eJournals motorik 41/4

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2018.art31d
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Praxistipp: Joghurtbecher als förderdiagnostische Alltagsmaterialien

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Michael Wendler
Vielfältige Erfahrungen im Umgang mit unterschiedlichen Materialien im kindlichen Spiel zu ermöglichen, ist ein wesentliches Ziel psychomotorischen Förderbemühens.
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[ 204 ] 4| 2018 Praxistipp [ TITELRUBRIK ] [ 204 ] [ PRAXISTIPP ] Joghurtbecher als förderdiagnostische Alltagsmaterialien Vielfältige Erfahrungen im Umgang mit unterschiedlichen Materialien im kindlichen Spiel zu ermöglichen, ist ein wesentliches Ziel psychomotorischen Förderbemühens. Diese Zielsetzung erfordert ein didaktisch-methodisches Vorgehen, dass einerseits Freiräume für eigenes Entdecken und Handeln schafft und andererseits können mit der Auswahl der Materialien und Aufgabenstellungen auch gezielte Vorgaben verknüpft werden, die unterschiedliche Entwicklungsdimensionen der Kinder ansprechen. Für eine grafomotorische Förderung werden hier beispielhaft Spielanregungen mit einem Joghurtbecher in den Bereichen Körper-Raumwahrnehmung, Geschicklichkeit und Drehfähigkeit, Kraftdosierung, Händigkeit (Lateralität), visuelle und auditive Wahrnehmung, Planungsfähigkeit gegeben und mit sprachlichen sowie bildlichen Beschreibungen untermalt. Bau und Bespielen einer Krake Ziel ist es, den Joghurtbecher von der Öffnung bis ca. 1 cm über dem Boden in Streifen zu reißen oder zu schneiden (Abb. 1), so dass eine »Krake« mit ca. sieben bis neun Beinen entsteht. Je nach Entwicklungsstand der Kinder und Zielsetzung muss der Joghurtbecher evtl. vorbereitet werden. Unter visuellen Wahrnehmungsgesichtspunkten können auf dem Becher Markierungen angebracht werden, die Abb. 1: Die fertige »Krake« Kindern anzeigen, wo sie die Schere ansetzen sollen (Abb. 2). Hier lassen sich gleiche und unterschiedliche Abstände (schmal und breit) im Wechsel oder nach den Vorstellungen der Kinder kombinieren. Wenn verschiedene Markierungen eingehalten und eingeschnitten werden sollen, eigenen sich dünne Trinkbecher, die sich leicht mit der Schere bearbeiten lassen. Abb. 2: Angebrachte Markierungen zum Einschneiden Demgegenüber können die Becher aber auch schon eingeschnitten sein (Abb. 3), dann müssen Kinder jedes »Bein« vorsichtig reißen und rechtzeitig abstoppen, damit der Becher sich nicht teilt und damit für die Spielsituation unbrauchbar wird. Für eine intensive Zusammenarbeit zwischen Halte- und Operationshand können Joghurtbecher ausgewählt werden, die wenig Weichmacher enthalten (z. B. Ayran-Becher) und mehrmals hin und her gebogen werden müssen, bis der Rand bricht und dann erst in Streifen unterteilt werden können. Damit die Krake einen sicheren Stand hat, muss jedes »Bein« ein wenig nach außen gebogen werden (Abb. 4). Abb. 3 und 4: Der vorbereitete Joghurtbecher und Biegungsgrad der Beine [ 205 ] Praxistipp 4| 2018 Spielanregungen mit der »Krake« in einer Gruppe Zumeist regt die entstandene »Krake« von allein an, sie mit einem Finger oder der ganzen Hand zu tippen und so auf dem Boden oder auf einem Tisch in Bewegung zu bringen. Die durch das Tippen verursachten Geräusche sind meist sehr motivierend und signalisieren durch die selbsttätige Steuerung die Wirkung der eigenen Handlung. Die Selbsttätigkeit ist nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören. Spielanregungen und die damit verbundenen Zielsetzungen können sein: ■ »Mit welcher Hand lässt sich die Krake gut bewegen? « (Vorzugshand wahrnehmen); ■ »In welche Richtungen kann die Krake laufen? « (Raumrichtungen: vor und zurück, hin und her, um die eigene Person oder ein Bein drum herum, im Kreis u. a.); ■ »Lässt sich die Krake auch mit einzelnen Fingern tippen? « (Fingertapping: Geschicklichkeit); ■ »Besucht die anderen Kraken in der einen und anderen Richtung! « (Überkreuzen der Mittellinie); ■ »Versucht auf eine andere Krake drauf zu hüpfen! « (Kraftdosierung); ■ »Tippt so leicht auf die Krake, dass man ein Geräusch hören kann, aber die Krake sich nicht bewegt! « (Kraftdosierung); ■ »Malt auf einem Bogen Papier einen Weg mit vielen Kurven und lasst die Krake diesen Weg lang hüpfen! « (Raumaufteilung / Planungsfähigkeit). Spielanregungen für auditive und visuelle Wahrnehmungserfahrungen Als Partnerarbeit können sich Kinder anfangs einen einfachen Rhythmus ausdenken und einem anderen Kind vorspielen (z. B.: lang, lang, kurz, kurz). Diesen Rhythmus soll sich die PartnerIn merken und nachspielen. Hier können die Partnerschaften gewechselt werden, so dass unterschiedliche Rhythmen an die Kinder herangetragen werden. Wenn dies gut klappt, bekommen die Kinder die Aufgabe, zu überlegen, wie die verschiedenen Rhythmen bildlich / schriftlich festgehalten werden können. Eine Hilfe kann dabei der Tipp an die Kinder sein, die Darstellung mit großen und kleinen Punkten (o - o - o-o) oder mit langen und kurzen Strichen zu versuchen, um den ausgedachten Rhythmus zu repräsentieren. Die Repräsentationen auf Papier können dann wieder innerhalb einzelner Partnerschaften ausgetauscht und »nachgespielt« werden. Wichtig dabei erscheint der Hinweis, die Abfolge zu Beginn nicht zu schwer zu gestalten, damit alle Kinder beim Nachspielen erfolgreich sein können. Eine »Zwischenstation« kann hierbei die sprachliche Mitbegleitung sein, indem die Abfolge sprachlich begleitet wird (z. B.: lang, lang, kurz, kurz), um den Unterschied zu verdeutlichen und das Merken und Nachspielen zu vereinfachen. Ausgewählte diagnostische Gesichtspunkte im Umgang mit der Krake Während des Anfertigens der »Krake« und in der Auseinandersetzung mit dem Material (Abb. 5) können gleichsam wertvolle Hinweise über den Entwicklungsstand der Kinder gewonnen werden, wie etwa: ■ Versteht das Kind die Aufgabenstellung und kann sie umsetzen? ■ Welche Hand bevorzugt das Kind spontan? ■ Welche Hand ist die Operationshand, welche die Haltehand? ■ Ist ein Zangengriff beim Einreißen möglich? ■ Wie ist die Kraftdosierung und kann das Kind vor dem Boden rechtzeitig abstoppen? Abb. 5.: Das Anfertigen der Krake Innerhalb der Auseinandersetzungen mit den verschiedenen »Rhythmen« kann diagnostisch, im Sinne von Auseinandererkennen, erhoben werden: ■ Erkennt das Kind den Unterschied zwischen langen und kurzen »Tönen«? ■ Kann ein Kind selbst einen »Rhythmus« planen und vorspielen? ■ Kann das Kind sich den gehörten Rhythmus merken und kann es den Rhythmus nachspielen? ■ Versteht das Kind die Repräsentationen auf Papier als abgebildete Symbole der durchgeführten Handlung? Spielen mit einem selbstgebauten Ufo Die Bauanleitung eines Ufos ist der »Krake« nahezu identisch, jedoch müssen nun die »Flügel« im rechten Winkel gebogen werden. Wichtig ist zudem der Abstand von einem Daumen breit vom Boden, damit sich das Ufo gut anfassen und drehen lässt (Abb. 6). Auch hier gilt je nach Entwicklungstand der Kinder die eigenständige Aufteilung oder eine Vorbereitung des Materials durch die pädagogische Fachkraft. Die an die Kinder gerichteten anregenden Aufgabenstellungen zur Drehbeweglichkeit der Handgelenke und der Arme können sein: [ 206 ] 4| 2018 Praxistipp ■ »Schau mal, wie dein Ufo zum Fliegen gebracht werden kann! « (Abb. 7) ■ »Geht es einfacher vom Körper weg oder zum Körper hin? « ■ »Mit welcher Hand lässt sich das Ufo besser drehen? Probiere mal beide Hände aus! « ■ »Wenn du dir noch ein zweites Ufo von jemanden leihst, kannst du auch beide Ufos gleichzeitig drehen! « (Diadochokinese) ■ »Versuche dein Ufo auf einem bestimmten Punkt zu landen! « ■ »Überlege dir eine eigene Spielidee! « Abb. 6 und 7: Verschiedene Einsatzmöglichkeiten und Drehrichtungen des Ufos Bezug zum Schriftspracherwerb: bildliche Repräsentationen des Ufos Auf eine intensive Spielphase sollte die an die Kinder gerichtete Frage folgen, wie der Bau des Ufos selbst und die Spielideen bildlich festgehalten werden können. Hier bieten sich verschiedene Techniken des Abbildens an: Das Nachzeichnen der Ränder des Objekts (das Ufo wird auf ein Papier gelegt und in seinen Begrenzungen nachgezeichnet) (Abb. 8), das Abfrottieren eines Objekts (das Objekt wird unter ein Papier gelegt und mit einem Wachsmalblock abgemalt und die Grenzen werden sichtbar) oder die Kinder malen die Handlungen aus ihrem Erleben heraus nach (Abb. 9). Abb. 8: Das nachgezeichnete Ufo Abb. 9: Bildliche Darstellung der erlebten Handlung Als Alternative zum vorstrukturierten und funktional festgelegten Spielmaterial sind Alltagsmaterialien variabel, motivierend und kindgemäß mit hohem Aufforderungscharakter. Für entwicklungsrelevante Erfahrungen innerhalb grafomotorischer Förderprozesse sind sie aufgrund ihrer Vielfältigkeit geradezu genial. Michael Wendler DOI 10.2378 / mot2018.art31d Schlussbemerkung