motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2018.art22d
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Pilgern mit psychiatrischen PatientInnen
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2018
Sina Allkemper
Beate Brieseck
Peter W. Nyhuis
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Konzeption und Durchführung einer therapeutischen Wandergruppe. Nach der Darstellung der Aufgaben und Tätigkeiten dieser Gruppe werden therapeutische Wirkungen beleuchtet. Abschließend wird das Konzept auf eine Verortung in der motologischen Ansatzlandschaft untersucht und ein Bezug zur Diskussion über Trends und Megatrends in Psychomotorik und Motologie hergestellt.
7_041_2018_3_0005
Zusammenfassung / Abstract Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Konzeption und Durchführung einer therapeutischen Wandergruppe. Nach der Darstellung der Aufgaben und Tätigkeiten dieser Gruppe werden therapeutische Wirkungen beleuchtet. Abschließend wird das Konzept auf eine Verortung in der motologischen Ansatzlandschaft untersucht und ein Bezug zur Diskussion über Trends und Megatrends in Psychomotorik und Motologie hergestellt. Schlüsselbegriffe: Gesundheitsförderung, therapeutisches Wandern, Trends, Salutogenese, Jakobuswanderung, Pilgern, Psychiatrie Pilgrimage with psychiatric patients. The Jakobus hiking group - a psychomotor concept? This article discusses the concept and implementation of a therapeutic hiking group. After a short introduction in to the group, its activities and therapeutic effects, we will refer to its relevance for psychomotricity and to which approach it belongs. Concluding a discussion about the therapeutic concept and its relation to modern social changes and trends will be presented. Key words: health promotion, therapeutic hiking, trends, salutogenesis, pilgrimage, psychiatry [ 125 ] motorik, 41. Jg., 125-130, DOI 10.2378 / mot2018.art22d © Ernst Reinhardt Verlag 3| 2018 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Pilgern mit psychiatrischen PatientInnen Die Jakobusgruppe - ein motologisches Konzept? Sina Allkemper, Beate Brieseck, Peter W. Nyhuis Im Rahmen eines Visitengesprächs 1995 in unserer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Herne entstand die Idee, sich auf den Weg zu machen. Prägend ist hier das therapeutische Konzept der Klinik: Das Herner Modell einer Psychiatrie mit offenen Türen beruft sich unter anderem auf Konzepte der Gesundheitsförderung (Nyhuis 2013; Krisor 2005). Das St. Marien Hospital Eickel leistet seit Jahrzehnten akutpsychiatrische Pflichtversorgung für die Stadt Herne mit einem strikt offen geführten Behandlungskonzept, das auf »dem Verzicht einer Aufnahmestation, konsequent offenen Türen und diagnostisch heterogenen Stationen sowie zusätzlich den milieubildenden Faktoren der Außen-, Subjekt- und Ressourcenorientierung« (Gather et al. 2017, 81) gründet. Mit viel Engagement wurde hier eine therapeutische Wandergruppe initiiert, die die Außenorientierung der Klinik wörtlich nahm: hinaus aus dem Krankenhaus, Therapie auf dem Weg und schließlich sogar im Ausland. Die Gruppe wanderte zunächst in der näheren Umgebung. Schon bald wurde das Interesse an dieser neuartigen Form der Therapie größer. Immer mehr PatientInnen blieben der Gruppe auch über die Entlassung hinaus treu. So traute man sich 1996 an die erste Jahresetappe heran: 200 km wurden auf dem Jakobsweg von Köln bis Trier erwandert, bis man schließlich 2010 am großen Ziel der Jakobspilger ankam. Aufgrund der großen Begeisterung wurde im Jahr 2011 eine zweite Auflage in Görlitz gestartet. Die Teilnahme an der Gruppe ist freiwillig und steht allen PatientInnen der Klinik frei. So besteht die Gruppe aus Menschen mit unterschiedlichen Diagnosen, Therapiezielen und Bedürfnis- [ 126 ] 3| 2018 Forum Psychomotorik sen, die sich in ihrem Interesse für Bewegung an der frischen Luft, dem Wandern und dieser Form der Therapie einen. Sie wird begleitet durch ein multiprofessionelles Team aus einem Oberarzt, einem Psychologen und zwei Bewegungstherapeutinnen. Das Jahr lässt sich in drei Phasen einteilen: Bei Brieseck, Brand und Nyhuis (2013) findet sich eine ausführlichere Darstellung des Jahresverlaufs der Therapie, die »beispielhaft für eine offene, gemeindeorientierte, dem Patienten auf Augenhöhe begegnende Psychiatrie [steht], die wie kaum eine Behandlungsform mehrere therapeutische Ansätze umfasst und den Patienten damit in vielerlei Hinsicht gerechter wird als manche störungsspezifische Therapie« (Brieseck et al. 2013, 5). Die Wirkfaktoren werden im Folgenden betrachtet. Therapeutische Wirkungen »Schon die vorbereitenden Wanderungen haben mir gut getan. Ich habe gelernt, meine eigenen Grenzen einzuschätzen, zu diesen zu stehen und dann auch offen zu sagen, wenn mir etwas zu viel wird. Für mich ist das Pilgern eine neue Herausforderung und ein rundum positives Erlebnis. Durch die Krankheit habe ich so lange gar nichts Schönes mehr wahrgenommen. In der Gruppe und in der Natur gelingt es mir, jeden Tag zu genießen.« So zitiert Lübbers (2017, 42) die Erfahrung einer Pilgerin in einem Bericht, der ein lebendiges Bild der Eindrücke und Erfahrungen zeichnet. Die in wiederkehrenden Gesprächen mit den TeilnehmerInnen der Gruppe herausgearbeiteten Wirkfaktoren werden in Tabelle 1 dargestellt. Brieseck (2006) befasst sich mit der Erforschung salutogenetischer Faktoren. Sie kommt zu der Erkenntnis: »das Jakobuswegprojekt leistet bewegungsorientierte Gesundheitsförderung für psychisch kranke Menschen in unterschiedlichen Stadien der Erkrankung« (Brieseck 2006, 359). Sie zeigt, dass »Widerstandsressourcen auf allen Ebenen des Kohärenzgefühls erworben werden können und dass die Zuversicht in Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit von Anforderungen steigt« (Brieseck 2006, 323). Neben weiteren Fähigkeiten wird das Copingverhalten insbesondere in unvorhersehbaren Situationen gestärkt (Brieseck 2006, 328). Die TeilnehmerInnen erfahren eine größere Flexibilität im Umgang mit schwierigen Situationen ebenso wie vermehrte Wahrnehmung eigener (Widerstands-)Ressourcen und die Bereitschaft, sich mit Spannungszuständen auseinanderzusetzen. »Ein therapeutischer Effekt […] ist die bei allen Personen festgestellte erhöhte Motivation zum Engagement und die Zustimmung, dass Anforderungen eher als Herausforderungen denn als Belastungen wahrgenommen werden« (Brieseck 2006, 331). Die Integration des therapeutischen Teams in die Gruppe wird als gewinnbringend bewertet, wobei »trotz des gelösteren Miteinanders die therapeutische Distanz nicht verletzt« (Brieseck 2006, 352) wird. Die Anwesenheit der Profis in Krisen und die Gleichberechtigung bzw. Zurückhaltung in alltäglichen Situationen wird wertgeschätzt. In der Vorbereitungsphase werden regelmäßige Trainingswanderungen durchgeführt. Die Kartengruppe befasst sich mit Kartenmaterial und Wanderführern, Tages- und Etappenziele werden festgelegt, Hotels reserviert usw. Durch Gestaltung und Teilnahme an Vorträgen, gemeinsamen Unternehmungen und das Engagement in den zweiwöchigen Gruppentreffen bringen sich die PilgerInnen ein. Mit einer Gruppe von etwa 14 bis 16 PilgerInnen wird die Jahresetappe bestritten. Die Unterbringung erfolgt in zwei Hotels, die Tagesetappen werden mit den Fahrzeugen angefahren. Unterwegs trifft die Gruppe regelmäßig das Begleitfahrzeug, so dass die Gruppe gemeinsam das Tagesziel erreicht und bei Bedarf Pausen eingelegt werden können. Der Tag wird mit einer abendlichen Reflexionsrunde abgeschlossen. In der Nachbereitung geht es darum, die Erfahrungen und Expertise in der Durchführung solch einer Wanderung zu teilen. Das Jahr endet mit dem Weihnachtsessen, bei dem Spezialitäten der durchwanderten Region gekocht werden. Wirkfaktor Inhaltliche Bestimmung Wandern und Bewegung mehr Zutrauen in die eigene (körperliche) Belastbarkeit, Kennenlernen, Einhalten und gelegentliches Erweitern der eigenen Grenzen, Spannungsregulation durch Bewegung, verbesserte Körperwahrnehmung, gesteigertes körperliches Wohlbefinden, (wieder) ein Ziel vor Augen haben Gruppe und soziale Eingebundenheit Stärkung und Training emotionaler und sozialer Kompetenzen, Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls, Erleben von Mitspracherecht und Akzeptanz, Aufbau sozialer Kontakte, Strukturierung durch regelmäßige Termine Eingebundensein in Organisation der Gruppe Verantwortungsübernahme, Vertrauen in eigene Ressourcen (wieder-)entdecken, Anerkennung, Zugewinn an Planungs- und Organisationsfähigkeit, Gleichberechtigung Therapeutische Haltung subjekt- und ressourcenorientierte Haltung, Wertschätzung, Begegnung auf Augenhöhe, Eigenverantwortung und -initiative des Patienten, Förderung der Selbstfürsorge, Einbringen der individuellen Fähigkeiten, keine Machtstrukturen (Brieseck 2006, 323ff) Der historische Jakobsweg berühmtes Ziel motiviert, Erleben von Sinn, Rollenwechsel in der Selbstwahrnehmung: vom psychisch Erkrankten zum Pilgernden, Wiederentdecken von Glauben Tab. 1: Beobachtete und herausgearbeitete Wirkfaktoren der Jakobusgruppe [ 127 ] Allkemper, Brieseck, Nyhuis • Pilgern mit psychiatrischen PatientInnen 3| 2018 Therapeutische Wirkungen »Schon die vorbereitenden Wanderungen haben mir gut getan. Ich habe gelernt, meine eigenen Grenzen einzuschätzen, zu diesen zu stehen und dann auch offen zu sagen, wenn mir etwas zu viel wird. Für mich ist das Pilgern eine neue Herausforderung und ein rundum positives Erlebnis. Durch die Krankheit habe ich so lange gar nichts Schönes mehr wahrgenommen. In der Gruppe und in der Natur gelingt es mir, jeden Tag zu genießen.« So zitiert Lübbers (2017, 42) die Erfahrung einer Pilgerin in einem Bericht, der ein lebendiges Bild der Eindrücke und Erfahrungen zeichnet. Die in wiederkehrenden Gesprächen mit den TeilnehmerInnen der Gruppe herausgearbeiteten Wirkfaktoren werden in Tabelle 1 dargestellt. Brieseck (2006) befasst sich mit der Erforschung salutogenetischer Faktoren. Sie kommt zu der Erkenntnis: »das Jakobuswegprojekt leistet bewegungsorientierte Gesundheitsförderung für psychisch kranke Menschen in unterschiedlichen Stadien der Erkrankung« (Brieseck 2006, 359). Sie zeigt, dass »Widerstandsressourcen auf allen Ebenen des Kohärenzgefühls erworben werden können und dass die Zuversicht in Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit von Anforderungen steigt« (Brieseck 2006, 323). Neben weiteren Fähigkeiten wird das Copingverhalten insbesondere in unvorhersehbaren Situationen gestärkt (Brieseck 2006, 328). Die TeilnehmerInnen erfahren eine größere Flexibilität im Umgang mit schwierigen Situationen ebenso wie vermehrte Wahrnehmung eigener (Widerstands-)Ressourcen und die Bereitschaft, sich mit Spannungszuständen auseinanderzusetzen. »Ein therapeutischer Effekt […] ist die bei allen Personen festgestellte erhöhte Motivation zum Engagement und die Zustimmung, dass Anforderungen eher als Herausforderungen denn als Belastungen wahrgenommen werden« (Brieseck 2006, 331). Die Integration des therapeutischen Teams in die Gruppe wird als gewinnbringend bewertet, wobei »trotz des gelösteren Miteinanders die therapeutische Distanz nicht verletzt« (Brieseck 2006, 352) wird. Die Anwesenheit der Profis in Krisen und die Gleichberechtigung bzw. Zurückhaltung in alltäglichen Situationen wird wertgeschätzt. Wirkfaktor Inhaltliche Bestimmung Wandern und Bewegung mehr Zutrauen in die eigene (körperliche) Belastbarkeit, Kennenlernen, Einhalten und gelegentliches Erweitern der eigenen Grenzen, Spannungsregulation durch Bewegung, verbesserte Körperwahrnehmung, gesteigertes körperliches Wohlbefinden, (wieder) ein Ziel vor Augen haben Gruppe und soziale Eingebundenheit Stärkung und Training emotionaler und sozialer Kompetenzen, Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls, Erleben von Mitspracherecht und Akzeptanz, Aufbau sozialer Kontakte, Strukturierung durch regelmäßige Termine Eingebundensein in Organisation der Gruppe Verantwortungsübernahme, Vertrauen in eigene Ressourcen (wieder-)entdecken, Anerkennung, Zugewinn an Planungs- und Organisationsfähigkeit, Gleichberechtigung Therapeutische Haltung subjekt- und ressourcenorientierte Haltung, Wertschätzung, Begegnung auf Augenhöhe, Eigenverantwortung und -initiative des Patienten, Förderung der Selbstfürsorge, Einbringen der individuellen Fähigkeiten, keine Machtstrukturen (Brieseck 2006, 323ff) Der historische Jakobsweg berühmtes Ziel motiviert, Erleben von Sinn, Rollenwechsel in der Selbstwahrnehmung: vom psychisch Erkrankten zum Pilgernden, Wiederentdecken von Glauben Tab. 1: Beobachtete und herausgearbeitete Wirkfaktoren der Jakobusgruppe Auch der Jakobsweg als historisch, kulturell und religiös / spirituell bedeutsames Monument ist von großer Bedeutung. »Er weckt die Neugierde auf Erfahrungen über sich, auf neue Eindrücke, Informationen und auf mehr Verstehbarkeit von Informationen« (Brieseck 2006, 334) und lockt auch seit Jahren bewegungsabstinente Menschen. Die TeilnehmerInnen erleben sich als Pilgernde unter Pilgernden, weg vom Rollenbild des stigmatisierten Kranken. Bezugnehmend auf die Basisziele der Mototherapie nach Hölter (1993) folgert Brieseck: »Zusammenfassend belegen die Ergebnisse somit, dass auf der Jakobuswanderung bewegungstherapeutische Prozesse wirksam werden und Basisziele professioneller Bewegungstherapie umgesetzt werden« (Brieseck 2006, 350). Kann das Konzept der Jakobusgruppe demnach als motologisches Konzept angesehen werden und in welchem Paradigma wäre es zu verorten? Kaba-Schönstein (2017, o.S.) definiert Gesundheitsförderung als einen »Prozess, der Menschen befähigen soll, mehr Kontrolle über ihre Gesundheit zu erlangen und sie zu verbessern durch Beeinflussung der Determinanten für Gesundheit«. Sie befasst sich mit der grundlegenden Frage, »wie und wo Gesundheit hergestellt wird. Diese Perspektive führt zur Identifikation von Ressourcen und Potentialen und ermöglicht deren gezielte Stärkung« (Kaba-Schönstein 2017, o.S.). Im Sinne einer motologischen Gesundheitsförderung, die bei der Bewegung und Körper- / Leiblichkeit des Menschen ansetzt, wird das Thema der Balance herausgehoben: »Diese zu finden und zu halten und zwar in ganz verschiedenen Lebensbereichen, ist das Ziel. […] Die Balance betrifft nicht die klassische Domäne der Motologie allein, nämlich Bewegung, Körpergefühl und Entspannung. Die Balance betrifft alle wichtigen Lebensbereiche […]« (Seewald 2012, 57). Das Thema der Balance kann kaum deutlicher bearbeitet werden als auf der Jahresetappe: Pausen einlegen, auf die eigenen Bedürfnisse achten, das eigene Tempo finden. »Das Ziel dieser Ar- [ 128 ] 3| 2018 Forum Psychomotorik beit ist die Hinführung zur bzw. die Unterstützung der Selbstsorge« (Seewald 2012, 58). Auch leibliche Erfahrungen und die Anbahnung einer »reflexiven Leiblichkeit« im Sinne Seewalds (2007) werden im Wandern ermöglicht. Die neuartigen Erfahrungen des Pilgerns auf der Jahresetappe, aber auch die Begegnungen und Erfahrungen, die im Jahresverlauf stattfinden, ermöglichen eine reflexive Selbstbegegnung. Haas wirft ein Schlaglicht auf den Zusammenhang von Entwicklung und Gesundheit im Rahmen psychomotorischer Gesundheitsförderung. »Der sich bewegende Mensch entwickelt sich lebenslang und damit den Prozess seiner Gesundheit. Er gestaltet seine Entwicklung selbstorganisiert in gegenseitiger Einflussnahme von Mensch, Mitmensch, Kultur und Umwelt in vielschichtigen Kausalfeldern« (Haas 2007, 127). Ein solches Feld von selbstgesteuerter Betätigung bietet die Jakobusgruppe. Die Konzeption der therapeutischen Wandergruppe ermöglicht weiterhin stabilisierende und ressourcenaktivierende Erfahrungen im Bereich der menschlichen Grundbedürfnisse. »Die Bewegungstherapie hat somit die primäre Aufgabe, das Individuum in eine Form des leiblichen Dialogs zu bringen, der es dem Individuum in besonderer Weise ermöglicht, an die Stelle des bislang dominierenden misslingenden ein nunmehr gelingendes leibliches Wirken treten zu lassen, welches dann zur Befriedigung der Grundbedürfnisse führt« (Schley 2015, 149). Psychische Gesundheit ist an die zuverlässige Befriedigung dieser Bedürfnisse geknüpft, was die Befähigung des Menschen zur eigenständigen Bedürfnisbefriedigung zum vorherrschenden Therapieziel macht (Schley 2015, 146 ff ). Bezogen auf das Modell der Grundbedürfnisse nach Grawe (2004) sind diese Bindung, Selbstwertschutz / Selbstwerterhöhung, Orientierung und Kontrolle und Lustgewinn / Unlustvermeidung. In der Jakobusgruppe finden sich Anlässe zur Befriedigung dieser Bedürfnisse. Bindungserfahrungen können durch die Einbindung in eine über die Zeit recht konstante Gruppe, regelmäßige Termine und Treffen gesammelt werden. Der für die Gruppe gebackene Kuchen, die geleitete Trainingswanderung, die Identifikation als Pilgernder oder der Vortrag in der Volkshochschule sind Beispiele für die Möglichkeiten der selbstwertstärkenden Aktivitäten. Das Wandern bietet per se Erfahrungen im Bereich von Kontrolle und Orientierung. Die TeilnehmerInnen lernen, Wanderkarten zu lesen und Wege zu finden, was sich auf das Leben außerhalb der Jakobusgruppe wörtlich oder symbolisch übertragen lässt. Für viele TeilnehmerInnen bedeuten die Erfahrungen einen Wiedergewinn an Kontrolle verbunden mit der Gewissheit, sich im Leben zurechtzufinden. Durch vorrangig freudvolle Beschäftigungen und Tätigkeiten in der Gruppe, die die TeilnehmerInnen ihren Fähigkeiten und Interessen gemäß gestalten können, werden lustvolle Erfahrungen möglich. Wobei hier auch ein Prozess des Umdenkens eingeleitet wird. Denn es ist »zu beachten, dass der Eindruck von Lust oder Unlust nicht durch vermeintlich objektive Eigenschaften von Reizen entsteht, sondern Ergebnis von emotional-kognitiven Bewertungsprozessen ist« (Borg-Laufs 2014, 98). Zwischenfazit Seewald (2012, 57 f ) schlägt einen vierstufigen Prozess im Angebot motologischer Situationen in der Gesundheitsförderung vor: 1. das, was ist, 2. Veränderungswünsche, 3. Veränderungsstrategien erarbeiten und 4. Integration der Veränderungen. Diese Themen werden implizit durch die Erfahrungen und Begebenheiten unterwegs und in der Gruppe angesprochen. Wie bereits gezeigt wurde, ist das Thema der Balance unumgänglich, sodass durch die Jakobusgruppe Gesundheitsförderung im motologischen Sinne geleistet wird. Durch die Vielfältigkeit der in einer Gruppe anfallenden Aufgaben, Tätigkeiten und Rollen und der damit einhergehenden Entfaltungsmöglich- Der sich bewegende Mensch entwickelt sich lebenslang. [ 129 ] Allkemper, Brieseck, Nyhuis • Pilgern mit psychiatrischen PatientInnen 3| 2018 keit für vielerlei verschiedene Bedürfnisse bietet die Jakobusgruppe eine flexible, individuelle, subjektorientierte Form bewegungsorientierter Therapie. Die therapeutische Haltung ermöglicht dem Team gemeinsam mit jedem Einzelnen, den eigenen Platz in der Gruppe mit den für ihn oder sie bedeutsamen Herausforderungen zu finden. Damit wird eine Therapie auf Augenhöhe möglich, die die (eigenverantwortliche) Befriedigung der Grundbedürfnisse der TeilnehmerInnen ermöglicht. Somit kann die Jakobusgruppe als motologisches Konzept im Schnittbereich von Therapie und Gesundheitsförderung angesiedelt werden. Die Jakobusgruppe im Kontext gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse Abschließend soll das Konzept der Jakobusgruppe skizzenartig in gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse und Trends eingebettet werden. Trends bezeichnen globale, längerfristige gesellschaftliche Entwicklungsrichtungen, die das menschliche Individuum wie auch das Zusammenleben beeinflussen (Richter-Mackenstein 2017, 31). Richter-Mackenstein folgert in seinem Beitrag, in dem er sich mit dem Status-quo in Psychomotorik und Motologie befasst und darauf aufbauend Aufgaben und Herausforderungen herausarbeitet: »Am Ende steht in Zukunft die Selbstsorge und Selbstbemächtigung in diversifizierten Lebensumständen im Zentrum der lebenslangen Persönlichkeitsentwicklung« (Richter-Mackenstein 2017, 33). Das an Selbstsorge und Balance orientierte Konzept der Jakobusgruppe, das Ressourcen und Eigenverantwortung der Teilnehmenden betont und Bewegung als vorrangiges Mittel nutzt, erfährt einen Bedeutungsaufschwung vor diesem Hintergrund. »Körper, Bewegung und Leiblichkeit werden als zentrale Merkmale von Identität bzw. als menschliche Konstitutive mehr und mehr zusammengedacht werden müssen, und zwar besonders dann, wenn durch Instrumentalisierung von Körper und Virtualisierung von Identität Entwicklung, Bildung und Gesundheit gefährdet sind« (Richter-Mackenstein 2017, 33). Blos hinterfragt die Stärkung der Selbstsorge kritisch im Rahmen von »Reparations- und Integrationsvorstellungen« (Blos 2017, 39). »Psychomotorik und Motologie, befreit von der Aufgabe Kompensationsbestrebungen einzelner zu moderieren, können sich nunmehr der Unterstützung individueller Profilierung vieler widmen« (Blos 2017, 50). Die Jakobusgruppe verbindet die beiden Perspektiven: Die Teilnehmenden können Fähigkeiten der Alltagsbewältigung und Teilhabe (wieder-)erlangen, die nicht zuletzt auf die Gesundung ausgerichtet sind. Sie sind gleichzeitig aufgefordert, ihr persönliches Profil zu entwickeln und zu gestalten. Fazit Es wurde gezeigt, dass die Jakobusgruppe als gewinnbringendes Konzept im Bereich von Gesundheitsförderung und Therapie in der Motologie anzusehen ist. Darüber hinaus kann sie sich im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen positionieren und die TeilnehmerInnen befähigen, diese zu bewältigen. Ebenso ist diese Therapie in einer sich verändernden psychiatrischen Landschaft als konzeptioneller und klinikstruktureller Meilenstein zu sehen, der sein Schlaglicht für immer mehr Psychiatrien mit offenen Ansätzen weit in Richtung Begegnung auf Augenhöhe, Freiheit und Selbstbestimmung im klinischen Alltag vorauswirft. Literatur Blos, K. (2017): Zwischen Wertediskussion und Megatrends. Neue Perspektiven für Psychomotorik und Motologie? Eine Annäherung an ein Szenario innovativer Aktivitäten. In: Richter-Mackenstein, J., Blos, K. (Hrsg.): Megatrends und Werte. Zukunftsweisende Themen und Herausforderungen für Psychomotorik und Motologie. WVPM, Marburg, 39-53 Borg-Laufs, M. (2014): Psychische Grundbedürfnisse und psychomotorische Arbeit. In: Richter-Mackenstein, J. (Hrsg.): Aktuelle Entwicklungen und Verwicklungen in Psychomotorik und Motologie. WVPM, Marburg, 91-103 Brieseck, B. (2006): Der Jakobusweg als Therapie? unveröffentlichte Dissertation, Universität Dortmund Brieseck, B., Brand, M., Nyhuis, P. W. (2013): Auf dem Jakobusweg. Wandern als Therapie - die Jakobusgruppe St. Marien-Hospital Eickel stellt sich vor. Soziale Psychiatrie 139 (1), 4-7 [ 130 ] 3| 2018 Forum Psychomotorik Gather, J., Nyhuis, P. W., Juckel, G. (2017): Wie kann eine »offene Psychiatrie« gelingen? Konzeptionelle Überlegungen zur Türöffnung in der Akutpsychiatrie. Recht & Psychiatrie 35 (2), 80-85 Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen Haas, R. (2007): Psychomotorische Gesundheitsförderung - eine erste Standortbestimmung. motorik 30 (3), 124-128 Hölter, G. (1993): Selbstverständnis, Ziele und Inhalte der Mototherapie. In: Hölter, G. (Hrsg.): Mototherapie mit Erwachsenen. Sport, Spiel und Bewegung in Psychiatrie, Psychosomatik und Suchtbehandlung. Hofmann, Schorndorf, 12-33 Kaba-Schönstein, L. (2017): Gesundheitsförderung 1: Grundlagen. In: http: / / www.leitbegriffe.bzga.de/ alphabetisches-verzeichnis/ gesundheitsfoerderung- -i-definition-ziele-prinzipien-handlungsebenenund-strategien/ , 09.03.2017 Krisor, M. (2005): Aufgehoben in der Gemeinde. Entwicklung und Verankerung einer offenen Psychiatrie. Psychiatrie-Verlag, Bonn Lübbers, A. (2017): Jakobsweg: Sie sind dann mal weg. Pilgern als Therapie. Heilberufe / Das Pflegemagazin 69 (7-8), 42-44 Nyhuis, P. W. (2013): Das Konzept der »offenen Psychiatrie« am St. Marien-Hospital Eickel. In: LZG.NRW (Hrsg.): Der Mensch im Mittelpunkt. Fortschritte in der Psychiatrischen Versorgung. Dokumentation des Werkstattgesprächs am 19.04.2012. LZG.NRW, Bielefeld, 41-42 Richter-Mackenstein, J. (2017): Status-quo und Megatrends. Von Errungenschaften, zwingenden Notwendigkeiten und zukünftigen Herausforderungen für Psychomotorik und Motologie. In: Richter-Mackenstein, J., Blos, K. (Hrsg): Megatrends und Werte. Zukunftsweisende Themen und Herausforderungen für Psychomotorik und Motologie. WVPM, Marburg, 15-37 Schley, M. (2015): Bewegung und Therapie aus leibphänomenologischem und konsistenztheoretischem Blickwinkel. körper tanz bewegung 3 (4), 144-150, https: / / doi.org/ 10.2378/ ktb2015.art24d Seewald, J. (2012): Motologisch orientierte Gesundheitsförderung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Konsequenzen. motorik 35 (2), 54-60 Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München / Basel Die AutorInnen Sina Allkemper, Motologin M.A. Bewegungstherapeutin Dr. Beate Brieseck, Dipl. Pädagogin Leiterin der Abteilung für Ergo-, Kreativ- und physikalische Therapien Dr. med. Peter W. Nyhuis Chefarzt und Ärztlicher Direktor Anschrift St. Marien Hospital Eickel Marienstr. 2 D-44651 Herne sina.allkemper@elisabethgruppe.de
