eJournals motorik 41/4

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2018.art26d
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2018
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Spuren von Sprache, Symbol und Schrift entdecken

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Kathrin Meiners
Sprache und Schrift stellen kommunikative Symbolsysteme dar. Kinder tauchen auf dem Weg zur Schrift immer tiefer in diese Symbolwelten ein und eignen sich diese an. Dieser Beitrag bietet vielfältige, an den Interessen der Kinder orientierte - weniger fächerkanonisch sortierte - Denkanregungen zum Entdecken von Sprache und Schrift in der frühen Kindheit und verweist auf die Verantwortung begleitender Fachkräfte, Kindern die Spurensuche von Sprache, Symbolen bis hin zur Schrift zu ermöglichen.
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Zusammenfassung / Abstract Sprache und Schrift stellen kommunikative Symbolsysteme dar. Kinder tauchen auf dem Weg zur Schrift immer tiefer in diese Symbolwelten ein und eignen sich diese an. Dieser Beitrag bietet vielfältige, an den Interessen der Kinder orientierte - weniger fächerkanonisch sortierte - Denkanregungen zum Entdecken von Sprache und Schrift in der frühen Kindheit und verweist auf die Verantwortung begleitender Fachkräfte, Kindern die Spurensuche von Sprache, Symbolen bis hin zur Schrift zu ermöglichen Schlüsselbegriffe: Sprache, Schrift, symbolische Formen, Literacy, phonologische Bewusstheit Marks of language, symbols and writing Spoken and written language are communicative symbol systems. Children immerse themselves deeper and deeper into these symbolic worlds on the way to writing. This article offers a variety of ideas for exploration of language and writing in early childhood, based on the interests of children rather than on prescribed subject matter. It refers to the professionals‘ responsibility to accompany and to enable children to search for language, symbols and writing. Key words: spoken and written language, symbols, literacy, phonological awareness [ 171 ] motorik, 41. Jg., 171-177, DOI 10.2378 / mot2018.art26d © Ernst Reinhardt Verlag 4| 2018 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Spuren von Sprache, Symbol und Schrift entdecken Anregungen zur Literalität in kindheitspädagogischen Arbeitsfeldern Kathrin Meiners Ein Junge (1; 6 Jahre) sitzt auf dem Teppich und wartet darauf gewickelt zu werden. Die Fachkraft am Wickeltisch notiert etwas und legt anschließend den Kugelschreiber zur Seite. Der Junge nimmt ihn zur Hand, schaut sich dann im Raum um. Der Kuli wird zunächst wenig beachtet, aber irgendwann ist er so auf der Haut des Jungen, auf seinem Bein gelandet, dass er einen Strich hinterlässt. Der Junge bleibt mit seinem Blick förmlich an diesem Strich hängen. Er scheint irritiert: Woher kommt der Strich auf seinem Bein? Mit dem Finger der anderen Hand fährt er über den Strich. Er tippt, er tastet - der Strich bleibt. Der Junge hüpft sitzend auf und ab. Mehr zufällig fährt er mit dem Kugelschreiber wieder über sein Bein und: Es gibt wieder einen Strich, eine neue Spur ist angefertigt. Diesmal hat der Junge den Zusammenhang zwischen Kugelschreiber und Strich beobachtet und untersucht nun das Werkzeug in seiner Hand. Die Fachkraft legt ihm einen Block hin, auf dem der Junge nun ausgiebig das neue Werkzeug erprobt: Ein Hin und Her, ein zartes wie kräftiges Erproben dieses neu entdeckten Gerätes bereitet ihm größtes Vergnügen. Immer wenn er einen neuen Strich produziert hat, hüpft er auf und ab, schaut die Fachkraft an, sie bestätigt freundlich nickend. In den Tagen darauf lässt der Junge nicht von seinem neuen Werkzeug. Er fordert immer wieder einen Kugelschreiber ein. Er hinterlässt an allen möglichen Orten Spuren und »erzählt« anderen Kindern davon, zeigt darauf, freut sich mit anderen. Dieses Verhalten wirkt ansteckend auf andere Kinder und wird von den Fachkräften mit großer Aufmerksamkeit und Wertschätzung sowie mit reichhaltigem Material unterstützt: Verschiedene Stifte werden gesammelt und verglichen, Kulis im Büro ausgeborgt und von zu Hause mitgebracht. Es wird ausprobiert, was [ 172 ] 4| 2018 Forum Psychomotorik sich mit dem Kugelschreiber produzieren lässt: Ganze Landschaften von Kugelschreiber-Zeichnungen - sehr genau, sehr fein und differenziert - werden angefertigt. Und immer wird unterschrieben! Ob man den Namen nun schon schreiben kann oder noch nicht ganz »richtig« - ein Zeichen ist hinterlassen, ein Symbol entdeckt! Kennenlernen von Sprache und Schrift bedeutet, einzutauchen in Welten voller Spuren, in Kultur(-technik). Auf dem Weg zur Schrift begegnen Kinder einer Vielzahl von Symbolen auf lautlicher Ebene wie auf der Ebene von Zeichen bis hin zu Schriftzeichen. Sie lernen diese Symbole nicht separiert in Lehrgängen und Trainingsformaten kennen. Die Phase der Frühen Kindheit ist nicht in Bereichslogiken wie im fächerkanonischen Denken strukturiert. Denkanregungen zur kindlichen Begegnung mit Sprache und Schrift jenseits von Förderprogrammatik und Bereichslogik sollen hier gegeben werden. Entdecken und Eintauchen in Sprache und Schrift Als theoretische Fundierung jenseits fächerkanonischen Denkens bietet sich mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen eine Orientierung an, wie (kindliche) Zugänge zu (Sprach- und Schrift-)Welt gefasst werden können: Symbolische Formen werden nach Cassirer als universelle, intersubjektiv gültige Formen / Grundformen des Verstehens von Welt, als Organe, mit denen Menschen kulturell bedeutsame Lebenswelten konstituieren (Paetzold 1993, 47), gefasst. Dieses Grundgerüst stellt eine hilfreiche Struktur für die Entwicklung einer Didaktik jenseits der Fachbereiche dar, anschlussfähig an das kindliche Entdecken und Aneignen von Welt, das sich in informellen Formaten ebenfalls nicht an einer Bereichslogik strukturiert. Es geht vornehmlich um gemeinsames Entdecken, um Eintauchen in Sprache und Schrift, um ein Bad in dieser Symbolwelt und um achtsame Begleitung. Eine solche Fundierung lässt zu, sich auf die Perspektive der entdeckenden Kinder einzulassen, eine Perspektive, die in den letzten Jahren bzgl. des Schriftspracherwerbs zunehmend Relevanz gefunden hat: Entgegen der Sichtweise von sogenannten Vorläuferfähigkeiten zum Schriftspracherwerb auszugehen, eher die Position der Lernenden mit all ihren verschiedenen Vorerfahrungen, Vorstellungen zu verstehen. »Im Leben kleiner Kinder würde es weder »Vor-Erfahrungen« noch »Voraussetzungen« geben, sondern nur Erfahrungen, die in Wechselwirkung stehen und vom lernenden Subjekt weiter ausdifferenziert werden« (Ramseger 2008 zit. n. Füssenich 2011, 6). Dieses Eintauchen in Symbol- und Schriftwelt wird mit dem Begriff der »Literalität« (engl. Literacy) gefasst: in einer weiten Orientierung als alle Erfahrungen und Fertigkeiten, die mit Erzähl-, Sprach- und Schriftkultur einhergehen, in einer engeren Fassung als die Kompetenz des Lesens und Schreibens (Näger 2017, 11). Funktional kann Literacy also mit dem Erwerb von Lese- und Schreibfähigkeiten beschrieben werden, kulturell mit dem Vertraut-Werden auf visueller Ebene mit Bildern, Zeichen, Logos etc., auf der literarischen Ebene mit Büchern und weiteren schriftsprachlichen Bedeutungsträgern (wie auf der heute immer mehr Einfluss nehmenden medialen Ebene) (Rau 2009, 15). Haben Kinder in die Sprach- und Schriftwelt Eingang gefunden - und damit das faszinierende Hinterlassen von Spuren, denen man eine Bedeutung zumessen kann -, so eröffnet sich ihnen die Welt auf eine andere Weise als zuvor. Dabei geht es weniger um das Erlernen von Lesen und Schreiben, sondern um Kommunikation auf den Ebenen von Literalität wie auch um die »Sprachlichkeit«, bzw. die Sprechbarkeit von Welt (Schäfer / Meiners 2008, 115). Zunächst treten Kinder in die Welt der gesprochenen Sprache ein. In Handlungszusammenhängen erfassen Kinder Objekte und setzen diese in Beziehung: »Wenn Kinder zu sprechen beginnen, sind sie bereits in der Lage, mit solchen Szenen und Objekten in Zusammenhängen spielend, gestaltend, planend und entwerfend Kennenlernen von Sprache und Schrift bedeutet, einzutauchen in Welten voller Spuren. [ 173 ] Meiners • Spuren von Sprache, Symbol und Schrift entdecken 4| 2018 Kinder sind bereits Laut-, Wort- und Satzmusiker, noch bevor sie die ersten Wörter sprechen. umzugehen. Sie brauchen also diese Handlungszusammenhänge nur noch mit semantischen Zusammenhängen in Verbindung bringen« (Schäfer / Meiners 2008, 115). Diese Ereignismuster, die später gesprochen werden, haben in sinnlich-körperlichen Handlungserfahrungen ihre Grundlage, so dass die Bildung der Sinne als die elementarste Grundlage späterer Kommunikation gefasst werden kann (Schäfer / Meiners 2008, 116). Als aisthetische Vorläufer des Sprechens kann damit das Erkennen von Lauten als ein Wahrnehmungsphänomen beschrieben werden: das Entziffern von Klangbildern, um später differenzierte Laute unterscheiden zu können, und das mehr und mehr Hineinfallen in kulturspezifische Sprachmuster. »Kinder sind also bereits Laut-, Wort- und Satzmusiker, noch bevor sie die ersten Wörter sprechen« (Schäfer / Meiners 2008, 117). Zum kommunikativen Austausch benötigen Kinder das Erkennen und Lesen emotionalen Ausdrucks und eine mimetische Ansteckung, so dass sie zunehmend mehr emotionalen Gehalt durch mimetischen Nachvollzug verstehen (Schäfer / Meiners 2008, 117 f ). Gemeinsam geteilte Bedeutung strukturiert die Aufmerksamkeit des Kindes bzw. obliegt es der Verantwortung des Erwachsenen, diese Emotionalität zu lesen und zu deuten. In gemeinsamer Aufmerksamkeitsverhandlung, die Bruner (1987) in seiner interaktionistischen Spracherwerbstheorie beschreibt, lernt das Kind Laute, Worte und Satzmelodien; es lernt das dialogische Moment einer Kommunikation kennen und erfährt etwas über die Bedeutung der Szene. Dabei spielt das Spiegeln von Handlungen und mimetischem Ausdruck eine große Rolle (Schäfer / Meiners 2008, 119 f ). Somit arrangieren Erwachsene den Kontext, in dem sich das Kind die Bedeutung von Wörtern erschließt. Im Rahmen des Erstspracherwerbs gelingt dies in den meisten Fällen ohne lehrgangsgemäßes Vorgehen, so dass man aus diesem nonformellen Lernprozess Ableitungen für spätere Kommunikations- und Kulturerwerbsfähigkeiten ziehen kann. So ist die sprachliche Kommentierung von Welt (in Szenen und Episoden) oder das Benennen von kindlichen Initiativen und emotionalen Zuständen als eine wichtige Grundlage des Spracherwerbs und des Eintauchens in Literalität zu sehen. Im Verlauf der Kommunikationsentwicklung nehmen Kinder zunächst im Parallelspiel das Handeln anderer Kinder wahr und imitieren deren Spiel. Sie begleiten lautlich das eigene Tun und entdecken das Interesse an Sprache in Reimen, Sprachspielen und Quatschbegriffen (Schäfer / Meiners 2008, 122 f ). Wesentlich an diesen ersten kommunikativen Schritten scheint zu sein, dass Wörter nicht isoliert vorkommen, sondern einen Sinn machen, indem sie dann zu Begriffen werden können: »Mit dem Eintritt in die Sprache entsteht ein Bewusstsein von der Wirklichkeit, in der gehandelt wird und - da Sprache ein Teil kultureller Wirklichkeit ist - auch ein Bewusstsein von Sprache« (Schäfer / Meiners 2008, 123). Bedeutungen entstehen in Kontexten aus Handlungszusammenhängen. Wenn der dreijährige Ben ein Centstück findet und ich ihm sage, dass dieses wertvoll sei, beschreibt er dieses in den nächsten Situationen mit: »Ein Wertvoll! « Der Begriff, den ich ihm anbot, wenn auch mit anderer Zielsetzung, wird von ihm in seine Denkstrukturen eingepasst. »Das bedeutet, dass die Wahrnehmung von Kindern zu Beginn des Spracherwerbs nicht so strukturiert ist, dass die sprachlich zu benennenden Objekte als solche bereits verfügbar wären. Vielmehr tragen Erwachsene, die Kindern Wörter anbieten, dazu bei, dass die Kinder die wahrgenommene Situation differenzieren« (Andresen 2005, 63). In Handlungen werden Bedeutungen zugewiesen und differenziert, Sprach- und Weltwissen werden miteinander verknüpft (Andresen 2005, 141): Mit reinem Sprachwissen kann man den Satz »Die Bank brach zusammen! « nicht verstehen. Bezieht er sich auf Sitzmöbel oder Geldinstitute? Sprach- und Weltwissen müssen sich ergänzen. Zu Beginn ist dieses Wissen, das später sprachlich ausgedrückt wird, an direkte Erfahrungen gekoppelt; weiterhin wird es im Spiel in mimetischem Handeln und Denken gestaltet und variiert. Mit dem Eintritt in die Sprache werden immer mehr Mitteilungen [ 174 ] 4| 2018 Forum Psychomotorik über die eigenen Erfahrungen gemacht, später werden sprachliche Repräsentationen anderer zunehmend in die eigenen mentalen Repräsentationen integriert (Schäfer / Meiners 2008, 126 f ). Erwachsene regen dabei an, geben Rückhalt, füllen Lücken aus, ermutigen: »Wo Kinder in eine soziale Leere sprechen, wo sie keine Antworten auf ihre ausgesprochenen Ideen und Anliegen finden, werden sie verstummen. Hier gilt auf eine sehr elementare Weise: Worüber nicht gesprochen wird, muss das Kind schweigen […]« (Schäfer / Meiners 2008, 128). Aber auch in der Interaktion der Peers wird im Rollenspiel eine neue sprachliche Ebene gefunden (Andresen 2005, 156 ff ): Das Erzeugen von fiktiven Welten, die sprachlich im Konjunktiv ausgehandelt werden, führen neue sprachliche Ebenen ein. Der Kontext muss im Spiel sprachlich erzeugt werden und man muss sich auf einen gemeinsamen Bedeutungsrahmen einigen, um miteinander zu spielen: »Du wärst dann die Prinzessin und ich wäre wohl der König.« Hier wird der Anfang von gemeinsamen Erzählungen gemacht, die das Erzeugen und Nachvollziehen von Kontexten auch unabhängig vom situativen Geschehen ermöglichen: »Bevor Kinder in der Schriftsprache genötigt werden, in situativ dekontextualisierten, theoriebezogenen Begriffen zu denken und zu schreiben, produzieren sie sprechend Bedeutungen in narrativen, szenischen Zusammenhängen. […] Das Denken in Geschichten bildet das Fundament und das Repertoire für spätere Abstraktionen. Ohne diese Sättigung mit situationsbezogenen Geschichten bleiben Wörter subjektiv bedeutungslose, sprachliche Hüllen« (Schäfer / Meiners 2008, 130 f ). Mit der Sprache hat das Kind einen Schritt zum symbolischen Denken bewältigt. Der Spracherwerb muss daher in reichhaltigen, differenzierten Handlungssituationen entwickelt werden - in alltäglichen Bezügen: »Der Weg in die gesprochene Sprache eines narrativen Denkens bedarf daher nicht nur der sprachlichen Förderung, sondern der einfühlsamen Unterstützung von Erwachsenen in Situationen der geteilten Erfahrung, der Mitwirkung anderer Kinder, die sich gegenseitig stützen und herausfordern und auch einer soziokulturellen Umgebung, die dafür Verständnis aufbringt und Gelegenheiten bereit hält« (Schäfer / Meiners 2008, 133). Im Rahmen der Literacyforschung sind - neben dem oben genannten Rollenspiel - das gemeinsame (Vor-)Lesen und das Betrachten von (Bilder-)Büchern sowie das gemeinsame Geschichten Hören und Erzählen bis hin zum Diskutieren als Grundlage für das Entwickeln und Eintauchen in die Sprach-, Symbol- und Schriftsprachwelt zu sehen (Rau 2009; Whitehead 2007). Als Konsequenz werden zunehmend literaturpädagogische Zielsetzungen ausgearbeitet, beispielsweise das Kennenlernen von Geschichten anderer Kulturen wie auch das Begleiten literarischer Figuren in der Welt (Erb-May 2017). Neben Sammlungen von möglichen Spielen - denen aber trainingsbasierte Förderprogrammatiken inne liegen mögen - werden gleichermaßen Spielesammlungen und Vorschläge für eine literacyförderliche Raumgestaltung entwickelt (Jungmann et al. 2015). Literacyförderliche Lernumgebungen sollten die Themenbereiche Bücher, Schreiben / Schrift, Medien / Technik, Sprach- / Gesellschaftsspiele, wie Requisiten für Rollenspiele, umfassen; eine gute und hochwertige Materialausstattung mit Alltagspräsenz und Zugänglichkeit der Materialien, Bereiche zum Vertiefen in die Schriftwelt wie Schreibwerkstätten (Thielemann 2015), eine Veränderbarkeit der Lernumgebung unter Einbezug der Kinder sowie eine flankierende Begleitung durch Aktivitäten mit pädagogischen Fachkräften sollen die Qualität dieser räumlichen Gestaltung und der Arbeit darin stärken (Reichert-Garschhammer 2013, 44). Literalisierendes Klima nennt es Näger (2017): Gemeinsame Rituale, das Führen einer Rucksackbibliothek, Herstellen oder Ausstellen von Büchern und der Besuch der öffentlichen Bibliothek werden hier genannt. Gleichermaßen aber Projekte, wie das Erfinden von Szenischem Spiel bis hin zum Theater, das Zuhören und Wahrnehmen, das Spiel mit Reim und Rhythmus, die große Bedeutung des Vorlesens, Der Vorgang des Schreibens verändert das kindliche Denken. [ 175 ] Meiners • Spuren von Sprache, Symbol und Schrift entdecken 4| 2018 gerade auch von Bilderbüchern, an denen jüngere Kinder noch mit dem Bild vor dem Auge anschließen können, das Setzen von Erzählimpulsen im Alltag, so dass Sprache außerhalb des situativen Kontextes erfahren werden kann. Das Untersuchen von Zeichen, Symbolen und Piktogrammen, bis hin zu Buchstaben, Wörtern und Sätzen in Schrift führt dann zunehmend mehr in die Welt der Schrift ein. Entdecken der Schriftsprache Was macht nun den Eintritt in die Schriftsprache besonders? Schrift ist ein Bedeutungs- und Wissensspeicher, mit dem etwas transportiert und weitergegeben wird, eine höchst faszinierende Erkenntnis für Kinder, an der sie offensichtlich teilhaben wollen. Beim Frühstück liegt eine Zeitung auf dem Tisch, die die Erwachsenen dort gelesen und liegen gelassen haben. Der zweijährige Tim nimmt diese, geht zum Sofa und schlägt die Zeitung auf. In all seinem Gebaren ahmt er die Handlung des Erwachsenen nach: Die großformatigen Blätter umwenden, mit dem Papier rascheln und manchmal auch leise brabbelnd Töne von sich geben - Ganz ein kompetenter Zeitungsleser! Nur dass er die Zeitung auf dem Kopf hält, verrät, dass er (noch) nicht ganz lesen kann. Aber wieviel davon hat er erfasst, was es ausmacht, sich in diese Zeichen zu versenken und dass sich darin Bedeutungen verbergen. Der Vorgang des Schreibens verändert das kindliche Denken und verlangt neue Strategien des Denkens. In vielen funktionalen Aspekten ähneln sich Sprache und Schriftsprache beispielsweise in Kommunikationsgehalt und -intention, Ausdruck von Erleben, Gefühlen, Gedanken, Fantasie. Unterschiede von Sprache und Schriftsprache verdeutlichen aber bei Eintritt in die Schriftsprache, welche anderen Denkstrategien genutzt werden: ■ In Schrift werden Inhalte gesammelt und können auch in Abwesenheit - ohne den situativen Kontext - wieder erzeugt werden. ■ In Schrift Dargelegtes wird an Lautfolgen gekoppelt, die durch Schrift repräsentiert werden. »Es werden also zwei aufeinander aufbauende Repräsentationsordnungen gebildet: Eine sprachliche Ordnung: Die erste Repräsentation für einen Gegenstand, eine Person oder eine Handlung ist eine Lautfolge. Eine schriftsprachliche Ordnung: Die Lautfolge wird als geschriebenes Wort repräsentiert. Schriftsprache ist daher eine Metarepräsentation der gesprochenen Sprache« (Schäfer / Meiners 2008, 135). ■ Das Schriftsystem verfügt über eine Vielzahl formaler Regeln, die in Sprache keine Anwendung finden (Schreib- und Leserichtung, Raum-Lage-Prinzip vom Buchstaben, Wortlücken u. ä.). ■ In Sprache werden Informationen über nonverbale und paralinguistische Aspekte ergänzt; in Schriftsprache müssen solche Informationen ausgedrückt werden (so dass Texte beispielsweise mehr Adjektive enthalten, die in Sprache durch die nonverbale / paralinguistische Verdeutlichung nicht enthalten sein müssen). Dieser Unterschied wird über den Eintritt in Schrift beim Erzeugen eigener Schrifttexte deutlich. ■ Gesprochene Sprache ist ein kontinuierlicher Ablauf von Lauten, während Worte durch Lücken getrennt sind und durch die Lücken manchmal auch verschiedene Bedeutungen erhalten (Radweg oder Rad weg). Schrift wird dadurch als ein eigenständiges Repräsentationssystem deutlich. Gleiches gilt dafür, dass in der alphabetischen Schrift keine eindeutige Zuordnung zur Lautsprache getroffen werden kann (Schäfer / Meiners 2008, 136). Schriftsprache macht damit auf den formalen Aspekt von Sprache aufmerksam; Kontexte entfallen und müssen beschrieben werden; alles was zur Sprache gebracht werden soll, muss explizit gefasst werden. Der Handlungskontext ist nicht gegeben, man muss dekontextualisieren können, um die formalen Aspekte von Schriftsprache erfassen zu können. Gleichermaßen muss die Perspektive der möglichen LeserInnen im Sinne der Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit eines Textes eingenommen, vorhergesehen werden können. [ 176 ] 4| 2018 Forum Psychomotorik Ein wesentlicher Erfahrungshintergrund wird in der phonologischen Bewusstheit, als der Fähigkeit sich dem Lautaspekt von Sprache zuzuwenden, gesehen: lautanalytisch vorgehen zu können. Der Begriff »Oma« wird damit nicht vornehmlich in Zusammenhang mit der Großmutter gebracht, sondern als lautliche Abfolge »O-M-A« fokussiert, so dass das Kind ihn dann verschriftlichen kann. »Dazu muss es einen gewissen Abstand zur gesprochenen Sprache einnehmen, diese sozusagen »vergegenständlichen«, um Sprache analytisch betrachten zu können und metanalytische Prozesse durchführen zu können« (Schäfer / Meiners 2008, 138). »Unterschieden werden können verschiedene Stadien der Bewusstwerdung. Die sich zuerst entwickelnde phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne bezieht sich auf eine Teilung der Sprache in Silben, die körperlich und / oder artikulatorisch rhythmisch spürbar sind (klopfen, springen, klatschen …). Für die phonologische Bewusstwerdung im engeren Sinne ist hingegen eine kognitive Auseinandersetzung notwendig, um die Worte bzw. Silben in ihre Phoneme zu zerteilen. Dies gelingt am besten mit Hilfe der geschriebenen Sprache, bei der Kinder die gesprochenen Phoneme auch »sehen« und sich somit vorstellen können. Der Übergang von der phonologischen Bewusstheit im Weiteren zu einer im engeren Sinne geschieht durch die Trennung des Anlautes vom Reim einer Silbe, der Silbenreim selbst kann in diesem Übergangsstadium noch nicht analysiert werden und verbleibt als Ganzheit« (Nickel 2007, 92). In der phonologischen Bewusstheit geht es also um Kenntnisse der Lautstruktur, einzelne Laute identifizieren zu können, bis hin zur Einsicht in das alphabetische System. Unerfahrene LeserInnen (Kinder wie Erwachsene) oder auch LeserInnen von unbekannten Begriffen synthetisieren einzelne Laute, wobei die Bedeutungszuweisung durch die Dehnung und nicht sinngemäße Betonung erschwert ist. Man sucht im »inneren Lexikon« (Schäfer / Meiners 2008, 139) nach einer passenden Klanggestalt, die dann auch semantisch passend erscheint. »Die phonologische Analyse ist damit gerade für den Leseanfänger eine wichtige Grundlage der Erkenntnis, dass Worte aus einzelnen Lauten aufgebaut sind« (Schäfer / Meiners 2008, 139). Dabei scheint die Ausdifferenzierung der phonologischen Bewusstheit gleichermaßen relevant, wie die Differenzierung eines inneren Lexikons, um sinnerwartend flüssig lesen zu können. Phonologische Bewusstheit sollte damit nicht auf ein reines Funktionstraining reduziert werden. Nickel ordnet phonologische Bewusstheit als Funktionstraining kritisch ein (2007). »Sie müsste als ein wichtiger aisthetischer Aspekt in die Zusammenhänge alltagsbezogener, sinnhafter Bildungsprozesse einbezogen werden. Lieder, Fingerspiele, Reime, regelmäßiges Vorlesen, eigene Bücher herstellen, den sprachlichen Entdeckungen Aufmerksamkeit schenken: All das bietet Kindern vielfältige Gelegenheit dazu. Das heißt ihre sprachlichen Interessen müssten eingebettet werden in ihr Interesse an der Entdeckung der Welt, der natürlichen, der sozialen, der kommunikativen und kulturellen« (Schäfer / Meiners 2008, 141). Daher stellt Literacy den sinnbezogenen Aufgabenhorizont für die Entdeckung der Schriftsprache dar, in die sich Aufmerksamkeit für phonologische Bewusstheit eingliedert (Schäfer / Meiners 2008, 141). Die Reggio Pädagogik beschreibt kindliche Ausdrucksmöglichkeiten mit dem Terminus der »Hundert Sprachen der Kinder«. Diesem Gedanken Rechnung tragend sollte der Zugang zu Symbolwelten von Sprache und Schrift in kindheitspädagogischen Kontexten von einem großen Maß an Vielfalt und differenzierten Erfahrungen in alltäglichen Zusammenhängen geprägt sein, so dass Kindern ein großes Maß an Spurensuche ermöglicht wird. Literatur Andresen, H. (2005): Vom Sprechen zum Schreiben. Klett-Cotta, Stuttgart Bruner, J. (1987): Wie das Kind sprechen lernt. Hans Huber, Bern Für die phonologische Bewusstwerdung ist eine kognitive Auseinandersetzung notwendig. [ 177 ] Meiners • Spuren von Sprache, Symbol und Schrift entdecken 4| 2018 Erb-May, U. (2017): Sprechen, Lesen, Schreiben. Literacy für Vorschulkinder in der Kita. Beltz, Weinheim / Basel Füssenich, I. (2011): Vom Sprechen zur Schrift. Was Erwachsene über den Erwerb der Schrift im Elementarbereich wissen sollten. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. WiFF-Expertisen, Band 9. München Jungmann, T., Marowiak, U., Meindl, M. (2015): Überall steckt Sprache drin. Alltagsintegrierte Sprach- und Literacyförderung für 3bis 6-jährige Kinder. Ernst Reinhardt, München / Basel Näger, S. (2017): Literacy. Kinder entdecken Buch-, Erzähl- und Schriftkultur. Herder, Freiburg u. a. Nickel, S. (2007): Beobachtung kindlicher Literacy- Erfahrungen im Übergang von Kindergarten und Grundschule. In: Graf, U., Moser Opitz, E. (Hrsg.): Diagnose und Förderung im Elementarbereich und Grundschulunterricht. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler, 87-104 Paetzold, H. (1993): Ernst Cassirer zur Einführung. Junius, Hamburg Rau, M. L. (2009): Literacy. Vom ersten Bilderbuch zum Erzählen, Lesen und Schreiben. Haupt, Bern Reichert-Garschhammer, E. (2013): Sprachliche Bildung im Kontext von Partizipation, Ko-Konstruktion und Inklusion - Kindertageseinrichtungen auf dem Weg. In: Kieferle, C., Reichert-Garschenhammer, E., Becker-Stoll, F. (2013): Sprachliche Bildung von Anfang an: Strategien, Konzepte und Erfahrungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 34-51, https: / / doi.org/ 10.13109/ 9783666701450.34 Schäfer, G. E., Meiners, K. (2008): Sprechen und Schreiben. In: Schäfer, G. E. (Hrsg.): Lernen im Lebenslauf. Formale, non-formale und informelle Bildung in früher und mittlerer Kindheit. Studie für die Enquetekommission »Chancen für Kinder« Landtag NRW, 116-148 Thielemann, M. (2015): Werkstatt(t)räume für Kitas. Verlag das Netz, Weimar Whitehead, M. (2007): Sprache und Literacy von 0-8 Jahren. Bildungsverlag Eins, Troisdorf Die Autorin Kathrin Meiners Erzieherin, LA Sonderpädagogik, Deutsch und Sport Lehrkraft für besondere Aufgaben, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, TH Köln, Fort- und Weiterbildung u. a. in Weltwerkstatt und Kölner Institut für Beratung und pädagogische Professionalisierung Anschrift Kathrin Meiners Technische Hochschule Köln Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften Ubierring 48 D-50678 Köln kathrin.meiners@th-koeln.de