eJournals motorik 41/3

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2018.art21d
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2018
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Psychomotoriktherapie mit Eltern

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Theresia Buchmann Brander
Sind Eltern in den Therapieprozess ihres Kindes eingebunden, lernen sie das Konzept und die Ziele der Psychomotoriktherapie kennen. So entsteht einerseits Vertrauen in die Psychomotoriktherapie, andererseits zum therapeutischen Fachpersonal. Das schafft eine wichtige Basis für einen respektvollen Beziehungsaufbau zwischen allen Beteiligten und eine nachhaltige Entwicklung des Kindes. Die Eltern erleben und gestalten Lern- und Entwicklungsprozesse in der Therapiestunde konkret mit und können diese Erfahrungen anschließend im Alltag gemeinsam mit ihrem Kind umsetzen. Dieser Beitrag zeigt anhand verschiedener Beispiele auf, wie Eltern die Entwicklungsförderung ihres Kindes unterstützen können.
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Zusammenfassung / Abstract Sind Eltern in den Therapieprozess ihres Kindes eingebunden, lernen sie das Konzept und die Ziele der Psychomotoriktherapie kennen. So entsteht einerseits Vertrauen in die Psychomotoriktherapie, andererseits zum therapeutischen Fachpersonal. Das schafft eine wichtige Basis für einen respektvollen Beziehungsaufbau zwischen allen Beteiligten und eine nachhaltige Entwicklung des Kindes. Die Eltern erleben und gestalten Lern- und Entwicklungsprozesse in der Therapiestunde konkret mit und können diese Erfahrungen anschließend im Alltag gemeinsam mit ihrem Kind umsetzen. Dieser Beitrag zeigt anhand verschiedener Beispiele auf, wie Eltern die Entwicklungsförderung ihres Kindes unterstützen können. Schlüsselbegriffe: Zusammenarbeit mit Eltern, Psychomotoriktherapie, Entwicklung, Förderung, Eltern stärken Psychomotor therapy with parents. Providing access to child’s development support Integrating parents in their child’s therapy process enables them to gain knowledge about the concept and targets of psychomotor therapy and to build trust in the concept and therapeutic staff. This is fundamental for building a respectful relationship and promoting a positive development of the child. Parents experience and create learning and development processes actively and get enabled to implement these experiences in their daily life. This article presents how parents can support their child’s development, illustrated by different examples. Key words: cooperation with parents, psychomotor therapy, development, promotion, empower parents [ TITELRUBRIK ] [ 118 ] 3| 2018 motorik, 41. Jg., 118-124, DOI 10.2378 / mot2018.art21d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Elio*, ein Kind von 7,4 Jahren, besucht die 1.-Klasse. Er kann in der Schule seinen Krafteinsatz schwer einschätzen und wirkt unsicher in seinem Verhalten - trotz zugewandten Eltern und einem intakten familiären Umfeld. Die fehlende Dosierung des Krafteinsatzes, beispielsweise beim Kämpfen und beim Ballwerfen, führt * alle Namen wurden geändert. Die Personen auf den Fotos haben mit den geschilderten Fallbeispielen nichts zu tun, sondern demonstrieren nur eine Therapiestunde. Wir danken den Darstellern. Psychomotoriktherapie mit Eltern Den Zugang zur Entwicklungsförderung des Kindes ermöglichen Theresia Buchmann Brander zu zusätzlichen Problemen. Im Kontakt mit anderen fällt ihm die Wahl zwischen Nähe und Distanz schwer, was zu Unsicherheiten im sozialen Umfeld (Kinder und Lehrpersonen) führt. Während Elio im Klassenzimmer sehr leise spricht, hört man ihn auf dem Pausenhof schreien. Beim Bewegungsverhalten zeigt er alle Facetten: von ruhig und vorsichtig über wild und überbordend, bis er sich selber nicht mehr spürt. Koordinative, rhythmische Bewegungen auszuführen, ist für ihn eine große Herausforderung. In der Feinmotorik dagegen ist er geschickt und kann kleinste Legoteile zusammenfügen. Das Allgemeinwissen von Elio ist weitgefächert. Schreiben macht er von sich aus, auch wenn es ihn sichtbar anstrengt. So lauten die Beschreibungen der Lehrpersonen auf der Anmeldung für die Therapie, mit der dringenden Bitte, Elio aufzunehmen, um ihn in der Wahrnehmung und in seinem Selbstwert zu stärken. Beim Anamnesegespräch mit der Mutter erfahre ich, dass er nach der Geburt eine Infektion hatte und um sein Leben kämpfen musste; mehrere Spitalaufenthalte waren nötig. Überglücklich, dass ein Kind so einen Kampf gewonnen hat, dass diese unruhigen und emotional außerordentlich belastenden Zeiten vorbei sind, wünschen sich Eltern manchmal keine Therapie (ungern werden sie an diese schmerzerfüllten Momente erinnert) - oder sie suchen erst recht [ 119 ] Buchmann Brander • Psychomotoriktherapie mit Eltern 3| 2018 eine Unterstützung, weil diese Monate des Ungewissen auch sie verunsichert haben. Bei Elio ist es der Überzeugungskraft der Lehrperson zu verdanken, dass schließlich doch eine psychomotorische Abklärung eingeleitet wird. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie sich die Präsenz der Eltern während einzelner Therapiestunden positiv auf den Entwicklungsprozess des Kindes auswirken kann. Der Kontakt zwischen TherapeutIn und Eltern wird verbindlich, was wiederum einen Einfluss auf die innere Sicherheit des Kindes hat. Positive Erfahrungen unterstützen, die intrinsische Motivation zu stärken, und das Kind ist bereit, sich Herausforderungen zu stellen - was Entwicklungsschritte für alle Beteiligten deutlich sichtbar macht. Hinweis für einen Therapiebedarf Ein bisschen ungeschickt, etwas Mühe beim Schreiben und im sozialen Kontakt mit anderen unsicher - sind das ausreichend Gründe für eine Therapie? Die Eltern wollen verhindern, dass ihr Kind normiert wird, und vielleicht wird ihr Kind durch eine Therapie zusätzlich verunsichert. Um auf das vorangehende Beispiel zurückzukommen, konnte die Lehrerin die Eltern von einer Psychomotoriktherapie überzeugen, weil sie gründliche Kenntnisse über die Psychomotoriktherapie besaß. Bei der Abklärung von Elio wurden die Aussagen der Lehrpersonen bestätigt, wonach er Mühe bei der Kraftdosierung habe und es koste ihn hohe Konzentration und Anstrengung, seine Bewegungen beispielsweise bei den verschiedenen Sprungarten zu koordinieren. Deutlich sichtbar wird dabei, dass er eine Kämpfernatur ist und bereit ist, für eine gelungene Leistung viel zu investieren. Nach der Abklärung ist sich die Mutter noch nicht sicher, ob sie einer regelmäßigen Therapie wirklich zustimmen möchte und nimmt das Angebot von drei weiteren Beratungsstunden gemeinsam mit dem Kind in Anspruch. Spannend bei Elio ist zu beobachten, wie er im Therapieraum von Anfang an taktil-kinästhetische Reize sucht. Die Mutter kann während der folgenden Stunden den Prozess mitverfolgen, wie er beispielsweise mit seinen Händen innig den Knetesand variantenreich bearbeitet oder konzentriert, in sich ruhend und voller Freude in die Klaviertasten greift. Es ist offensichtlich, dass er die sinnlichen Reize intensiv aufnimmt und diese in einem zweiten Schritt mit mir reflektieren, wiederholen und damit vertiefen kann. Die Wechselwirkung zwischen Bewegen, Wahrnehmen, Fühlen, Beziehen und Denken wird sichtbar. Über die Metaebene kommuniziere ich dies mit der Mutter, die auf diese Weise den Prozess mitverfolgen kann. Nach den ersten Stunden steht für sie außer Frage, dass ihr Sohn von der Psychomotoriktherapie profitieren kann. In der Folge hat Elio die Therapie ein Jahr lang in einer Vierergruppe besucht, mit Kindern, die eine ähnliche Vorgeschichte haben. Über Körpererfahrungen (Im- Körper-Sein) und soziale und materiale Erfahrungen (Außerhalb-des-Körpers-Sein) wird seine Persönlichkeitsentwicklung und damit seine Identität gestärkt (Fischer 2009, 92 f ). Nach und nach kann Elio sein Potenzial in der Schule einbringen, sichtbar sicherer wird er im Handeln und im Kontakt mit den anderen - die Therapie hat ihr Ziel erreicht, nicht zuletzt dank dem Mitwirken und Mittragen der Mutter. Ich schreibe es ihrer Präsenz während der ersten Therapiestunden zu, dass sie auch weiterhin mit mir spontan und verbindlich über E-Mail in Kontakt geblieben ist und der Informationsfluss zwischen den verschiedenen Bereichen - Schule, Familie und Therapie - gewährt war. Zusätzlich hat sie mir mitgeteilt, dass sie den haptischen Erfahrungen ihres Sohnes im Alltag anders begegnet ist, dass sie ihm vermehrt ermöglicht hat, die Sachen zu ergreifen. Auf Grundlage dieser Vernetzung wurde Elio in seinem Wesen zusätzlich gestärkt. Verbindung zur Schule - Kompetenzen erwerben In der Schweiz ist die Psychomotoriktherapie den schulischen Diensten wie Logopädie und Schulpsychologie angegliedert. In den häufigsten Fäl- Dank dem Mitwirken der Mutter hat die Therapie das Ziel erreicht. [ 120 ] 3| 2018 Forum Psychomotorik len melden die Lehrpersonen im Einverständnis mit den Eltern die Kinder bei der Psychomotoriktherapie an. Seltener erfolgt eine Anmeldung direkt durch die Eltern oder über den Hausarzt. Im Jahr 2017 wurde in der Schweiz der neue Lehrplan 21 (LP21) eingeführt. Er stellt die Kompetenzentwicklung ins Zentrum des Unterrichts. Von den Kindern wird vermehrt Selbständigkeit verlangt: Sie sollen Lernprozesse selber bewältigen. Diesbezüglich erhalten die überfachlichen Kompetenzen (Personale Kompetenzen wie Selbstreflexion, Selbständigkeit und Eigenständigkeit, soziale Kompetenzen wie Dialog-und Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Umgang mit Vielfalt und methodische Kompetenzen wie Sprachfähigkeit, Informationen nutzen und Aufgaben / Probleme lösen) besondere Bedeutung. »Mit dem expliziten Verweis auf die Bedeutung entwicklungsorientierter Zugänge für die Lernprozesse bietet der LP21 der Psychomotoriktherapie vielfältige Ansatzpunkte, ihre Arbeit auch auf dessen Grundlage zu legitimieren. Die Psychomotoriktherapie muss sich in diesem Sinne nicht mehr eines externen Paradigmas (Entwicklungsförderung) bedienen, um das schulinterne Paradigma (Bildungs- und Erziehungsauftrag) zu ergänzen, sondern kann ihr professionsspezifisches Fachwissen dazu einsetzen, das Verständnis der Schule und ihrer Lehrpersonen für diesen Teilbereich zu sensibilisieren und zu erweitern« (Blos et al. 2017, 18). Die Psychomotoriktherapie soll sich auf den LP21 beziehen können. Explizit in der Zusammenarbeit mit Eltern ist es relevant und hilfreich, wenn die Zusammenhänge aufgezeigt werden können. Die Psychomotoriktherapie kann darauf hinwirken, dass das Kind und schließlich auch die Eltern einen Umgang mit den Ansprüchen im Schulalltag finden und die psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) des Kindes gestärkt wird (Abb. 1). So hat auch Elio entdeckt, wie er selbstwirksam seine Sinne schärfen kann. Er hat seine Wahrnehmung im taktilen Bereich aktiviert und dadurch eine Entwicklung, einen Lernprozess ausgelöst. In der Aktivität innerhalb der Gruppe erfahren die Kinder gegenseitig Anerkennung für ihre persönlichen Fähigkeiten, was für den Therapieerfolg speziell bei unsicheren Kindern relevant ist. Seine Mutter ist eine wesentliche Ansprechperson, wenn es um den Transfer zwischen der Therapie und der Schule geht. Weil sie persönlich einen Zugang zur Therapie ihres Kindes gefunden hat, dieser eine Bedeutung beimisst und mich als Person kennenlernte, fällt der persönliche Austausch über die Schwierigkeiten und die Fortschritte von Elio im Alltag leichter. Ihre innere persönliche Haltung in Bezug auf die Entwicklungschancen ihres Kindes ist positiv und hat sich stabilisiert. Sie hält der kritischen und differenzierten Beurteilung der Schule Stand. Fördern - fordern - einfordern - überfordern Besuchen Eltern die ersten Therapiestunden gemeinsam mit ihrem Kind, können sie bei beziehungsfördernden Spielen mit dem Ball, gemeinsamen Zeichnungsideen am Tisch oder während einem Parcours mit schwierigen Kletterpartien mitverfolgen, wie ihr Kind mit Anforderungen umgeht. Auch hier ist die Metaebene wichtig; ich lasse die Eltern an meinen Beobachtungen und Überlegungen teilhaben. So verbalisiere ich den Bewegungsablauf des Kindes. Ich schildere beispielsweise, wie es den Übergang von der aufgestellten dicken Matte auf den von der Decke hängenden Holzteller schafft, indem es klug überlegt, den Teller vorsichtig, auf der Matte sitzend, in Schwung versetzt, bis es diesen mit der rechten Hand packen kann, die linke Hand dabei sicher an der Matte festkrallend, dann auf die Matte steht, das Seil mit beiden Händen packt und schließlich mit einem Sprung mit dem Po auf Abb. 1: Eltern nehmen die Kompetenzen ihres Kindes wahr. (Fotos: Romano Cuonz) [ 121 ] Buchmann Brander • Psychomotoriktherapie mit Eltern 3| 2018 dem Teller landet. Es ist ein Kind, das viel überlegt und plant, bevor es den nächsten Schritt wagt. Diese kleinen Prozesse kommentiere ich, fasse Entwicklungsschritte in Worte und leite die Eltern je nach Situation dazu an, ihrem Kind - wenn nötig - kleine Hilfestellungen zu geben. Zu Beginn einer Therapie werden die Eltern nicht immer direkt als Hilfesteller vom Kind akzeptiert und das Kind verlangt nach dem therapeutischen Fachpersonal, um ein Hindernis zu überwinden. Hin und wieder verweigern Kinder eine Idee, einen Input, eine Variante von Bewegung. Sie wollen selber entdecken und bestimmen das Tempo. Dies ist ebenso ein therapeutischer Prozess: gemeinsam mit Eltern eine Grenze einzugestehen, das Unvermögen zu akzeptieren. Exemplarisch soll an dieser Stelle eine Stunde mit Marco und seinem Vater dienen. Die Stunde beginnt damit, dass Marco sich für ein kleines Schaukelbrett interessiert, auf dem er stehend eine Kugel durch eine Bahn mit Schlaufen von einem Ende zum anderen kugeln lassen soll. Marco steht auf dem Brett und ich erkläre ihm das Ziel dieses Spiels. Der Vater und ich stehen beide neben dem Brett, die Stimmung ist konzentriert. Ich signalisiere, dass es sich lohnen wird, genug Zeit für dieses Spiel einzusetzen, und gebe hin und wieder nonverbal ein positives Zeichen (Daumen nach oben). Der Vater gibt einen aufmunternden Kommentar ab. Wir beide wissen nicht, ob Marco bis zum Gelingen durchhalten wird. Doch nach ca. 10 Minuten bewältigt er die Aufgabe. Anschließend, motiviert und zuversichtlich, konstruiert er mit verschiedenen kleineren Matten eine erhöhte Ebene, steigt hinauf und springt auf das Trampolin hinunter. Marco wiederholt diesen Bewegungsablauf von sich aus mehrere Male. Der Vater erzählt mir dabei von einem Fahrradausflug mit der Familie. Bei einem kurzen, steil abfallenden Straßenabschnitt sei Marco vom Fahrrad gestiegen und hätte dieses gestoßen, obwohl er und seine Frau ihn ermuntert haben, aufzusteigen und hinunterzufahren. Dieses Erlebnis habe Marco ganz in Rage gebracht und veränderte die Stimmung des sonst gelungenen Ausflugs mit der Familie. Ich nehme das Thema Mut auf und frage Marco, wieviel Mut, den er gerade beim Hinunterspringen auf das Trampolin zeigt, er damals auf dem Fahrrad gebraucht hätte. In diesem Moment wiederholt Marco seine heftige Reaktion, sagt mir ins Gesicht, dass er nie mehr in die Therapie kommen werde, geht in die Garderobe, zieht seine Schuhe an und marschiert die Treppe hinunter. Der Vater und ich sehen uns ratlos an und realisieren gleichzeitig: das war zu viel, die Förderung wurde zur Überforderung. Der Vater als Beobachter formuliert daraufhin eine Erkenntnis: Er möchte die Ungeschicktheit und das vorsichtige Bewegungsverhalten von Marco besser akzeptieren lernen. Marco ist ein intelligentes Kind, bestimmt die Zeit zum nächsten Entwicklungsschritt, nutzt die Angebote und will nicht gedrängt werden. Vielleicht hat Marco auch die Erinnerung an diesen konflikthaften Moment mit der Familie verletzt. In der Psychomotoriktherapie geht es immer wieder darum, mit diesen Verletzlichkeiten und dem Unvermögen einen liebevollen Umgang zu finden. Schwächen gehören zum Menschen und wollen akzeptiert werden, das ermöglicht eine gesunde Entwicklung und Resilienz. Die relativ kurze Therapiezeit bei Marco hat ausgereicht, um aufzuzeigen, dass er genügend eigenen Antrieb hat und seine Eltern ihn unterstützen können. Die Eltern haben die Zuversicht erhalten, dass er seine nötigen Entwicklungsschritte machen wird, unabhängig von weiteren zusätzlichen Therapiestunden. Potenzial kennenlernen - die Komfortzone verlassen Wie es Kinder gibt, die von ihren Eltern stetig gefördert und gefordert werden und denen viel zugetraut wird, gibt es andere, denen die Eltern wenig abverlangen. Leander, 5,7 Jahre, hat eine Schwester von 18 Jahren, und im Gespräch mit seinen Eltern wird schnell klar, dass er von drei erwachsenen Personen umsorgt und vergöttert wird, die ihm alltägliche Aufgaben wie Anziehen, Tisch decken etc. abnehmen. Selbst den Papierzettel, der ihm im Therapieraum während der Abklärung zu Boden fällt, hebt prompt der Vater auf. Leander wird bei uns von der Kindergartenlehrperson angemeldet, weil ihm verschiedene Basisfunktionen fehlen. Das Klettern während der Abklärung gibt er [ 122 ] 3| 2018 Forum Psychomotorik schnell auf, da er seine Füße in ganz ungewohnter Art und Weise spürt. Er beklagt sich bei seinen Eltern, dass ihn diese unbekannte Wahrnehmung bei seiner Fußsohle schmerze. Zu den Eltern gewandt erwähne ich, dass es für die Entwicklung förderlich ist, etwas zu wagen und zu investieren, die Komfortzone zu verlassen und einen kleinen Schmerz für einen Moment auszuhalten. Weiter springt er von einer Anregung zur anderen, ohne an einem Ort verweilen zu können. Durch das Gespräch mit der Kindergartenlehrperson beunruhigt und verunsichert, sind die Eltern in den ersten Therapiestunden präsent. Mein methodisches Vorgehen, die Eltern in Situationen während der Therapie einzubinden, ist durch klare Anweisungen strukturiert. Ich übernehme die Verantwortung für das Geschehen, was die Eltern sichtbar entlasten kann. Als ersten Schritt wählt das Kind spontan das Material aus, dann bestärke ich es darin, selber auszuprobieren und leite in einem zweiten Schritt die Eltern an, wie sie das Geschehen beeinflussen können, damit ihr Kind verweilen und ein Lernprozess in Gang kommen kann. Wählt das Kind das Trampolin, soll die Mutter die Anzahl Sprünge definieren, sie gibt z. B. die Zahl acht vor. Beim achten Sprung stoppt das Kind, bleibt auf dem Trampolin stehen und fängt den Ball auf, den ihm sein Vater zuwirft. Ich kommentiere das Geschehen, verbalisiere, was funktioniert, und motiviere, den Ablauf zu wiederholen, zu verbessern und Varianten zu schaffen. Die Eltern von Leander erleben, dass sie ihrem Sohn etwas zutrauen können und dass sich damit die Qualität seiner Beweglichkeit deutlich verändert. Sie nehmen eine Entwicklung wahr. Dieser gemeinsame Einstieg führt dazu, dass die Eltern eine Vorstellung erhalten, was die Psychomotoriktherapie bewirken möchte und was sie auslösen kann. Auch wenn die Mutter von Leander kaum Deutsch spricht, kann sie doch beobachten, wie ihr Kind über das Handeln seine Fähigkeiten verbessert. Speziell im Zeichnen ist die Freude der Mutter sichtbar, wenn wir am Tisch gemeinsam ein Kunstwerk schaffen. Weil die Eltern mit dabei sind, bekommen diese Stunden für Leander eine ganz besondere Bedeutung. Seine Eltern erleben, wie seine Eigenaktivität stärker wird und er seine persönlichen Kompetenzen und Bewältigungsstrategien entdeckt. Nach den langen Ferien bei den Großeltern in Serbien kommt er stolz zurück mit drei Heften, die er gemeinsam mit dem Großvater im Dorfkiosk für unsere Stunden gekauft hat. In der Zwischenzeit besucht er die Therapiestunden in einer kleinen Gruppe, ohne seine Eltern. Die Mutter vermittelt mir regelmäßig, wie wichtig und von Bedeutung diese Stunden für ihren Sohn nach wie vor sind. Zugehörigkeit und Beziehung erfahren Die Psychomotoriktherapie als niederschwelliges Angebot, von der Schulgemeinde oder dem Kanton finanziert, wird auch angefragt für Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten aus Familien mit komplexen Schwierigkeiten. Bevor wir die Eltern kennenlernen, haben sie bereits zahlreiche Gespräche und Beratungen hinter sich. Sie haben ihre Geschichte, die Biografie und mögliche Diagnosen des Kindes mehrmals erzählt und erläutert. Dass bei uns der Einstieg über ein Spiel, über die Bewegung und über das Handeln stattfindet, macht unser Angebot attraktiv (Abb. 2). Eltern reagieren häufig erstaunt und erleichtert, weil sie dies nicht erwartet haben - und wir profitieren, weil wir über das Bewegungsspiel einiges von den Verhaltensmustern innerhalb der Familie erkennen können. Indem wir die Eltern vorbehaltslos akzeptieren, geben wir dem Kind Sicherheit. »Die Akzeptanz dient der Beziehungspflege, sie schafft ein Vertrauensverhältnis, das für den weiteren Entwicklungsprozess unabdingbar ist. Vertrauen ist jedoch auch die Voraussetzung dafür, sich so zu zeigen wie man sich fühlt und was einem wichtig ist. Nur wenn der Mensch in seinen Sinn- und Bedeutungszuschreibungen wie seinen emotionalen und affektiven Beteiligungen transparenter wird, wenn wir einen möglichst umfassenden Anteil seiner Ganzheitlichkeit erkennen, kann eine nachhaltige, weil individuelle Entwicklungsförderung gelingen« (Blos 2011, 293). Beim Erstkontakt mit einer Familie mit komplexen Schwierigkeiten muss nicht selten zuerst ein gemeinsames Spiel entwickelt werden. Valentin kommt zur Abklärung mit seinen Eltern. Die Jacke, die Kapuze schützend über dem Kopf, will er nicht ausziehen. Er setzt sich in eine Ecke auf den Boden und beginnt mit dem Oberkörper zu schaukeln. Die Eltern, beide Akademiker, setzen sich an den Tisch. Valentin ist 8,4 Jahre alt und besucht zu diesem Zeitpunkt die zweite Klasse. Ich stelle ihm zur Wahl, ob er ein Würfelspiel am Tisch oder ein Ballspiel im Raum machen möchte. Er will mit dem Ball spielen. So stellen wir uns zu viert in den Kreis und werfen uns den Ball abwechslungsweise zu. In der ersten Runde, Valentin soll den Ball seinem Vater zuwerfen, schießt er diesen in die hinterste Ecke im Raum. Der Vater reagiert reflexartig und will den Ball in der Ecke holen. Ich stoppe den Vater, halte für einen kurzen Moment seinen Arm und fordere Valentin auf, selber den Ball zu holen und ihn ein zweites Mal dem Vater gezielt zuzuschießen. Valentin verschießt den Ball wieder, sein Vater bleibt stehen, und erneut muss Valentin den Ball holen gehen. Dann stelle ich die Aufgabe, dass der Ball immer in derselben Reihenfolge von einer Person zur anderen gespielt werden soll: von mir zum Kind, dann zum Vater, zur Mutter und schließlich wieder zu mir zurück. Dieser Kreislauf soll zehnmal gelingen, ohne dass der Ball dazwischen auf den Boden fällt. Ich stelle in Aussicht, dass wir dafür wahrscheinlich zahlreiche Versuche benötigen würden. Tatsächlich schaffen wir es beim fünften Versuch. Gemeinsam haben wir das Ziel erreicht und auch Valentin »besteht«, auch er ist ein Teil des gemeinsamen Erfolges. Es entsteht eine zentrierte, ruhige, fast meditative Stimmung. Dieser geteilten Erfahrung, dem Gefühl der Zugehörigkeit und dem schließlich ru- Abb. 2: Das Angebot von Bewegung und Spiel ist auch für Eltern attraktiv. [ 123 ] Buchmann Brander • Psychomotoriktherapie mit Eltern 3| 2018 unabdingbar ist. Vertrauen ist jedoch auch die Voraussetzung dafür, sich so zu zeigen wie man sich fühlt und was einem wichtig ist. Nur wenn der Mensch in seinen Sinn- und Bedeutungszuschreibungen wie seinen emotionalen und affektiven Beteiligungen transparenter wird, wenn wir einen möglichst umfassenden Anteil seiner Ganzheitlichkeit erkennen, kann eine nachhaltige, weil individuelle Entwicklungsförderung gelingen« (Blos 2011, 293). Beim Erstkontakt mit einer Familie mit komplexen Schwierigkeiten muss nicht selten zuerst ein gemeinsames Spiel entwickelt werden. Valentin kommt zur Abklärung mit seinen Eltern. Die Jacke, die Kapuze schützend über dem Kopf, will er nicht ausziehen. Er setzt sich in eine Ecke auf den Boden und beginnt mit dem Oberkörper zu schaukeln. Die Eltern, beide Akademiker, setzen sich an den Tisch. Valentin ist 8,4 Jahre alt und besucht zu diesem Zeitpunkt die zweite Klasse. Ich stelle ihm zur Wahl, ob er ein Würfelspiel am Tisch oder ein Ballspiel im Raum machen möchte. Er will mit dem Ball spielen. So stellen wir uns zu viert in den Kreis und werfen uns den Ball abwechslungsweise zu. In der ersten Runde, Valentin soll den Ball seinem Vater zuwerfen, schießt er diesen in die hinterste Ecke im Raum. Der Vater reagiert reflexartig und will den Ball in der Ecke holen. Ich stoppe den Vater, halte für einen kurzen Moment seinen Arm und fordere Valentin auf, selber den Ball zu holen und ihn ein zweites Mal dem Vater gezielt zuzuschießen. Valentin verschießt den Ball wieder, sein Vater bleibt stehen, und erneut muss Valentin den Ball holen gehen. Dann stelle ich die Aufgabe, dass der Ball immer in derselben Reihenfolge von einer Person zur anderen gespielt werden soll: von mir zum Kind, dann zum Vater, zur Mutter und schließlich wieder zu mir zurück. Dieser Kreislauf soll zehnmal gelingen, ohne dass der Ball dazwischen auf den Boden fällt. Ich stelle in Aussicht, dass wir dafür wahrscheinlich zahlreiche Versuche benötigen würden. Tatsächlich schaffen wir es beim fünften Versuch. Gemeinsam haben wir das Ziel erreicht und auch Valentin »besteht«, auch er ist ein Teil des gemeinsamen Erfolges. Es entsteht eine zentrierte, ruhige, fast meditative Stimmung. Dieser geteilten Erfahrung, dem Gefühl der Zugehörigkeit und dem schließlich ruhigen, unauffälligen Spielverlauf schreibe ich es zu, dass anschließend ein offenes Gespräch geführt werden kann. Dass das Spiel funktioniert, schafft zusätzlich Sicherheit. Die Eltern formulieren ihre konkreten Schwierigkeiten und Sorgen und wir planen das weitere Vorgehen. In relativ kurzer Zeit ist eine Atmosphäre des Vertrauens entstanden. Zugehörigkeit kann auch in einem erweiterten Rahmen entstehen. Wenn Eltern aktiv in die Psychomotoriktherapie einbezogen werden, teilen sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen auch mit Freunden oder Bekannten. Dass die Eltern in der Psychomotorikherapiestunde willkommen und eingebunden sind, spricht sich herum, in der Schule, auf dem Spielplatz und gar auf dem Arbeitsamt, wie mir letzthin ein Vater berichtet hat. Offensichtlich macht ihm das Mut und er lässt sich in der folgenden Stunde mit seiner Tochter besonders intensiv ein. Die Tochter profitiert davon, dass ihr Vater motiviert die Stunde mit ihr besucht, im Wissen, dass sein Mittun nichts Spezielles ist, dass er nicht dabei ist, weil vielleicht die familiären Probleme aktuell akut sind, sondern weil es einfach dazugehört, dass die Eltern hin und wieder in der Therapie mit dabei sind. Auf Augenhöhe mit dem Vater und der Mutter Obwohl in der Schweiz die Psychomotoriktherapie ein Beruf ist, gibt es auch hier verschiedene Konzepte. Dies rührt unter anderem daher, dass die beiden aktuellen Ausbildungsorte in Genf und Zürich keine identische Ausrichtung haben. Zürich, als interkantonale Hochschule für Heilpädagogik, ist eindeutig der Schule zugeordnet und Genf ist einer höheren sozialen Fachschule (Haute Ecole Spécialisée de Suisse occidentale) angehörig. In der Romandie, dem französischen Teil der Schweiz, bedient die Psychomotorik ein breiteres Spektrum. Es gibt mehrere KollegIn- Abb. 2: Das Angebot von Bewegung und Spiel ist auch für Eltern attraktiv. Dass Eltern bei der Therapie willkommen sind, spricht sich herum. [ 124 ] 3| 2018 Forum Psychomotorik nen, welche privat oder in Kliniken mit Erwachsenen arbeiten oder sich im Frühbereich, innerhalb der Kitas, engagieren. Einig sind wir uns dahingehend, dass wir uns über die Bewegung und den Körper um die Ressourcen unserer Klientel kümmern. »Ressourcenorientierte psychomotorische Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Stärken der Person (personale Ressourcen) als auch ihre sozialen Ressourcen (Familie, Netzwerke etc.) im Mittelpunkt stehen. Statt sich auf die Defizite zu konzentrieren, zielt sie darauf ab, Menschen zu ermöglichen, ihre Ressourcen zu entdecken, zu aktivieren oder neue zu schaffen, um sie für Entwicklungsprozesse zu nutzen. Dabei bieten die Psychomotorik und die dort gestalteten Beziehungen zusätzliche Ressourcen, die ebenfalls von den Teilnehmenden aktiv genutzt werden können« (Kuhlenkamp 2017, 144). Wenn wir nun durch den Einbezug der Eltern in das Bewegungsspiel in der Therapie erreichen, dass diese eine Vorstellung erhalten, welche Entwicklungsprozesse über die Bewegung und das Spiel möglich sind und wie durch das konkrete Handeln, Explorieren und Ausprobieren die Beziehung (die Voraussetzung zum Lernen) gestärkt wird, haben wir einiges erreicht (Abb. 3). Im schulischen Kontext ist die Psychomotoriktherapie seit 2008, seit dem die NFA (Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen) in Kraft ist, als heilpädagogischer Beruf den Schulischen Diensten zugehörig. In diesem Setting braucht es auch Mut und Durchsetzungskraft für die Arbeit mit Eltern. Mit einem ehrlichen, authentischen Austausch auf Augenhöhe mit Vater und Mutter können wir einen Beitrag dazu leisten, dass die Zusammenarbeit zwischen Eltern und der Schule funktioniert. Regelmäßig nehmen wir an Rundtischgesprächen, gemeinsam mit der Schule und den Eltern teil und übernehmen dabei nicht selten eine Vermittlerrolle. Gleichzeitig werden die Eltern durch ihr aktives Mitwirken und ihre direkte Teilnahme bei sichtbaren Entwicklungsschritten ihrer Kinder gestärkt, was wiederum den Kontakt zur Schule erleichtert. Im Sinne der neuen Ausrichtung der Beurteilungskultur im LP21, welche sich auf die Kompetenzen und deren Förderung fokussiert, sind wir eine wichtige Stütze auch für das Schulsystem. Literatur Blos, K. (2011): Bewegungsverstehen. Springer, Wiesbaden Blos, K., Bernauer, S., Dahinden, R., Haberthür, R., Kolly, L., Lang, S., Linder, K., Niederöst, M., Portmann, H., Thrier, L. (2017): Lehrplan 21. Ausgewählte Bezugspunkte für die Psychomotoriktherapie (PMT). Eine Orientierungshilfe für lehrplankompatible Inhalte psychomotorischer Angebote. Strategiegruppe der PMT im Kanton Luzern. In: https: / / www.psychomotorik-schweiz. ch/ verband/ sektionen/ luzern/ , 17.10.2016 Fischer, K. (2009): Einführung in die Psychomotorik. 3.Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Kuhlenkamp, S. (2017): Lehrbuch Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München / Basel Abb. 3: Über das konkrete Handeln wird die Beziehung gestärkt. Die Autorin Theresia Buchmann Psychomotoriktherapeutin und Systemberaterin in Sarnen / Obwalden / Schweiz Initiantin von KINDER STARK MACHEN (www.kinderstark machen.ch) Anschrift Theresia Buchmann Psychomotoriktherapeutin Schulpsychologischer Dienst Brünigstrasse 178 CH-6060 Sarnen theresia.buchmann@ow.ch