motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2018.art04d
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2018
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Kinderkram in der Berufswelt?
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2018
Rudolf Lensing-Conrady
Psychomotorik kann in Workshops, Meetings oder Konferenzen mehr als nur eine Lockerungsübung sein. Sie hilft Inhalte zu fokussieren, zu verkörperlichen und spürbar zu machen. Über die vielfältigen Wahrnehmungsaufgaben der Psychomotorik werden die sinnlichen Voraussetzungen geschaffen, um zusätzliche und neue Wege zu beschreiten und damit Sinn zu stiften. Manches muss modifiziert bzw. in die Arbeit mit Arbeitsgruppen in professionellen Kontexten transformiert werden. Am Ende zeigt sich jedoch immer wieder, dass Spaß, Lebendigkeit und Achtsamkeit zu jedem Thema und zu jeder Gruppe passen.
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Zusammenfassung / Abstract Psychomotorik kann in Workshops, Meetings oder Konferenzen mehr als nur eine Lockerungsübung sein. Sie hilft Inhalte zu fokussieren, zu verkörperlichen und spürbar zu machen. Über die vielfältigen Wahrnehmungsaufgaben der Psychomotorik werden die sinnlichen Voraussetzungen geschaffen, um zusätzliche und neue Wege zu beschreiten und damit Sinn zu stiften. Manches muss modifiziert bzw. in die Arbeit mit Arbeitsgruppen in professionellen Kontexten transformiert werden. Am Ende zeigt sich jedoch immer wieder, dass Spaß, Lebendigkeit und Achtsamkeit zu jedem Thema und zu jeder Gruppe passen. Schlüsselbegriffe: Psychomotorische Intervention, betriebliche Erwachsenenbildung, Verkörperlichung, Sinn-Stiftung, Motivation The reason why psychomotor interventions can improve further professional education Psychomotricity can be more than relaxation exercises in workshops, meetings or conferences. It enables to focus, embody and sense contents. Diverse sensory experiences lay the ‘sensual’ foundation for breaking new grounds and creating meaningfulness. Some aspects need modification for the work with groups in professional contexts. In the end fun, vibrancy and mindfulness are suitable for each topic and each group. Key words: psychomotor intervention, further professional education, embodiment, meaningfulness, motivation [ TiTelRubRik ] [ 18 ] 1| 2018 motorik, 41. Jg., 18-22, DOI 10.2378 / motorik2018.art04d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORuM PSyCHOMOTORik ] Kinderkram in der Berufswelt? Warum psychomotorische interventionen die betriebliche erwachsenenbildung aufwerten können Rudolf lensing-Conrady Aha! Am Anfang stand eine Erfahrung, wie sie in ähnlicher Form und auch in unterschiedlichen Rollen sicher schon viele gemacht haben: Im Rahmen eines gut vorbereiteten Seminartages für UnternehmensberaterInnen und -coaches wurden zwei Eröffnungsreferate von jeweils etwa 30 Minuten vorgetragen. Trotz thematischer Relevanz und eloquenter, medienbegleiteter Gestaltung hatten anfangs ausgeschlafene SeminarteilnehmerInnen bereits nach einer guten Stunde sichtlich Mühe, die Augen offen zu halten. Die Stimmung wirkte abgeklärt bis müde interessiert. Die Wende kam mit dem dritten, eigentlich nur als Pausenaktivität gedachten Angebotsteil: Spiele mit Gymnastikreifen, wie »Reifendrehen« (Beudels et al. 2013, 219), »Hausbesetzer« (Beudels et al. 2013, 198) oder »Wer führt wen« (siehe Kasten). Spiele, wie wir sie ständig mit Kindern in den psychomotorischen Fördergruppen durchführen, belebten nicht nur die ganze Gesellschaft, sondern boten Anlass zu Kommunikation, Interaktion und thematischer Vertiefung. Gerade das letztgenannte Spiel, das deshalb hier auch ausführlich dargestellt wird, bot offensichtlich Gelegenheit, die in Betrieben und Organisationen wesentlichen Wechselbeziehungen zwischen Führungskräften und MitarbeiterInnen erfahrbar zu machen. Auf dieser emotionalen Grundlage konnte eine lebendige weiterführende Diskussion entstehen. »Was gut geeignet ist…« - Praxisbeispiel: Wer führt wen? (Beins et al. 2017, 54 f ) »Teilnehmerzahl: 4-40 Organisationsform: Partnerarbeit Zeitrahmen: 10-20 Min. Ort: Raum, Außengelände Material: Je Paar einen Zollstock, alternativ einen Gymnastikreifen [ 19 ] Lensing-Conrady • Kinderkram in der Berufswelt? 1| 2018 Der Fundus: Psychomotorische Praxis Der nun bald 50-jährigen Umsetzung psychomotorischer Ideen in die Praxis, besonders angeregt durch Werke Kiphards (u. a. 1979) entstammt ein großer Fundus psychomotorischer Praxiserfahrungen, die sich unter dem Motto »Bewegungsspaß mit Wirkung« (Förderverein Psychomotorik Bonn 2010) trefflich zusammenfassen lassen. Ihren Schwerpunkt haben sie in den freudvollen, alle Sinne ansprechenden und fordernden Zugängen zur Erfahrung des Selbst, der Selbstwirksamkeit und Selbststeuerung im personalen, sozialen und emotionalen Kontext (Zimmer 2010). Abb. 1.: Wer führt wen? (Foto: Hans Jürgen Beins) Schwerpunkte: Fremdwahrnehmung, Führen - sich Führen lassen Charakteristik: achtsamkeitsfördernd, kommunikativ Positionierung: thematische Vertiefung Wie geht’s? ›Führen‹ und ›sich Führen lassen‹ scheinen in Unternehmen durch die Positionen eindeutig geregelt zu sein. Im Alltag erleben wir jedoch immer wieder, dass es diese Eindeutigkeit der Rollen selten gibt und der Führungsstil sowie die Beziehung zwischen zwei Menschen starken Einfluss nehmen. Die folgende Aufgabe schafft einen guten Anlass, über diesen Zusammenhang zu sprechen. Zunächst finden sich die Teilnehmerinnen zu Paaren zusammen. Jedes Paar erhält einen Zollstock und formt daraus einen ›Reifen‹. Nun erhält eine Partnerin die Aufgabe, den Reifen so zu halten, dass sich die andere Partnerin im in Bauchhöhe gehaltenen Reifen befindet. Die Partnerin, die den Reifen hält, soll nun ohne zu sprechen ihre Partnerin im Raum führen und zwar so, dass die Partnerin im Reifen diesen nicht berührt. Nach drei bis fünf Minuten werden die Rollen gewechselt. Anschließend tauschen sich die Partnerinnen über die Übung aus. Sie erhalten von der Moderatorin noch den Hinweis zu überlegen, wer tatsächlich die Führung übernommen hat. Diese Erfahrungen können zusätzlich in der großen Gruppe aufgenommen werden. Nicht selten übernehmen die Partnerinnen im Reifen die Führung, indem sie loslaufen und der ›Führende‹ folgt. Die Übung könnte nach einem Gespräch noch einmal wiederholt werden, indem die Führende z. B. den Auftrag erhält, ihre Rolle eindeutig wahrzunehmen. Was kommt raus? Während der Übung nehmen die Führende und die Geführte in einer nonverbalen, spielerischen Situation die gegenseitige Abhängigkeit wahr. Es kann durchaus sein, dass diejenige, die den Führungsauftrag hat, diesen (unbewusst) abgibt und hinter ihrer Partnerin herläuft. Es könnte auch sein, dass die Führende sehr eindeutig führt und die Bedürfnisse und Impulse der Partnerin wenig Raum erhalten. Beides bietet einen guten Gesprächsanlass über die eigene Rolle. Wozu? Führungskräfte und Mitarbeiter werden sich ihrer eigenen Rolle bewusst und nehmen wahr, dass sie zusammenwirken müssen. Führen und Geführtwerden, wird als ein dialogischer Prozess erlebt, der nicht immer nur verbal und eindeutig abläuft. Dies kann zu einer besseren (…) (Selbst- und Fremdwahrnehmung) im Alltag führen.« [ 20 ] 1| 2018 Forum Psychomotorik Die Methodik: Adaption in die Erwachsenenwelt Nicht ausschließlich, aber sehr stark beziehen sich die Praxisvorschläge der Psychomotorik auf Kinder, genauer gesagt, auf die Förderung und Begleitung der kindlichen Entwicklung. Daneben gibt es bereits einige Adaptionen an spezifische Anforderungen durch die Zielgruppe, etwa in der Motogeragogik, in der Psychiatrie oder in sonderpädagogischen Feldern. In der hier vorgestellten Verwendung psychomotorischer Praxis im Bereich der betrieblichen Bildung geht es um Adaptionen in die Erwachsenenwelt und die Voraussetzungen betrieblicher Fortbildung. Unterschiede zu den Angebotsbedingungen im Kinderbereich sind schnell zu erkennen: ■ Keine spezifischen Bewegungsräume. Stattdessen i. d. R. Seminarräume mit oft knapp auf die Teilnehmerzahl bemessenen Raumgrößen und spezifischem Mobiliar. ■ Wenige Möglichkeiten einer Verwendung psychomotorischer Settings. Stattdessen variable Gruppengrößen, unterschiedliche Zeitstrukturen und kaum Vorhandensein oder Einsatzmöglichkeiten »psychomotorischer Gerätschaften«. ■ Weniger offensichtliche Bewegungsfreude. Stattdessen Erwartungen in Bezug auf den gewohnten Seminarstandard, Sitzlastigkeit und Körperferne. Gerade hier liegt aber auch ein wesentliches Potential psychomotorischer Einflussnahme: Das Aufbrechen dieser Realität überrascht, irritiert vielleicht, aber öffnet mit hoher Wahrscheinlichkeit den Erwartungshorizont. Und dann ist die Bewegungsfreude oft doch wieder da (Abb. 2). Der Bogen darf aber sicher auch nicht überspannt werden. ■ Mehr Theorie- und Zweckanspruch. Der Anspruch eines unmittelbaren Themenbezugs und einer angemessenen Kosten-Nutzen Relation ist wesentlich höher als in einer psychomotorischen Gruppe. Die Seminarleitung sollte nach jedem Praxisangebot mit einer Sinnfrage rechnen. Da aber die Praxisvorschläge gezielt in die Seminardidaktik eingebaut werden, bieten gerade solche Fragen Gelegenheit zur Diskussion und inhaltlichen Vertiefung. Didaktische Fragestellungen Betriebliche Fortbildungen werden nicht zum Spaß durchgeführt. Unternehmen und Organisationen führen sie in der Erwartung durch, für sie wichtige Fragestellungen zu klären: Was sind unsere Ziele? Wie positionieren wir uns? Wo liegen unsere Stärken? Welche Zielgruppe hat unser Angebot und wie können wir neue erreichen? Welche Qualitäten brauchen wir, um unsere Ziele zu erreichen? Ziehen alle am »gleichen Strang«? Solche Fragestellungen bewegen die Organisationen täglich, werden aber meist nicht im Alltag gelöst. Sie brauchen einen eigenen Rahmen, der genügend Freiraum gibt, Lösungen zu erarbeiten. Fachleute nennen so etwas »offsites«. Diese kosten allerdings in der Regel viel Geld, unter anderem auch durch ihren Zeitaufwand. Entsprechend hoch sind die daran geknüpften Erwartungen: Macht die Veranstaltung und deren Inhalte Sinn? Sinn-Stiftung: Über die Sinne zum Sinn Es entspricht den Erfahrungen in der Seminarpraxis, dass es für die Sinn-Suche äußerst förderlich ist, sinnliche Wahrnehmungen zu provozieren. Diese konfrontieren auf unmittelbare und eben nicht ausschließlich kognitiv gesicherte Art mit der eigenen Position - und eben auch mit anderen Perspektiven. Abb. 2: Tuchtrampolin (Foto: Hans Jürgen Beins) [ 21 ] Lensing-Conrady • Kinderkram in der Berufswelt? 1| 2018 Es ist nicht neu, wie in der Psychomotorik üblich, mit Metaphern zu arbeiten (»Vorsicht, heiße Kartoffel« meint etwa, halt den Ball nicht so lange fest). Im Seminarbereich ist jedoch noch weitgehend Neuland, dass auch der eigene Körper, der sinnliche Kontakt zu alltäglichen Gegenständen oder speziellen Materialien als Metaphern nutzbar sind. Mit dieser sehr direkten und durchaus spielerisch anmutenden Art der Auseinandersetzung mit den gestellten Fragen verändern sich althergebrachte Sichtweisen - und mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit öffnen sich neue Perspektiven. Zielgruppenspezifische Auswahl und Flexibilität des Praxisangebotes Was für jede Psychomotorik-Gruppe gilt, bleibt auch für den Seminarbereich wirksam. Nicht alles geht mit allen oder zu jeder Zeit. Kommen etwa körperliche Berührungen ins Spiel, sind Vorbehalte sicher größer. Ein eigentlich lustiges Spiel (z. B. das Vampir-Spiel; siehe Kasten) kann die Gruppe irritieren und überfordern. Es kann aber auch zu positiven Irritationen führen, die Wahrnehmungs- und Denkprozesse auslösen. Zum einen ist es die Auswahl geeigneter Praxisideen, zum anderen ist es die Flexibilität in der Situation, mit der eine Spielidee einbezogen oder weggelassen, vielleicht auch nur modifiziert wird. Zieldefinition Im Zusammenhang von Workshops, Meetings oder Konferenzen sind neben den Überlegungen zum zeitlichen Umfang, vorhandener Räumlichkeit oder zu erwartender Teilnehmerzahl Ziel- und Zwecküberlegungen wesentlich. ■ Was kommt im konkreten Zusammenhang des Seminares heraus, wenn der Praxisinput erfolgt? Werden die TeilnehmerInnen aktiviert? Entsteht ein positives Miteinander im Seminar? Wird eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema provoziert? Wird ein Zusammenhang erfahrbar und verdeutlicht? ■ Welche Effekte kann die Aufgabenstellung im Anschluss für die Arbeit im Unternehmen oder in der Organisation haben? Gewinnen Unternehmensziele für die TeilnehmerInnen an Kontur? Wird die Selbstwahrnehmung der MitarbeiterInnen positiv beeinflusst? Wird ihre Arbeit effektiver? Wird ihre Motivation erhöht? Wird die Zusammenarbeit verbessert? Fazit Zusammenfassend entsteht bei guter Vorbereitung und Durchführung eine neue Qualität der betrieblichen Erwachsenenbildung, wenn zwei oft getrennt gesehene Lern- und Entwicklungsfelder zusammengebracht werden: die psychomotorische Persönlichkeitsentwicklung mit der Strategie-, Organisations- und Teamentwicklung der Geschäftswelt. Literatur Beins, H. J., Lensing-Conrady, R., Wolf, G. (2017): Von Sinnen. Impulse und Interventionen für Meetings, Workshops, Konferenzen. Ein Methodenbuch. Verlag modernes lernen, Dortmund » …und was nicht geht! « - Praxisbeispiel: Vampir-Spiel Als Beispiel für ein wahrscheinliches No-Go im Seminaralltag, das aber in unzähligen psychomotorischen Wahrnehmungsworkshops schon Spaß und »Gänsehaut« gemacht hat, sei das Vampir-Spiel beschrieben: Eine Gruppe »Menschen« geht eng zusammen blind (Augen zu) durch den Raum. Die TeilnehmerInnen berühren sich natürlich, aber gehen weiter. Unter den TeilnehmerInnen ist aber ein »Vampir«, der den Menschen, den er berührt, mit beiden Händen um den Hals fasst. Darauf stirbt der Mensch mit lautem Schrei und wird zum Vampir, der wiederum den Menschen, denen er begegnet, an den Hals geht. Treffen sich zwei »Vampire«, gehen sie sich gegenseitig an den Hals - und werden damit wieder zu »Menschen«. Beruhigend: Meistens gewinnt »das Gute«. [ 22 ] 1| 2018 Forum Psychomotorik Beudels, W., Lensing-Conrady, R., Beins, H. J. (2013): … das ist für mich ein Kinderspiel! Handbuch zur psychomotorischen Praxis. 13. Aufl. Borgmann, Dortmund Förderverein Psychomotorik Bonn e. V. (2010): Bewegungsspaß mit Wirkung! Erfahrungen und Perspektiven der psychomotorischen Förderung. Borgmann, Dortmund Kiphard, J. (1979): Motopädagogik. Borgmann, Dortmund Zimmer, R. (2010): Handbuch der Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. 5. Aufl. Herder, Freiburg Der Autor Rudolf Lensing-Conrady Sportpädagoge, Geschäftsführer im Förderverein Psychomotorik Bonn, Autor verschiedener Fachbücher im Bereich der Psychomotorik, Referent der Rheinischen Akademie mit Schwerpunkten in der Raumgestaltung, in den Themenbereichen Gleichgewicht und sensorische Integration sowie im Erwerb mathematischer Kompetenzen. Anschrift Rudolf Lensing-Conrady Wernher-von-Braun-Straße 3 D-53113 Bonn rudolf.lensing-conrady@psychomotorikbonn.de Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erleben auf der Flucht oft monatelange Strapazen, im Aufnahmeland sind sie fremd und von ihren Familien getrennt. Wie können sie von Fachkräften der Jugendhilfe begleitet werden? Der Autor beschreibt die pädagogische Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die neben aller Besonderheit ganz »normale« Jugendliche sind. Kulturelle Unterschiede und traumatische Erfahrungen werden ebenso thematisiert wie Sprache und schulische oder berufliche Integration. Was kommt nach der Flucht? a w 2., akt. Auflage 2017. 183 Seiten. 5 Abb. (978-3-497-02701-9) kt
