfindungen und Gefühlen kommt, dass die Beraterin bzw. der Berater dies - auch - auf einer körperlich-leiblichen Ebene sehr präzise und präsent wahrnimmt und auf dieser Basis einschätzen kann, »wie wirkungsvoll und intensiv unterschiedliche therapeutische Interventionen sind, sowohl verbale als auch nonver- [ 71 ] Jessel • Beratung als zwischenleiblicher Resonanzraum und als Verkörperung des Sozialen 2| 2018 bale« (Levine 2011, 203). Gelingt es der Klientin, sich ihrer Erfahrung zu öffnen und dabei auch somatische Selbstschutzmechanismen wahrzunehmen, beginnt das unbewusste Kommunikationssystem des Körpers zu »sprechen«. Durch den tieferen Zugang zu den eigenen Gefühlen werden Themen deutlich, die dann erkundet werden können. Levine beschreibt dies wie folgt: »Indem sie Kontakt aufnimmt zu ihrer nonverbalen Körperhaltung, kann Miriam durch die Oberfläche ihrer Grübeleien über Henry und ihre Arbeit vordringen bis zu der Geschichte, die ihr Körper ihr erzählt, und diese frei erforschen. Durch die Entfaltung dieser kinästhetischen und propriozeptiven Wahrnehmung kann sie in die neuromuskuläre Haltung hineinspüren, die ihren inneren Konflikten zugrunde liegt« (Levine 2011, 205). Dieser Wahrnehmungsprozess kann auch zu starker Erregung führen, z. B. indem die Herzrate steigt oder die Atmung schneller und flacher wird. In solchen Situationen kann die Beraterin bzw. der Berater die Konzentration auf den Körper unterstützen. Im hier skizzierten Fall entspinnt sich der folgende Dialog, beginnend mit einer Äußerung der Klientin: »›Ich fühle mich jetzt irgendwie fester … als hätte ich mehr Substanz.‹ Als ich sie bitte herauszufinden, wo sie diese Festigkeit im Körper spürt, sagt sie: ›Weiß ich nicht. Ich fühle mich einfach so.‹ ›Nehmen Sie sich Zeit‹, schlage ich vor. ›Bemühen Sie sich nicht zu sehr. Ruhen Sie einfach in Ihrem Körper und schauen Sie, was Ihnen dabei auffällt.‹ […] ›Am meisten in meinen Armen und Beinen … Es fühlt sich an, als hätten sie mehr Substanz … Sie fühlen sich fester an … Ich fühle mich so.‹« (Levine 2011, 205). Die hier geschilderte Sequenz zeigt exemplarisch das in der Erkundung von Körperempfindungen und körpersprachlichen Äußerungen enthaltene Potenzial (Geuter 2006). Es wird deutlich, dass sich biografische Erfahrungen und Lebensthemen in Körperhaltungen und Bewegungsmustern niederschlagen und dass diese im Rahmen von Beratungsprozessen achtsam und behutsam erschlossen werden können. Hierfür benötigen Beraterinnen und Berater verschiedene Kompetenzen, die zum Beispiel mit Hilfe der Tübinger Beratungskompetenz-Skala (TBKS) (Weinhardt 2014) erfasst werden können. In der TBKS wie auch in der Wirkfaktorenforschung taucht u. a. ein empirisch mittlerweile sehr gut abgesicherter Common Factor - ein allgemeiner Wirkfaktor - auf, der als Gestaltung der beraterisch-therapeutischen Beziehung bezeichnet wird (Weinhardt 2014, 221). Von entscheidender Bedeutung für Professionalisierungsprozesse ist nun Folgendes: »In jeder Psychotherapie spielen sich aber auch die zwischenleiblichen Prozesse ab, die die Atmosphäre der therapeutischen Begegnung und letztlich ihren Erfolg entscheidend beeinflussen. Umso mehr wird es eine der wichtigen Aufgaben künftiger Aus- und Weiterbildung sein, die Wahrnehmungsfähigkeiten von Ärzten und Therapeuten für zwischenleibliche Phänomene zu schulen […]« (Fuchs 2014, 18). Beraterinnen und Berater sind hier mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert, die sich auf ihre Resonanzfähigkeit bezieht. Diese erfordert für Siegel (2010) Verletzlichkeit und Demut: »Wir wissen nicht, wohin der Austausch mit einem anderen Menschen uns bringt, und können das Ergebnis nicht kontrollieren. Wir tauchen bei Resonanz ins Unbekannte ein und kommen in Berührung mit Ungewissheit« (Siegel 2010, 95). Im Hinblick auf die Professionalisierung von Beraterinnen und Beratern geht es vor diesem Hintergrund u. a. um die Förderung von Unsicherheitstoleranz und Begegnungsfreude (Zwack/ Zwack 2016). Annäherung an das Beratungsphänomen Beratung kann als eine spezifische Form der zwischenmenschlichen Kommunikation verstanden werden: »Eine Person ist (oder mehrere Personen sind) einer anderen Person (oder mehreren anderen Personen) dabei behilflich, Anforderungen und Belastungen des Alltags oder schwierigere Probleme und Krisen zu bewältigen. Beratung umfasst Hilfen bei der kogni- Die Wahrnehmung zwischenleiblicher Phänomene ist für Beratungsprozesse von zentraler Bedeutung. [ 72 ] 2| 2018 Forum Psychomotorik tiven und emotionalen Orientierung in undurchschaubaren und unübersehbaren Situationen und Lebenslagen. Sie unterstützt Ratsuchende dabei, Wahlmöglichkeiten abzuwägen, sich angesichts mehrerer Alternativen zu entscheiden oder aber Optionen bewusst offen zu halten. Beratung ermöglicht und fördert Zukunftsüberlegungen und Planungen […] und begleitet erste Handlungsversuche mit Reflexionsangeboten« (Nestmann / Sickendiek 2015, 153). Diese klassische Definition von Beratung bietet zwar eine grundlegende Orientierung, bedarf jedoch vor dem Hintergrund der oben geschilderten Beratungsinteraktion einer Ergänzung um zwischenleibliche Phänomene. Die folgende Definition ermöglicht eine Brücke zur Berücksichtigung der zwischenleiblichen Koexistenz des Menschen: »Psychosoziale Beratung bietet einen Raum, in dem Studierende [KlientInnen generell; Anm. d. Verf.] gerade in Momenten des Scheiterns ein offenes Ohr und unbedingte Anerkennung finden. Dadurch wird es ihnen möglich, neue Narrative zu entwickeln und auf sich selbst in einer Art und Weise Bezug zu nehmen, in der Schwächen, Verzweiflung und Kontrollverlust nicht als Problem ihrer ökonomischen Performance gedeutet, sondern zum Anlass genommen werden, die eigene Verletzlichkeit in den Blick zu nehmen« (Bohn 2017, 192). Hier taucht der bereits angesprochene Aspekt der Verletzlichkeit auf, der ja stets eine körperlich-leibliche Dimension beinhaltet, und es wird deutlich, dass in Beratungsprozessen immer auch kulturell und gesellschaftlich geformte Umgangsweisen mit spezifischen Problemlagen verkörpert werden. Beratung als Verkörperung des Sozialen In Beratung werden gesellschaftliche Strukturen und Prozesse (re)produziert, man könnte auch sagen sie verkörpern sich und dies erfolgt auf eine überwiegend implizite Art und Weise. Daraus resultieren unterschiedliche Spannungsfelder bzw. Ambivalenzen, die in Beratungsprozessen wahrgenommen und professionell bearbeitet werden können, sofern sie expliziert werden. Ein übergeordnetes Spannungsfeld von Beratung liegt in der Klärung des Verhältnisses von Erfahrung und Diskurs. Die zentralen Fragen lauten erstens, wie Beraterinnen und Berater bzw. Klientinnen und Klienten das Beratungsphänomen erleben, zweitens, wie dieses Phänomen im Beratungsdiskurs verhandelt wird, und drittens, wie sich Phänomen und Diskurs wechselseitig beeinflussen. Wuttig (2016) argumentiert, dass eine Klärung dieser Fragen nur durch Kombination leibphänomenologischer bzw. lebenswissenschaftlicher und diskurstheoretischer bzw. gesellschaftswissenschaftlicher Ansätze realisierbar ist. Folgt man Traue (2010, 284), so werden in der Beratung verschiedenste Handlungsprobleme »als Problem der Generierung von Optionen, zwischen denen sich entschieden werden muss, aufgefasst.« Das Verhältnis zwischen Individuen und ihrer sozialen Welt wird infolgedessen als Verhältnis von Möglichkeiten beschrieben, Traue (2010, 284) bezeichnet dies als Optionalisierungsdispositiv. Dispositive »antworten auf gesellschaftliche Probleme. […] sind also Problemlösungen, die im Allgemeinen von Expertengruppen entwickelt werden, die durch Diskursarenen miteinander verbunden sind« (Traue 2010, 51). Das Optionalisierungsdispositiv enthält drei grundlegende Problematiken. Die erste bezieht sich darauf, dass das Spektrum an Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten stets situativ, sozial und historisch konstruiert ist und damit jegliche Entscheidungen implizit und/ oder explizit privilegiert bzw. abgewertet werden. Die zweite Problematik verweist auf den Widerspruch zwischen behaupteten und realen Optionen. Die Gefahr ist, dass strukturelle gesellschaftliche Probleme »in einer Art ideologischen Kategorienfehler auf den Einzelnen projiziert werden« (Traue 2010, 288). Die dritte Problematik zeigt sich darin, dass ein Verständnis der Option als Erweiterung von sichtbaren Möglichkeiten die Möglichkeit des Eintre- Beratung bietet einen Raum der unbedingten Anerkennung - diese drückt sich zwischenleiblich aus. [ 73 ] Jessel • Beratung als zwischenleiblicher Resonanzraum und als Verkörperung des Sozialen 2| 2018 tens von unerwarteten Ereignissen ausschließt. Der Aspekt der (zwischen-)leiblichen Widerfahrnis wird damit von vornherein ausgeblendet. Beratung bedingt nach Traue (2010, 291) gegenläufige Prozesse der Responsibilisierung und De-Responsibilisierung, in denen Subjekte einerseits Verantwortung für sich selbst übernehmen, diese andererseits aber unter Umständen ausschließlich für sich selbst übernehmen. Die Selbstsorge der Gegenwart wird als halbierte Selbstsorge kritisiert, der die Sorge um Andere sowie die Bereitschaft, sich der Kritik Anderer auszuliefern, fehle. Traue (2010, 275 ff ) beobachtet darüber hinaus eine Verpflichtung zur dauerhaften Selbstproblematisierung und -verbesserung sowie zu Flexibilität als geforderte Anpassungsleistung (hierzu auch Schröder 2009), die einen stark normativen Charakter annehmen, staatlich und ökonomisch sanktioniert werden kann und deshalb von Beraterinnen und Beratern kritisch reflektiert werden sollte. Mit Rosa (2016) lässt sich schließlich eine gesellschaftlich ungleiche Verteilung von Resonanzchancen beobachten. Diese kann auch für Beratungskontexte eine entscheidende Rolle spielen. Dispositionale Resonanz (Rosa 2016, 418), d. h. Dingen, Menschen, Ereignissen in der Welt bzw. dem Fremden, Neuen und Anderen mit intrinsischem Interesse und hoher Selbstwirksamkeitserwartung entgegenzutreten, sieht er als Voraussetzung für den Erwerb von kulturellem, sozialem und körperlichem Kapital und damit als »das zentrale Kriterium für die Bestimmung von Lebensqualität« (Rosa 2016, 753 f ). Das Gegenstück bezeichnet er als dispositionale Entfremdung, als Welthaltung, »die von der Erfahrung ausgeht, dass die meisten […] ›Weltdinge‹ langweilig und nichtssagend oder sogar bedrohlich und verletzend sind und dass sie dies auch bleiben« (Rosa 2016, 418). Rosa (2016, 753) geht nun davon aus, dass Bildungsinstitutionen als Resonanzverstärker für privilegierte Bevölkerungsgruppen und als Entfremdungszonen für sogenannte Bildungsverlierer wirken und damit zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beitragen. Dieses Spannungsfeld sollte auch von Beraterinnen und Beratern berücksichtigt werden. Beratung als zwischenleiblicher Resonanzraum Der Leib kann als tragender Grund aller Lebensvollzüge bezeichnet werden: »Alles Fühlen, Wahrnehmen, Vorstellen, Denken und Tun vollzieht sich also auf der Basis eines leiblichen Hintergrunds, oder mit anderen Worten: Das Subjekt dieser Tätigkeiten ist immer leiblich« (Fuchs 2008, 98). Fuchs geht weiterhin davon aus, »dass die spezifische Befähigung des Menschen zur symbolischen Intersubjektivität und Reflexivität (Sprache, Selbstbewusstsein, Rationalität) in seiner ›Leiblichkeit und Zwischenleiblichkeit‹ selbst verankert ist« (Fuchs 2013, 12). Der menschliche Leib stellt für ihn einerseits das natürliche Subjekt (Merleau-Ponty 1966) dar, andererseits ist dieser Leib grundlegend auf Intersubjektivität hin angelegt. Wie ist dies zu verstehen? Es lassen sich vier Erscheinungsformen der Leiblichkeit unterscheiden, 1. der fungierende, 2. der pathische bzw. affizierbare, 3. der mimetische bzw. resonante und 4. der inkorporative bzw. kultivierte Leib (Fuchs 2013, 13 ff ). Im Folgenden werden die zweite und dritte Erscheinungsform dargestellt, da sie für Beratungskontexte fundamental sind. Der pathische bzw. affizierbare Leib Der pathische Leib umfasst Erlebnisformen wie Hunger, Müdigkeit, Schmerz etc. Leiblichkeit ist hier etwas, »was einem widerfährt, was man an sich selbst spürt, und wovon man betroffen ist« (Fuchs 2013, 17). Damit sind zugleich die menschliche Empfindlichkeit und Verletzlichkeit, seine Bedürftigkeit und sein Angewiesensein angesprochen. Der Mensch ist mit leiblichen Impulsen bzw. Grundbewegungen konfrontiert, die mit intensiven Affekten und Bedürfnissen verbunden sind und schon Säuglinge in vielschichtige Beziehungsgeflechte mit den Anderen verstricken (Fuchs 2013, 18). Diese Offenheit ist Der menschliche Leib ist auf Intersubjektivität hin angelegt. [ 74 ] 2| 2018 Forum Psychomotorik die Basis für die Feinheit und Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen, wobei frühe Beziehungs- und Resonanzerfahrungen maßgeblich auch die späteren Beziehungen sowie die Entwicklung der Sprach- und Gefühlsfähigkeit beeinflussen (Rosa 2016, 257). Dieser Zusammenhang ist für sämtliche Beratungsinteraktionen von grundlegender Bedeutung und er verweist auf die Notwendigkeit von (biografischer) Selbstreflexion als wesentliche Voraussetzung der Professionalisierung. Der mimetische bzw. resonante Leib Babys verfügen bereits kurz nach der Geburt über eine angeborene Ausdrucksresonanz (Imitation von wiederholt ausgeführtem Mundöffnen, Zunge-Zeigen etc.) »und zwar nicht nur reflexartig, sondern gezielt. […] Sie sind also von Geburt an in der Lage, eine wahrgenommene Mimik in ihre eigene, propriozeptive Körperempfindung und entsprechende Bewegung zu übersetzen« (Fuchs 2013, 20). Wenn zwei Personen einander leiblich begegnen, so Fuchs (2008, 186), »sind sie von vorneherein in ein systemisches Interaktionsgeschehen einbezogen, das ihre Körper miteinander verbindet und ein präverbales und präreflexives Verstehen herstellt. Die Gefühle des Anderen werden in seinem Ausdruck unmittelbar verständlich, weil dieser in uns einen meist unbemerkten leiblichen Eindruck mit subtilen Empfindungen, Bewegungs- und Gefühlsvorstufen hervorruft. Daraus ergibt sich eine zwischenleibliche Resonanz […].« Dies erklärt auch, wie Kinder bereits sehr früh ein implizites Beziehungswissen erwerben, d. h. ein leibliches Wissen, wie man gelingende Kontakte zu anderen gestaltet. Daraus entstehen »implizite Beziehungsstile«, die die Grundstrukturen des lebenslangen Beziehungsraums prägen (Fuchs 2013, 22). Die Perspektive der Resonanztheorie Hartmut Rosa (2016) befasst sich umfassend mit dem Phänomen der Resonanz und entwirft auf dieser Grundlage eine Soziologie der Weltbeziehung bzw. des gelingenden Lebens. Seine Theorie besitzt das Potenzial, den Wirkfaktor Beziehungsgestaltung grundlegend zu rahmen. Resonanz ist für Rosa (2016, 747) »eine emotionale, neuronale und vor allem durch und durch leibliche Realität. Sie ist die primäre Form unserer Weltbeziehung«. Diese Weltbeziehung enthält die folgenden Charakteristika (Rosa 2016, 298): 1. Sie wird durch Affizierung (von lat. adfacere bzw. afficere - antun) und Emotion (von lat. emovere - hinausbewegen), intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildet; dadurch berühren sich Mensch und Welt gegenseitig. 2. Es handelt sich um eine Antwortbeziehung; Voraussetzung ist, dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen, und dies setzt wiederum starke Wertungen voraus. Damit impliziert Resonanz auch ein Moment der Unverfügbarkeit, der Nichtkontrollierbarkeit. 3. Resonanzbeziehungen basieren darauf, dass Mensch und Welt einerseits hinreichend geschlossen sind, um mit eigener Stimme zu sprechen, und andererseits offen genug, um sich erreichen zu lassen. 4. Resonanz ist kein emotionaler Zustand, sondern ein Beziehungsmodus; dieser ist gegenüber emotionalen Inhalten neutral. Resonanz kann als Kernelement menschlichen In-der-Welt-Seins gefasst werden. »Menschen sehnen sich danach, die Welt als tragend, nährend, wärmend und entgegenkommend und sich selbst als in ihr wirksam zu erfahren, und sie fürchten sich vor einer schweigenden, mitleidlosen Welt, der sie ohnmächtig ausgesetzt sind« (Rosa 2016, 747 f ). Daraus entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach Begegnung und Kontakt (mit uns, mit anderen und mit der dinglich-natürlichen Umwelt) einerseits und dem Bedürfnis nach Eigenmächtigkeit und Selbstwirksamkeit (und der Vermeidung von Ohnmacht) andererseits. Die Reflexion von Beziehungs- und Resonanzerfahrungen ist zentrale Voraussetzung von Beratung. [ 75 ] Jessel • Beratung als zwischenleiblicher Resonanzraum und als Verkörperung des Sozialen 2| 2018 Perspektiven für Beratung und Beratungslernen Intersubjektivität kann nach den bisherigen Ausführungen als anthropologische Basis verstanden werden. Die Bedeutung der Zwischenleiblichkeit besteht darin, dass sie ein übergreifendes System bildet, »in dem die biologische und die soziale Entwicklung von frühester Kindheit an miteinander verknüpft sind« (Fuchs 2013, 27). Rosa hat überzeugend herausgearbeitet, »dass sich die Verknüpfung leiblicher, affektiver und kognitiver Weltbeziehungen als eine Folge oder als ein Prozess von Spiegelungen - oder besser: von Resonanzen - verstehen lässt« (Rosa 2016, 246). Subjektwerdung entsteht demnach in einem »dichten, interaktiven Resonanzfeld, aus dem heraus sich die Einsozialisation in die Welt und die Entwicklung der Sprach- und Gefühlsfähigkeit entfalten« (Rosa 2016, 246), wobei diese Prozesse von unserer »hohen Empfänglichkeit für mikrointeraktive Signale von anderen Menschen« (Collins 2011, 45) gesteuert werden. Sie laufen überwiegend implizit, präreflexiv und zwischenleiblich ab und sind in der Reflexion - teilweise - explizierbar. Was bedeutet dies nun für Professionalisierungsprozesse von Beraterinnen und Beratern? Im Rückgriff auf das Kompetenzmodell psychosozialer Beratung von Weinhardt (2014) wird professionelle Handlungskompetenz von Beraterinnen und Beratern durch biografisch-informelle Kontexte, Wissen und Können beeinflusst. Vor dem Hintergrund der hier entfalteten Argumentation ist der Erwerb professioneller Handlungskompetenz ohne einen Bezug zur Leiblichkeit nicht konzipierbar. Faulstich (2013, 143) formuliert dies wie folgt: »Wir können nur lernen, weil wir leiblich leben […]. Menschen sind nicht nur sinnsuchende, vernünftige Geistwesen, sondern auch sinnliche und zugleich herausragende, empfindsame und somit auch verletzliche Körper in Raum und Zeit. Unhintergehbare Voraussetzung menschlichen Lernens ist seine Leiblichkeit.« Daraus ergibt sich als Leitprinzip einer am Können ausgerichteten Didaktik »die Bekanntschaft mit dem Tun, nicht seine Beschreibung. Insofern können wir sie als situations-, erfahrungs- oder tätigkeitsorientiert kennzeichnen« (Neuweg 2004, 368). Auch wenn die Verbindung zwischen Wissen und Können empirisch nur schwer zu präzisieren ist (Weinhardt 2014), so benötigt ein solches erfahrungsorientiertes (und damit leibliches) Beratungslernen jedoch immer auch »die Einübung in wissenschaftliches Denken, in die Praxis rationalen Argumentierens und nicht zuletzt die Vermittlung von Wissenschaftswissen« (Neuweg 2004, 375), um die (Neben-)Wirkungen des eigenen Handelns umfassend und mit Blick auf gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken reflektieren zu können. Zu berücksichtigen ist dabei, dass auch dieses Denken, Argumentieren und Wissen zwischenleiblich vermittelt ist. Literatur Bohn, S. (2017): Die Ordnung des Selbst. Subjektivierung im Kontext von Krise und psychosozialer Beratung. transcript, Bielefeld, https: / / doi. org/ 10.14361/ 9783839437940 Collins, R. (2011): Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie. 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Beltz Juventa, Weinheim / Basel, 47-62 Der Autor Prof. Dr. Holger Jessel Dipl.-Motologe, Professor für Kindheitswissenschaften an der EH Darmstadt Anschrift Prof. Dr. Holger Jessel Evangelische Hochschule Darmstadt Zweifalltorweg 12 D-64293 Darmstadt jessel@eh-darmstadt.de Anzeige Fortbildungen 2018 (Auszüge) 04.-06.05.2018 Beweg-Gründe - Einführungsseminar (Frankfurt/ Main) Neuer Weiterbildungsgang (Modul 1) - September 2018 in Frankfurt/ Main Neuer Weiterbildungsgang (Modul 3/ Frühpädagogik) - Januar 2019 Zentrum für Aus- und Fortbildung in Psychomotorischer Praxis Aucouturier ZAPPA Professor-Neu-Allee 6 53225 Bonn Fon +49 228 4797613 info@zappa-bonn.de www.zappa-bonn.de Fax +49 228 4797614 Ausführliches Programm und Information: 07.-09.10.16/ Berlin „Beweg-Gründe“ - Einführung in die Psychomotorische Praxis Aucouturier Januar 2017 Ausbildungsbeginn der dreijährigen Weiterbildung: Modul 1 (Psychomotorik/ Grundlagenseminar) bis Modul 2 (Psychomotorik in der Therapie). 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