eJournals motorik 41/4

motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2018.art25d
101
2018
414

Hand und Kopf: Die Bedeutung von Körperlichkeit und Handeln für Schriftspracherwerb und Lesekompetenz

101
2018
Klaus Fischer
Der Transitionsprozess in die Schule stellt Kinder vor neue Herausforderungen, für die sie zuvor die Entwicklungsvoraussetzungen und spezifischen Kompetenzen erworben haben müssen. Körperlichkeit und sensomotorisches Handeln gelten als Basiskompetenzen, deren konstitutive Elemente der zeitlichen und räumlichen Kontrollleistungen den Erwerb der Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) grundlegen. Der Beitrag begründet die Zusammenhänge aus der Perspektive der Embodimentforschung.
7_041_2018_4_0003
Zusammenfassung / Abstract Der Transitionsprozess in die Schule stellt Kinder vor neue Herausforderungen, für die sie zuvor die Entwicklungsvoraussetzungen und spezifischen Kompetenzen erworben haben müssen. Körperlichkeit und sensomotorisches Handeln gelten als Basiskompetenzen, deren konstitutive Elemente der zeitlichen und räumlichen Kontrollleistungen den Erwerb der Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) grundlegen. Der Beitrag begründet die Zusammenhänge aus der Perspektive der Embodimentforschung. Schlüsselbegriffe: Embodiment, Körperlichkeit, Kognition, Händigkeit, Wahrnehmungsraum, Schriftspracherwerb, Lesekompetenz Head and hand: Embodiment and manual control as foundation for literacy Transition to school presents new challenges for children starting school. Learning to write and to read requires competences children need to have established before. Sensory-motor-integration, manual dexterity and lateralization of functions seem to be basic developmental steps preceding more complex achievements as writing and reading. This article supports an embodiment based perspective of literacy. Key words: embodiment, cognition, laterality, sensory experience, literacy, reading skills [ TITELRUBRIK ] [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Hand und Kopf: Die Bedeutung von Körperlichkeit und Handeln für Schriftspracherwerb und Lesekompetenz Klaus Fischer Wenn Kinder mit etwa sechs Jahren in die Schule eintreten, bringen sie vielseitige Lebenserfahrungen mit, die sie in vielen Handlungssituationen erworben haben. Nun werden sie die Erfahrung machen, dass die Schule andersartige Anforderungen an sie stellt. Sie erleben, dass das gewohnte, freizügige Sprechen in Bahnen gelenkt wird, Form erhält und mit Hilfe eines komplizierten Zeichensystems (dem Alphabet) eine von der aktuellen Sprechsituation loslösbare Umwandlung der Kommunikation erfährt. Genau dieses ist die Hauptfunktion der Schrift, des Schreibens. Die Hauptproblematik für Kinder beim Erlernen der Schrift liegt in der Umsetzung von gehörter Sprache in grafische Zeichen (Roebers et al. 2014; Schneider 2017). Da die Sprache in der Entwicklung des Kindes bereits die abstrahierte Form konkret erfahrener (Handlungs-) Ereignisse darstellt, könnte man bei der Schrift von einer doppelt abstrahierten Kommunikationsform sprechen. Der Schreiberwerbsprozess stellt zusammen mit dem Leselernprozess eine komplizierte Entwicklungsabfolge dar, die sehr stark auf kognitiven Prozessen beruht. Bei genauer Analyse lässt sich die Schreibhandlung als eine komplexe psychomotorische Leistung auflösen, die an mehrdimensionale Entwicklungsvoraussetzungen gebunden ist (Schilling 2000; 2005). Dabei spielen Optimierungsprozesse der feinmotorischen Bewegungsabläufe, die die Geschwindigkeit und Ausdauer des Schreibens zum Ziel haben, eine ebenso bedeutsame Rolle, wie Aspekte der Raumgestaltung und Figur-Grund- Wahrnehmung, der Formgebung, der Einhaltung der Schreibrichtung sowie der bedeutungsgetreuen Sprachabbildung (Fischer 2006, 95). 4| 2018 motorik, 41. Jg., 164-170, DOI 10.2378 / mot2018.art25d © Ernst Reinhardt Verlag [ 164 ] [ 164 ] [ 165 ] Fischer • Hand und Kopf 4| 2018 Diese Formulierungen schildern eindrucksvoll, um was es geht: Im Vordergrund stehen kognitive und körperbezogene Entwicklungsprozesse in der frühen und mittleren Kindheit, die den Transitionsprozess vom Kindergarten in die Grundschule grundlegen und den Erfolg des Erwerbs der Kulturtechniken ermöglichen (Griebel/ Niesel 2011; Schneider 2017). Dabei differenziert die Forschung schulnahe Vorläuferkompetenzen zum Erwerb der Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) und Basiskompetenzen, die sich vorwiegend an den Bereichen kindlicher Entwicklung (Kognition, Emotionalität, Sozialität, Motorik und lernmethodische Kompetenzen) orientieren. So konnte Bahr (2017) die tragende Bedeutung von Bewegung für den Übergangsprozess aller Dimensionen herausarbeiten. »Ein bewegter Übergang« wird hier zum Unterstützungskonzept für kindliche Übergangsbewältigung und pädagogische Übergangsgestaltung. Inhaltlich benennt das Konzept die enge Zusammenarbeit der Bildungsverantwortlichen auf der Basis der Kenntnis der jeweiligen professionellen Kompetenzen (Fachkräfte im Kindergarten und GrundschullehrerInnen) und der Bildungs(lehr)pläne und wesentlich, das methodisch bedeutsame Prinzip der handlungsbezogenen Eigenaktivität in der Erkenntnisgewinnung durch das Kind. Dieses gilt vor allem für eine Teilgruppe von ca. 30 % Risikokindern, die sowohl vor als auch nach dem Übergang Probleme durch geringe Aktivität, emotionale Reaktionen und weniger gute soziale Beziehungen ausweisen (Beelmann 2013; Griebel/ Niesel 2011 zit. n. Bahr 2017, 33). In diesem Beitrag vertrete ich eine körper- und aktivitätsbezogene Entwicklungsförderung von Kindern und akzentuiere die Bedeutung von Hand und Handeln für Kopf und Herz, um ein beliebtes Thema von Pestalozzi für unseren Kontext umzudrehen. Diese Zusammenhänge werden gegenwärtig interdisziplinär unter der Perspektive der Embodimentforschung auch im Kontext von Lesen, Schreiben und Rechnen diskutiert. Eine kleine Aufgabe soll die Anforderungsstrukturen für SchulanfängerInnen verdeutlichen. Beginnen wir bei uns »Könnern«, die wir bereits eine Lese- Rechtschreib-Kompetenz erworben haben. Lesen Sie den nachfolgenden Text am besten laut vor. Eine kleine Leseaufgabe: Können Sie lesen? Warum gelingt es, diese Passage problemlos zu lesen? Die Erklärung liegt im Text selbst. Aber das klappt eben nur, wenn man lesen kann. Und wie ist es mit LeseanfängerInnen? Diese werden an der Wortsinnerfassung scheitern, weil sie noch mühsam versuchen, Buchstaben- oder Silbenfolgen sukzessiv zu integrieren und die bekannte Lautfolge in der Buchstabenfolge wiederzufinden. Welche Entwicklungsschritte gehen diesem Könnensprozess voraus? Es sind eine Reihe von wesentlichen Meilensteinen zu realisieren, bevor das Kind die Komplexität der Aufgabenstellung bewältigen kann: ■ Die Handlungsmotorik selbst, die von der allgemeinen Körperkontrolle zu einer immer differenzierteren Beherrschung und Koordination aller Körperteile führt; ■ Damit verbunden ist auch die Links-Rechts- Differenzierung in der Körperkontrolle und deren zerebraler Organisation (Hemisphärenspezialisierung); ■ Die nonverbale und sprachliche Kompetenz zur Kommunikation; ■ Die Eroberung des Lebensraumes (Fortbewegung) und der Objektkontrolle; diese geht einher mit einer kognitiven Organisation des Wahrnehmungs- und Handlungsraumes. Durch das aktive Aneignen und Verstehen der Raumdimensionen oben - unten, vorn - hinten und links - rechts differenziert das Kind sein Körperschema und erwirbt eine Raumvorstellung. Afugrnud enier Stidue an der elingshcen Cmabrdige Unvirestiät ist es eagl, in wlehcer Rienhnelfoge die Bcuhtsbaen in eniem Wort sethen, das enizg wcihitge dbaei ist, dsas der estre und lzete Bcuhtsbae am rcihgiten Paltz snid. Der Rset knan ttolaer Bölsdinn sien, und man knan es torztedm onhe Porbelme lseen. Das ghet dseahlb, wiel das mneschilche Geihrn nciht jdeen Bchustbaen liset sodnern das Wrot als Gnaezs. [ 166 ] 4| 2018 Forum Psychomotorik Erst dann ist es in der Lage, zu erkennen, dass der Strich an der bauchigen Form zum einen oben oder unten und zum anderen links oder rechts angefügt ist, eine Voraussetzung dafür, die verschiedenen Buchstaben d und b bzw. q und p zu differenzieren und zu erkennen, was die 3 vom Ԑ unterscheidet (Abb. 1) (Seifert 1996). Mit der Fähigkeit, räumliche Strukturen zu unterscheiden und Reihenfolgen in der Repräsentation der Lautbzw. Buchstabenfolge zu erkennen und einzuhalten (Abb. 2), sind wichtige grafomotorische und kognitive Voraussetzungen gegeben. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden näher erläutert und in die Embodimentdiskussion eingeordnet werden. Embodiment und die körperliche Basis für Entwicklung und Lernen In den Kognitions- und Entwicklungswissenschaften ist das Thema der Körperlichkeit zur zentralen Fragestellung avanciert (Marshall 2016; Storch / Tschacher 2016). Die Forschenden interessiert die Frage, welche Rolle dem Körper als Medium der Erkenntnisgewinnung zukommt. Embodimentforschung ist empirisch ausgerichtet. Schwerpunkte lagen am Anfang in der Kindheitsforschung und gingen von der Grundannahme aus, dass kognitive Prozesse sich in enger Verbindung mit den kindlichen Erfahrungen in der Handlungswelt konstituieren. Es konnte in zahlreichen Untersuchungen bestätigt werden, dass die Feinabstimmung zwischen Wahrnehmung und Handlung an die Entwicklung des motorischen Systems gebunden ist (Corbetta et al. 2000) und die fortschreitende Handlungskompetenz »zum Motor für eine Neuorganisation in verschiedenen Entwicklungsbereichen wird« (Schwarzer / Degé 2014, 116). Die aktuelle Embodimentforschung sucht systematisch nach Wechselwirkungen zwischen Handlung und Körperlichkeit, Kognition und Emotion (zur Vertiefung Fischer 2018). War die klassische Kognitionstheorie lange Zeit davon ausgegangen, dass die Regelung kognitiver Prozesse abstrakt und unabhängig von sensomotorischen Prozessen abläuft, ändert sich diese Sicht gegenwärtig grundlegend. Stattdessen wird in kognitions- und neurowissenschaftlichen Entwicklungsforschungen mithilfe bildgebender Verfahren die körperliche Basis von Kognitionen infolge handlungsbezogener Person-Umwelt-Interaktionen konzeptionalisiert (Engel et al. 2013, 203; Ionescu / Vasc 2014, 275 f; Kiefer / Trumpp 2012, 15 f; Mangen 2016, 462). Nach derzeitiger Vorstellung erfolgt die Entwicklung des Kleinkindes in Handlungssystemen (action systems) (von Hofsten 2009), die Wahrnehmung und Handlung miteinander verbinden - nach Meinung einiger Forschenden auch gemeinsam repräsentiert sind (Kunde 2017, 831). Zielgerichtetes Handeln erfolgt danach durch »sequenzielles Explorationsverhalten« (Schwarzer / Degé 2014, 112) und den ständigen Abgleich zwischen Selbst- und Umweltwahrnehmung. Entwicklung ist dann das Ergebnis von Feedback- Schleifen zwischen Handlung und Wahrnehmung, die neben räumlichen und zeitlichen Komponenten auch affektive und soziale (Selbst-) Bewertungen einbeziehen (Kunde 2017, 834). Hand und Händigkeit Mit der Embodimentforschung tritt die besondere Bedeutung der Handentwicklung des Kindes (erneut) ins Bewusstsein der Forschenden (Mangen 2016; Marshall 2016; Storch / Tschacher 2016). Unser Sein und unser Wissen basieren auf Interaktionen mit anderen und auf dem Umgang mit den Dingen (Spitzer 2010, 135) und so wird die enaktive Hand (Gallaghter 2013) zum Mittel der Entwicklung des Selbst und zum Werkzeug des Geistes. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen der aktiv erkundenden Hand und der Bewusstwerdung der Handlungs- Abb. 1: Wodurch unterscheiden sich diese Zeichen? Abb. 2: Leseproben [ 167 ] Fischer • Hand und Kopf 4| 2018 möglichkeiten. Nach Gallaghter (2013, 229) definieren die Hände den manipulativen Raum um uns und konstituieren so unser Körperschema und die sinntragenden Interaktionen mit anderen. Die besondere Bedeutung der Handtätigkeit für die Erkenntnisentwicklung liegt in der Ausgestaltung der taktil-kinästhetischen Sinnesmodalitäten als Prozess des Weltbegreifens mit diesen Eigenschaften (Liechti 2000, 239 ff ): ■ Anfassen erzeugt einen unmittelbaren Wirklichkeitsbezug; ■ Taktilität führt zur Verschmelzung von phänomenalem Objekt und der handelnden Person; ■ Es gibt eine besondere Konzentration und Achtsamkeit im Handlungsakt; ■ Der taktile Sinn erfordert die schöpferische Ausgestaltung der Handbewegung unter authentischen Bedingungen; ■ Die Erkundungshandlung gestaltet eine personale Zeitstruktur (Eigenrhythmus) und Raumform. Händigkeit im Kontext grafomotorischer Überlegungen war in der Psychomotorik schon immer ein wichtiges Thema gewesen (Themenschwerpunkthefte der »motorik« 3 / 1992; 3 / 2006). Dabei verstehen wir unter Händigkeit die funktionelle manuelle Dominanz, die sich aus dem Gebrauch, also aus der konkreten Tätigkeit des Menschen, dem Handeln ergibt. Die Forschung ist sich darüber einig, dass sich die Präferenz der geschickten Hand beim Kind schon relativ früh zu Beginn des zweiten Lebensjahres mit einer ausgeprägten Präferenz der rechten Hand gegenüber Links- oder BeidhänderInnen zeigt (Krombholz 2018). Mit den Ergebnissen der Embodimentforschung gilt eine frühe Dominanzbildung einer Hand als Meilenstein motorischer Entwicklung und als Prädiktor für frühe sprachliche Entwicklung (Atun-Einy et al. 2014; Babik et al. 2014; Hodgson et al. 2016). Die Neurophysiologie betrachtet Geschicklichkeit »als Zusammenspiel räumlicher und zeitlicher Variablen in Relation zu einer bestimmten Aufgabenstellung Tab. 1: Zerebrale Lateralisation von Fähigkeiten in Anlehnung an Jäncke (2012, 702) und Porac (2016, 51 ff; 107) Linke Hemisphäre Allgemeine Funktion Rechte Hemisphäre Wörter, Buchstaben Lokale Information ▸Detailanalyse visueller Bildinformation Sehen geometrische Muster, Gesichter, Farben emotionaler Ausdruck ▸globale räumliche Information Sprachlaute Kurz aufeinanderfolgende Geräusche Hören nichtsprachliche Laute Umgebungsgeräusche Musik Tasten Taktiles Erkennen komplexer Muster (Blindenschrift: Braille) Komplexe Bewegungen Feinmotorik, Zielmotorik Bewegung Haltung, Stand, Bewegung im Raum Sprechen, Lesen Schreiben, Arithmetik Sprachliche Fähigkeiten Prosodie emotionaler Inhalte ▸Verarbeitung sequentieller (zeitlicher) Informationen Aufmerksamkeit als exekutive Funktion, Verbales Arbeitsgedächtnis Übergeordnete Funktionen Verarbeitung von Mustern, Aufmerksamkeit, Alertness (übergeordnet), Selbstkontrolle [ 168 ] 4| 2018 Forum Psychomotorik […], die das Gehirn in Abhängigkeit von der dabei erforderlichen Feinauflösung unterschiedlich lateralisiert« (Pritzel 2012, 706). In diesem Aufgabenfeld ist die körperliche Aktivität entwicklungsleitend. Die Entwicklung eines stabilen Fortbewegungssystems (Haltungskontrolle, Krabbeln, Aufrichten und freies Laufen) einerseits sowie koordinierte Handlungskontrolle zwischen den Händen (Aktions- und Haltehand) andererseits sind Faktoren und Mediatoren einer Funktionsspezialisierung der beiden Hirnhemisphären (Tab. 1). Diese entwickeln sich im Sinne einer relativen Zuständigkeit gemeinsamer Anforderungsstrukturen bei komplexen Leistungen, wobei die linke Hemisphäre (bei RechtshänderInnen) sich eher auf zeitlich-verbale Steuerungsleistungen, die rechte Hemisphäre auf visuell-räumliche Zuständigkeiten in Wahrnehmung und Steuerung spezialisiert hat. Bringen wir in Erinnerung: Um die Leseproben aus den Abbildungen 1 und 2 richtig deuten zu können, sind Organisations- und Differenzierungsprozesse des menschlichen Gehirns notwendig, die den Anforderungsstrukturen beim Schreiben- und Lesenlernen entsprechen. Die Entzifferung aller Orthographien erfordert zwei fundamentale zerebrale Leistungen: Das Erkennen der Spezifika der Buchstabenform und die zeitliche Analyse der Zeichenfolge, die miteinander integriert werden müssen (Fischer 2006, 98). Eine solche Integrationsleistung ist an eine körperliche Grundlegung von Sprache und Schrift gebunden. Embodiment: Handeln - Sprechen - Schreiben Zahlreiche Studien legen nahe, dass intensive und variable motorische Erfahrungen im frühen Kindesalter langfristig die schulische Leistungsfähigkeit begünstigen. In einer Längsschnittstudie über drei Jahre mit ursprünglich 5-6jährigen Kindern konnten Roebers et al. (2014) die Faktoren Handgeschicklichkeit/ Auge-Hand-Koordination, nichtsprachliche Intelligenz und exekutive Funktionen als signifikant aussagekräftig für mathematischen Erfolg sowie Buchstabieren und Lesekompetenz in der Schule nachweisen. Sie bestätigen damit Ergebnisse von Bornstein et al. (2013) sowie Smith (2013), die die motorischen Erkundungskompetenzen in der frühen Kindheit als grundlegend für Sprachaneignung und schulische Kompetenzen ansehen (Wellsby / Pexman 2014, 3). Im Kontext von Embodiment interessiert die Forschenden zunehmend die Verbindung zur Entwicklung der Sprache. Der Ansatz kritisiert die klassische Vorstellung, dass Sprache Bedeutung übermittelt, indem Wörter / Morpheme in abstrakte und amodale Repräsentationen umgewandelt werden (Basalou 2008; Foroni / Semin 2009). Eine wachsende Zahl an Untersuchungen konnte die Aktivierung und Beteiligung des neuronalen motorischen Systems beim Erwerb des Sprachverständnisses nachweisen; entsprechend geht das Embodiment-Konzept davon aus, dass die »linguistische Bedeutung von Wörtern in Handlungen, dem Körper und […] der Sensorik verankert ist« (Rieger / Wenke 2017, 800). Die Fachdiskussion zum Schreiberwerb entzündet sich gegenwärtig an der Kontroverse, ob Schreiben manuell oder mit dem Tablet-PC erfolgen soll. Während VertreterInnen der neuen Technologie die intuitive Bedienung und die attraktive Programmgestaltung betonen und diese insbesondere für Personen mit schwach ausgeprägten sensomotorischen Fähigkeiten als Vorteil darstellen (z. B. Zheng et al. 2013) - leider ist das Gegenteil der Fall -, beklagen andere die katastrophalen Rückgänge der sensomotorischen Kompetenzen deutscher SchulanfängerInnen aufgrund mangelnder spezifischer Vorerfahrungen oder gar den Tod der Handschrift (Deutscher Lehrerverband 2015; Spitzer 2015; Sülzenbrück et al. 2011; zusammengefasst in Kiefer et al. 2015, 1 f ). Tatsächlich gehen die neurowissenschaftlich nachgewiesenen Entwicklungsvorteile der Handschrift zunehmend verloren. Gegenüber dem typing mit einer lediglich punktuellen Berührung des Bildschirms macht das handgestützte Schreiben die Reproduktion der Form jedes einzelnen Buchstabens notwendig; dieser Prozess versteht sich als sensomotorische Erfahrung (haptisch, motorisch, visuell) der grafomotorischen Komponenten des Schreiberwerbs. Dabei liefert manuelles Schreiben dem Gehirn die fortlaufenden visuell-motorischen und ganzheitlichen simultanen Rückmeldungen, die zur [ 169 ] Fischer • Hand und Kopf 4| 2018 Selbstorganisation und funktionalen Spezialisierung und als Basis für die Entwicklung einer Lesekompetenz notwendig sind (Mangen 2016, 467; James / Engelhard 2012). Zwar mag die computergestützte Vermittlungsweise für Schriftspracherwerb und Lesekompetenz intuitive Vorteile im Lernprozess eröffnen; dieser Weg kann jedoch nur gelingen, wenn die körperlichen und sensomotorischen Vorläuferkompetenzen eine Konsolidierung erfahren haben. Literatur Atun-Einy, O., Berger, S. E., Ducz, J., Sher, A. (2014): Strength of infant’s bimanual reaching patterns is related to the onset of upright locomotion. Infancy 19 (1), 82-102, https: / / doi.org/ 10.1111/ infa.12030 Babik, I., Campbell, J. M., Michel, G. F. (2014): Postural influences on the development of infant lateralized and symmetric hand-use. Child Development 85 (1), 294-307, https: / / doi.org/ 10.1111/ cdev.12121 Bahr, S. (2017): »Ein bewegter Übergang«: Eine empirische Untersuchung zur Bedeutung von Bewegung für die Unterstützung des Transitionsprozesses Kita-Grundschule. Dissertation. Humanwissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln Basalou, L. W. (2008): Grounded Cognition. Annual Review of Psychology 59, 617-645, https: / / doi. org/ 10.1146/ annurev.psych.59.103006.093639 Beelmann, W. (2013): Normative Übergänge im Kindesalter. Anpassungsprozesse beim Eintritt in den Kindergarten, in die Grundschule und in die weiterführende Schule. Schriften zur Entwicklungspsychologie. Band 13. 2. Aufl. Verlag Dr. Kovac, Hamburg Bornstein, M. H., Hahn, C.-S., Suwalsky, J. T. D. (2013): Physically developed and exploratory young infants contribute to their own long-term academic achievement. Psychological Science 24 (10), 1906-1917, https: / / doi.org/ 10.1177/ 0956797613479974 Corbetta, D., Thelen, E., Johnson, K. (2000): Motor constraints on the development of perception-action matching in infant reaching. Infant Behavior and Development 23 (3-4), 351-374, https: / / doi. org/ 10.1016/ S0163-6383(01)00049-2 Deutscher Lehrerverband (2015): Umfrage unter Lehrern macht deutlich: Probleme mit dem Handschreiben in der Schule nehmen zu. In: www.lehrerverband.de, 20.03.2018 Engel, A. K., Maye, A., Kurthen, M., König, P. (2013): Where’s the action? The pragmatic turn in cognitive Science. Trends in Cognitive Sciences 17 (5), 202- 209, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.tics.2013.03.006 Fischer, K. (2018 i. Dr.): Einführung in die Psychomotorik. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Fischer, K. (2006): Händigkeit als Basiskompetenz für den Schriftspracherwerb. motorik 29 (3), 95-101 Foroni, F., Semin, G. R. (2009): Language that puts you in touch with your bodily feelings. Psychological Science 20 (8), 974-980, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1467-9280.2009.02400.x Gallaghter, S. (2013): The enactive hand. In: Radman, Z. (Hrsg.): The hand, an organ of the mind. MIT- Press, Cambridge, 209-225 Griebel, W., Niesel, R. (2011): Übergänge verstehen und begleiten. Transitionen in der Bildungslaufbahn von Kindern. Cornelsen, Berlin Hodgson, J. C., Hirst, R. J., Hudson, J. M. (2016): Hemispheric speech lateralization in the developing brain is related to motor praxis ability. Developmental Cognitive Neuroscience 22, 9-17, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.dcn.2016.09.005 Ionescu, T., Vasc, D. (2014): Embodied Cognition: Challenges for psychology and Education. Procedia - Social and Behavioral Sciences 128, 275- 280, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.sbspro.2014.03.156 James, K. H., Engelhardt, L. (2012): The effects of handwriting experience on functional brain development in pre-literate children. Trends in Neuroscience and Education 1 (1), 32-42, https: / / doi. org/ 10.1016/ j.tine.2012.08.001 Jäncke, L. (2012): Funktionale Links-rechts-Asymmetrien. In: Karnat, H.-O., Thier, P. (Hrsg): Kognitive Neurowissenschaften. 3. Aufl. Springer, Heidelberg, 693-703, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642- 25527-4_63 Kiefer, M., Schulter, S., Mayer, C., Trumpp, N. M., Hille, K., Sachse, S. (2015): Handwriting or Typewriting? The influence of penor keyboard-based writing on reading and writing performance in preschool children. Advanced Cognitive Psychology 11 (4), 136-146, https: / / doi.org/ 10.5709/ acp-0178-7 Kiefer, M., Trumpp, N. M. (2012): Embodiment theory and education: The foundation of cognition in perception and action. Trends in Neuroscience and Education 1 (1), 15-20, https: / / doi.org/ 10.1016/ j. tine.2012.07.002 Krombholz, H. (2018 i. Dr.): Motorische Entwicklung und Händigkeit in den ersten beiden Lebensjahren. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie Kunde, W. (2017): Handlung und Wahrnehmung. In: Müsseler, J., Rieger, M. (Hrsg.): Allgemeine Psychologie. Springer, Berlin / Heidelberg, 821-837, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-53898-8_22 Liechti, M. (2000): Erfahrung am eigenen Leibe: Taktil-kinästhetische Sinneserfahrung als Prozess des Weltbegreifens. Edition S, Heidelberg Mangen, A. (2016): What the hands tell us about reading and writing. Educational Theory 66 (4), 457- 477, https: / / doi.org/ 10.1111/ edth.12183 Marshall, P. J. (2016): Embodiment and human Development. Child Development Perspectives 10 (4), 245-250, https: / / doi.org/ 10.1111/ cdep.12190 Motorik 3 / 1992: Schwerpunkt Händigkeit Motorik 3 / 2006: Schwerpunkt Händigkeit und Schriftspracherwerb Porac, C. (2016): Laterality. Exploring the enigma of left-handedness. Elsevier, Oxford Pritzel, M. (2012): Händigkeit. In: Karnath, H.-O., Thier, P. (Hrsg.): Kognitive Neurowissenschaften, [ 170 ] 4| 2018 Forum Psychomotorik Springer, Heidelberg, 705-710, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-642-25527-4_64 Rieger, M., Wenke, D. (2017): Embodiment und Sense of Agency. In: Müsseler, J., Rieger, M. (Hrsg.): Allgemeine Psychologie. Springer, Berlin / Heidelberg, 774-819, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 642-53898-8_21 Roebers, C. M., Röthlisberger, M., Neuenschwander, P. C., Michel, E., Jäger, K. (2014): The relation between cognitive and motor performance and their relevance for children’s transition to school: A latent variable approach. Human Movement Science 33, 284-297, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.humov.2013.08.011 Schilling, F. (2005): Grafomotorik und Schriftspracherwerb. Grafomotorische Übungen werden erweitert. Praxis der Ergotherapie 18 (3), 44-52 Schilling, F. (2000): Kindliche Motorik und Lesenlernen. In: Haase, P. (Hrsg.): Schreiben und Lesen sicher lehren und lernen. Borgmann, Dortmund, 243-253 Schneider, W. (2017): Lesen und Schreiben lernen. Wie erobern Kinder die Schriftsprache? Springer, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662- 50319-5 Schwarzer, G., Degé, F. (2014): Theorien der Wahrnehmung. In: Ahnert, L. (Hrsg): Theorien in der Entwicklungspsychologie. Springer VS, Wiesbaden, 94-121, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642- 34805-1_4 Seifert, E. (1996): Was haben eigentlich die 3 und das E mit dem Grundschulsport zu tun? Sportpädagogik 20 (5), 62-66 Smith, L. B. (2013): It’s all connected: pathways in visional object recognition and early noun learning. American Psychology 68 (8), 618-629, https: / / doi. org/ 10.1037/ a0034185 Spitzer, M. (2015): Digital genial? Mit dem »Ende der Kreidezeit« bleibt das Denken auf der Strecke. Nervenheilkunde 34 (1-2), 9-16 Spitzer, M. (2010): Medizin für die Bildung. Spektrum, Heidelberg Storch, M., Tschacher, W. (2016): Embodied Communication. Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf. 2. Aufl. Hogrefe, Bern Sülzenbrück, S., Hegele, M., Rinkenauer, G., Heuer, H. (2011): The death of handwriting: Secondary effects of frequent computer use on basic motor skills. Journal of Motor Behavior 43 (9), 111-117, https: / / doi.org/ 10.1080/ 00222895.2011.571727 von Hofsten, C. (2009): Action, the foundation for cognitive development. Scandinavian Journal of Psychology 50 (6), 617-623, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1467-9450.2009.00780.x Wellsby, M., Pexman, P. M. (2014): Developing embodied cognition insights from children’s concepts and language processing. Frontiers in Psychology 5 (506), 1-10, https: / / doi.org/ 10.3389/ fpsyg.2014.00506 Zheng, B. B., Warschauer, M., Farkas, D. (2013): Digital writing and diversity: The effects of school laptop programs on literacy processes and outcomes. Journal of Educational Computing Research 48 (3), 267-299, https: / / doi.org/ 10.2190/ EC.48.3.a Der Autor Prof. Dr. Klaus Fischer Professor für Bewegungserziehung und Bewegungstherapie an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Psychomotorische Entwicklungstheorie und bewegungsorientierte Entwicklungsförderung in den Entwicklungsspannen der Kindheit und der Jugend: Qualitätsentwicklung in der Psychomotorik Anschrift Prof. Dr. Klaus Fischer Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Dept. Heilpädagogik und Rehabilitation Lehrstuhl Bewegungserziehung Gronewaldstr. 2a D-50931 Köln Klaus.Fischer@uni-koeln.de