motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2018.art15d
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Aktuelles Stichwort: Circuspädagogik
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Marcus Kohne
Zentrale Themen der Circuspädagogik sind die Vielfalt und die Dynamik. Ebenso bietet sie nach außen ein vielfältiges und dynamisches Bild. Die Circuspädagogik hat sich inzwischen zu einer eigenständigen pädagogischen Disziplin entwickelt, die sich in vielen pädagogischen, sozialen, therapeutischen und kulturellen Arbeits- und Handlungsfeldern etabliert hat. Der Autor gibt in diesem Beitrag einen Überblick über die Entwicklung, Verortung, Ziele und Wirkungen der Circuspädagogik. Da er den Circus in seiner heutigen Form als ein Produkt einer weltweiten kulturellen Entwicklung sieht, wird für das Wort Circus und alle davon abgeleiteten Wörter die internationale Schreibweise genutzt.
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[ TITELRuBRIK ] [ 87 ] motorik, 41. Jg., 87-89, DOI 10.2378 / motorik2018.art15d © Ernst Reinhardt Verlag 2| 2018 [ AuF DEN PuNKT GEBRACHT ] Aktuelles Stichwort: Circuspädagogik Marcus Kohne Zentrale Themen der Circuspädagogik sind die Vielfalt und die Dynamik. Ebenso bietet sie nach außen ein vielfältiges und dynamisches Bild. Die Circuspädagogik hat sich inzwischen zu einer eigenständigen pädagogischen Disziplin entwickelt, die sich in vielen pädagogischen, sozialen, therapeutischen und kulturellen Arbeits- und Handlungsfeldern etabliert hat. Der Autor gibt in diesem Beitrag einen Überblick über die Entwicklung, Verortung, Ziele und Wirkungen der Circuspädagogik. Da er den Circus in seiner heutigen Form als ein Produkt einer weltweiten kulturellen Entwicklung sieht, wird für das Wort Circus und alle davon abgeleiteten Wörter die internationale Schreibweise genutzt. Entwicklung Die Circuspädagogik gilt als junge Pädagogik (Breuer 2004, 131) bzw. als relativ junges wissenschaftliches Fachgebiet und ist aus der Praxis entstanden (Behrens 2007, 25). Hervorgegangen ist die Circuspädagogik aus den steigenden circensischen Aktivitäten der 1980er Jahre im Kinder- und Jugendbereich (Breuer 2004, 131) und den damit verbundenen Beobachtungen, die die Potenziale und Werte der positiven Persönlichkeitsentwicklung, der Herausbildung sozialer Kompetenzen sowie Schlüsselqualifikationen erkannt und herausgearbeitet haben (Winkler 2007, 26). Als Vorreiter der circuspädagogischen Diskussion in Deutschland gilt Ernst J. Kiphard, der ab Beginn der 1980er Jahre die pädagogischen Elemente des Circusspiels darlegte (Kiphard 1982; 1984; 1986). Inzwischen wurde 2006 die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Zirkuspädagogik gegründet, mit der Zielsetzung der Förderung, Entwicklung und Vernetzung im Bereich der Circuspädagogik (von Grabowiecki / Lang 2007, 29). Verortung Die Circuspädagogik hat sich in den letzten Jahren in vielen Lebens-, Freizeit- und Ausbildungsbereichen etabliert (von Grabowiecki / Lang 2007). Durch die Komplexität, Vielfalt und Vielseitigkeit bietet sie verschiedene Möglichkeiten der Durchführung. Durch das Setzen unterschiedlicher Akzente in den circuspädagogischen Angeboten, die z. B. in der Erlebnis-, Sport-, Spiel-, Moto- oder Sozialpädagogik verankert sind, können die Schwerpunkte der Circuspädagogik je nach Ziel- und Umsetzungsperspektive geändert und angepasst werden (Behrens 2007, 25). Bezog Kiphard circuspädagogische Aktivitäten zu Beginn ausschließlich auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (Kiphard 1982; 1984; 1986), deckt die heutige Circuspädagogik nahezu die gesamte Alterspanne ab, bildet jedoch in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen weiterhin ihren Schwerpunkt. Das circuspädagogische Setting kann je nach Zielsetzung, z. B. als Präventions-, Bildungs- Therapie- oder Freizeitmaßnahme, als Einzel- oder Gruppentraining, mit oder ohne abschließender Aufführung, gestaltet werden. Es kann zeitlich von z. B. einem einstündigen Circusworkshop, einer Circusprojektwoche bis zu einem zeitlich fortlaufenden Angebot stattfinden (Breuer 2004, 133). [ 88 ] 2| 2018 Auf den Punkt gebracht Circensische Inhalte Eine umfassende Aufzählung der Circuskünste im circuspädagogischen Kontext ist bei von Grabowiecki und Lang (2007, 30) zu finden. Sie teilen die Circuskünste in fünf Bereiche ein: ■ Akrobatik (z. B. Pyramiden- und Partnerakrobatik, Trapez) ■ Balancierkünste / Äquilibristik (z. B. Kugel- und Seillaufen, Stäbe balancieren) ■ Handgeschicklichkeiten (z. B. Jonglieren, Diabolo, Tellerdrehen) ■ Improvisieren / Clownspielen (z. B. Pantomime, Theater, Clownerie) ■ Verschiedene Manegenkünste (z. B. Musik, Tanzen, Zaubern) (Abb. 1-3). Ziel kann auch sein, Mehrfachhandlungen, wie z. B. Jonglieren auf einer Pyramide, zu erlernen. Pädagogische Inhalte und Wirkungen Kiphard grenzt einerseits die Circuspädagogik vom (schulischen) Unterrichten von Circuskindern ab, andererseits definiert er den Rahmen, in dem sich die Circuspädagogik bewegt, indem er darauf hinweist, dass artistische Fähigkeiten und Aktivitäten nicht unter dem professionellen Aspekt zu vermitteln, sondern gezielt als erzieherische Mittel anzuwenden sind (Kiphard 1997, 14). Ähnlich sehen von Grabowiecki und Lang (2007, 27) die Aufgaben der Circuspädagogik darin, Circuskünste lehrbar zu machen und pädagogisch sinnvoll einzusetzen, wobei sie nach den pädagogischen Prozessen und Zielen des Circustrainings sowie den Zielgruppen und Wirkungsbzw. Lebensbereichen, in denen die Circuskünste eingesetzt werden können, unterscheiden. Die Circuspädagogik besitzt für sie eine körperliche, soziale, ästhetisch-künstlerische und kulturelle Dimension sowie eine Dimension der individuellen Entwicklung. Aus einer psychomotorischen Perspektive betrachtet wird von einer handelnden Auseinandersetzung mit circensischen Inhalten gesprochen, die zu einer Erweiterung der Erfahrungsbereiche, des Kohärenzsinns und einer Stärkung der personalen, sozialen und körperlich-motorischen Ressourcen führt (Behrens 2007, 24). Die Circuspädagogik ist dazu geeignet, das Erzeugen eines positiven Selbstbilds und das Erleben von Subjektivität, Unmittelbarkeit, Sinneserfahrung und Selbstinszenierung zu unterstützen (Abb. 4). Dabei wird der Körper-, Material-, Sozial-, Erlebnis- und ästhetischen Selbst-Erfahrung jeweils die Ich-, Sach- und Sozialkompetenz sowie der persönlichkeitsbildende Lernprozess und die Flow-Erfahrung zugeschrieben (Breuer 2004, 132 ff ). Einzelne wissenschaftliche Studien über die Abb. 1: Jonglieren (Kohne 2009; Foto: Betina Bergmann) Abb. 2: Tellerdrehen (Foto: Maciej Kornacki) [ 89 ] Kohne • Aktuelles Stichwort: Circuspädagogik 2| 2018 pädagogischen Wirkungsweisen circensischer Angebote belegen, dass bei den TeilnehmerInnen eine deutliche Steigerung des Selbstwertgefühls (Ward 2000, 95) und u. a. eine Reduktion der Ängstlichkeit (Behrens / Wendler 2015, 229 f ) auftritt. Kohne weist darauf hin, dass die Wirkung circuspädagogischer Angebote in hohem Maße von der pädagogischen Haltung der Verantwortlichen in den entsprechenden Projekten abhängt und sich z. B. in gestaltorientierten Circusprojekten u. a. in der Achtsamkeit, Autonomie und Verantwortung (Kohne 2016a, 39 ff ) oder in der Klarheit, Sinnlichkeit und Reflexion (Kohne 2016b, 87 ff ) der Beteiligten zeigt. Literatur Behrens, M. (2007): Zirkus als Thema in der Psychomotorik. Statement zum Selbstverständnis der Zirkuspädagogik aus psychomotorischer Perspektive. Praxis der Psychomotorik 32 (1), 23-25 Behrens, M., Wendler, M. (2015): Zirzensische Künste als Ressourcenstärkung für sozial ängstliche Kinder. In: Wendler, M., Huster, H.-U. (Hrsg.): Der Körper als Ressource in der sozialen Arbeit. Grundlegungen zur Selbstwirksamkeitserfahrung und Persönlichkeitsbildung. Springer VS, Wiesbaden, 219-231,https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-08778- 4_13 Breuer, F. (2004): Macht Zirkus Kinder stark? Möglichkeiten und Grenzen der Zirkusarbeit mit Kindern - Eine kritische Bestandsaufnahme. Praxis der Psychomotorik 29 (2), 131-140 Kiphard, E. J. (1997): Pädagogische und therapeutische Aspekte des Zirkusspiels. In: Ziegenspeck, J. (Hrsg.): Zirkuspädagogik. Grundsätze - Beispiele - Anregungen. Eine Dokumentation anlässlich des Internationalen Kinder- / Jugend- / Circus- & Theaterfestivals in Hamburg. edition erlebnispädagogik, Lüneburg, 14-19 Kiphard, E. J. (1986): Artistische Kunstfertigkeiten als alternative Lerninhalte innerhalb der Motopädagogik. motorik 9 (1), 10-19 Kiphard, E. J. (1984): Clownerie und Zirkusspiel als pädagogische Elemente. Praxis der Psychomotorik 9 (3), 65-71 Kiphard, E. J. (1982): Kinderzirkus - eine Möglichkeit zur Sozialisation milieugeschädigter Kinder und Jugendlicher. Praxis der Psychomotorik 7 (4), 143-148 Kohne, M. (2016a): Professionelle Haltung in gestaltorientierten, kontaktzentrierten Circusprojekten. Teil I: Haltungsrelevante Prinzipien der Gestalttherapie. Praxis der Psychomotorik 41 (1), 36-42 Kohne, M. (2016b): Professionelle Haltung in gestaltorientierten, kontaktzentrierten Circusprojekten. Teil II: Haltungsrelevante Aspekte des Kontaktprozesses. Praxis der Psychomotorik 41 (2), 84-91 Kohne, M. (2009): Zentriert sein - bewusst (er)leben. Bewusstheit als zentraler Wirkfaktor in der gestaltorientierten Circusarbeit. Praxis der Psychomotorik 34 (4), 189-194 von Grabowiecki, U., Lang, T. (2007): Zirkuspädagogik im Überblick. In: Ballreich, R., Lang, T., von Grabowiecki, U. (Hrsg.): Zirkus Spielen. Das Handbuch für Zirkuspädagogik Artistik und Clownerie. Hirzel, Stuttgart, 27-30 Ward, S. (2000): Pädagogische Wirkungen von Zirkus. In: Schnapp, S., Zacharias, W. (Hrsg.): Zirkuslust - Zirkus macht stark und ist mehr … Zur kulturpädagogischen Aktualität einer Zirkuspädagogik. LKD, Unna, 92-95 Winkler, G. (2007): Vom Zirkus zur Zirkuspädagogik. In: Ballreich, R., Lang, T., von Grabowiecki, U. (Hrsg.): Zirkus Spielen. Das Handbuch für Zirkuspädagogik, Artistik und Clownerie. Hirzel, Stuttgart, 24-27 Der Autor Marcus Kohne Diplom Sozialpädagoge, Circuspädagoge, Gestalttherapeut, Theaterpädagoge, Performance-Coach, Leiter des Centrum Mikado Anschrift Centrum Mikado Weinheimer Str. 6 D-69488 Birkenau marcus.kohne@centrum-mikado.de Abb. 3: Raubtiere (Foto: Maciej Kornacki) Abb. 4: Dompteur (Foto: Maciej Kornacki)
