eJournals motorik 42/1

motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2019
421

Auf den Punkt gebracht: Wissen kompakt: Handlungsprinzipien der Motogeragogik

11
2019
Thesi Zak
Marianne Eisenburger
Motogeragogik ist der Bereich der Psychomotorik, der sich auf den Lebensabschnitt Alter bezieht. Es stellt ein theoriegeleitetes Praxiskonzept dar, welches von Marianne Eisenburger (1998; 2012) entwickelt und weiterentwickelt wurde. Gerade im Pflegeheim, in dem sehr alte, körperlich und / oder geistig eingeschränkte Menschen leben, bietet die Motogeragogik eine wunderbare Möglichkeit, diese zu erreichen und zu begleiten. Bewegung dient dabei als Medium, mit ihnen in Kontakt zu kommen, sie auch ohne Sprache zu verstehen, zu ihnen eine Beziehung aufzubauen und sie dabei zu unterstützen, in Eigentätigkeit zu kommen. [...]
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1 | 2019 motorik, 42. Jg., 28-30, DOI 10.2378 / mot2019.art05d © Ernst Reinhardt Verlag [ 28 ] [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Wissen kompakt: Handlungsprinzipien der Motogeragogik »Dass ich DAS noch kann! « Thesi Zak, Marianne Eisenburger Motogeragogik ist der Bereich der Psychomotorik, der sich auf den Lebensabschnitt Alter bezieht. Es stellt ein theoriegeleitetes Praxiskonzept dar, welches von Marianne Eisenburger (1998; 2012) entwickelt und weiterentwickelt wurde. Gerade im Pflegeheim, in dem sehr alte, körperlich und / oder geistig eingeschränkte Menschen leben, bietet die Motogeragogik eine wunderbare Möglichkeit, diese zu erreichen und zu begleiten. Bewegung dient dabei als Medium, mit ihnen in Kontakt zu kommen, sie auch ohne Sprache zu verstehen, zu ihnen eine Beziehung aufzubauen und sie dabei zu unterstützen, in Eigentätigkeit zu kommen. Dadurch erleben und spüren die Menschen, dass sie in der Lage sind, aus eigenen Stücken, eigener Kraft etwas zu tun und dies auch gelingt - das hat positive Einflüsse auf ihr Selbstwertgefühl. Verstehen Das Gefühl, verstanden zu werden, ist eine unabdingbare Basis, sich wohl und sicher zu fühlen - erst dann kann man sich auf das Geschehen einlassen. Verstehen, was unverständlich und absonderlich erscheint, ist in der Begleitung von Menschen mit Demenz zunächst eine große Herausforderung - verstehen, was hinter dem sichtbaren Verhalten steht und darauf empathisch reagieren, ist die Lösung. Folgendes Beispiel: Zu den Motogeragogikstunden kam Frau Bauer 1 mit ihrer Handtasche, die sie immer fest umklammert auf dem Schoß hielt. Um in Beziehung zu kommen, gilt es hier, nicht nur »gewähren« zu lassen, sondern zu verstehen, was die Dame hiermit zum Ausdruck bringt: Sie braucht Schutz und Halt. Wir spiegeln ihr dies wider: Sie kann dabei sein in ihrer persönlichen Weise, sie muss nicht »mitmachen«, wird nicht belächelt oder gar »erzogen«. Frau Bauer erlebt und spürt, dass wir sie verstanden, ihr Bedürfnis erkannt haben und ihr dementsprechend behutsam begegnen. Sie kann sich angenommen, wertgeschätzt, respektiert und somit wohlfühlen. Für uns erkennbar war es daran, dass sich Frau Bauer nach und nach die Tasche über den Arm hing, damit sie besser mit dem Material hantieren konnte. Später stellte sie schon zu Beginn der Stunde ihr Objekt zum Festhalten und zum Schutz auf den Boden und nach etwa einem Jahr ließ sie die Tasche in ihrem Zimmer stehen - sie brauchte den Schutz nicht mehr. Grundlage des Konzeptes der Motogeragogik ist eine wertschätzende, empathische Haltung, die eine Atmosphäre der Sicherheit und eine Oase des Wohlfühlens schafft (Eisenburger / Zak 2013). 1 alle Namen wurden geändert. [ 29 ] Eisenburger • Wissen kompakt: Handlungsprinzipien der Motogeragogik 1 | 2019 [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Freudvolles Erleben: Inneres und äußeres aktiv werden Das erste positive Erleben bei Frau Bauer war das der Atmosphäre - das Angenommensein und Verstandenwerden. Diese grundlegende Haltung rahmt und bestimmt die motogeragogischen Stunden. Sie lässt die teilnehmenden Menschen zusehends erwachen, ermutigt sie, sich einzulassen und Stück für Stück selbst aktiv zu werden. Nicht große Sensationen sind es, die gleich ins Auge springen. Oft sind es kleinste Regungen, die wir erst lesen lernen müssen und die ein erstes Anzeichen geben, dass sich im Inneren des Menschen schon etwas in Bewegung gesetzt hat, was nun - bei genauem Hinsehen - äußerlich sichtbar wird: eine veränderte, etwas aufgerichtete Körperhaltung, offene Augen und ein Blick, der dem Geschehen im Sitzkreis folgt oder ein erstes, selbsttätiges Zugreifen, wenn die motogeragogische Begleitung das Material für die Stunde anbietet. Auch die kleinste Tätigkeit wird von der motogeragogischen Gruppenleitung gesehen, moderiert und gespiegelt. So streicht Frau Schneider beispielsweise quasi automatisch immer wieder über das gefaltete Tuch, das sie gerade aus dem Körbchen genommen und auf ihren Schoß gelegt hat. »Ja, Frau Schneider, auch das kann man mit dem Tuch machen - darüber streichen und spüren, wie glatt es ist.« Frau Schneider wird jetzt erst bewusst, was ihre Hände automatisch taten. Sie blickt auf und - lächelt. Ihre Tätigkeit wurde wertgeschätzt und lächelnd bestätigt. Genau in diesen Momenten zeigt sich: Der Kontakt ist angebahnt. Dieses erste Lächeln bringt oft den Startschuss dafür, dass die Teilnehmenden zusehends bewusster werden und mehr in Bewegung kommen. Das, was man tut, positiv zu erleben und von anderen positiv rückgespiegelt zu bekommen, das ist etwas, was wir alle von Beginn der Entwicklung an stets brauchen. Selbstwert durch Erfolgserlebnisse, die SELBST getan werden Im Alterungsprozess muss der Mensch mehr und mehr die Erfahrung machen, dass viele von den im Alltag zu bewältigenden Tätigkeiten langsamer, mühseliger und plötzlich gar nicht mehr zu schaffen sind. Immer deutlicher macht er die frustrierende Erfahrung, dass »es nicht mehr so geht wie früher« bis hin zur bitteren Erkenntnis, dass manches gar nicht mehr möglich ist. In der Kindheit erfährt der heranwachsende Mensch täglich ein Mehr an Können und damit einhergehend ein Mehr an Zutrauen in sich selbst und seine Fähigkeiten. Im Alter kann sich dieser Prozess quasi umkehren. Somit ist es nicht verwunderlich, dass das Selbstbewusstsein stetig an Intensität verliert, der alte und möglicherweise auch kranke Mensch dauerhaft das Gefühl in sich trägt, nichts mehr zu können und somit nichts mehr wert zu sein. Mit einem immer mehr schwindenden Selbstbild und Selbstwert droht die Person, in tiefe Frustration und nicht selten in die Depression zu sinken. Nach Außen wird es häufig sichtbar in versteinerten bzw. völlig abwesend wirkenden Gesichtszügen und einer eingesunkenen Körperhaltung. Dagegen kann sich dies im positiven Erleben, das motogeragogische Begegnungen bietet, geradezu schlagartig ändern - erfreulicher Weise auch nach außen sichtbar - je kontinuierlicher der Mensch die Chance hat, diese zu erfahren, desto nachhaltiger. Es ist wichtig, dass die Teilnehmenden die Erfahrung machen, dass es kein Richtig und kein Falsch gibt, dass sie nichts »falsch machen« können. Die Devise lautet: »Es ist gut so wie es ist - alles was Sie hier tun, wird gesehen, aufgegriffen und wertgeschätzt« - eben ohne Bewertung (Eisenburger 2012). So ist beispielsweise für Herrn Becker das größte Vergnügen, mit dem Wasserball Fußball zu spielen, Frau Walter dagegen folgt die ganze Zeit mit aufmerksamem Blick dem Geschehen. Nun ist es an der motogeragogischen Gruppenleitung, beiden zurückzuspiegeln, dass ihr jeweiliges Tun bemerkt wird. Was beim Kommentar zu Fußball nicht schwer ist - aber es darf nicht vergessen werden, auch Frau Walter zurückzumelden: »Sie sind heute aber eine aufmerksame Zuschauerin! « Und wenn Frau Walter in dieser Stunde fast nur schlief, bekommt auch sie die lächelnde Rückmeldung: »Sie waren heute aber ganz schön müde.« Entscheidend ist auch, dass es keine »Übungen« gibt, die es zu erfüllen gilt - jede Person fin- [ 30 ] [ 30 ] 1 | 2019 Auf den Punkt gebracht det seine ihm gemäße Form des Umgangs und Hantierens. Die Formulierung der motogeragogischen Gruppenleitung lädt dazu ein, Ideen zu finden, das jeweils verwendete Material in Bewegung zu bringen. Eine Standartformulierung ist z. B. »Was kann man alles damit machen? « Oder enger gefasst, z. B. bei Chiffontüchern, »Wie kann man sie zum Fliegen bringen? « (Eisenburger / Zak 2013). Hören die Menschen, dass sie sich in Bewegung bringen mögen (z. B. »Strecken Sie die Arme in die Höhe«), kommt oft zur Antwort, dass sie sich nicht mehr bewegen können oder wollen. Geht es darum, das Material zu bewegen, wird es auf einmal möglich, ins Tun zu kommen. Durch das Aufgreifen und Widerspiegeln der vielen (noch so kleinen) Ideen signalisiert die motogeragogische Begleitung den Menschen, dass das, was sie eben getan haben, gesehen wurde, vielleicht auch von den anderen TeilnehmerInnen, und es hat möglicherweise etwas Beschwingtes, Leichtes und Fröhliches in den Kreis gebracht. Dadurch setzt sich ein Kreislauf in Bewegung. Die Bestätigung des Erfolgs des eigenen Handelns verlockt die Personen dazu, weiter dran zu bleiben, eine weitere Chance des Gesehenwerdens und der Wertschätzung zu nutzen. Somit kommt immer mehr Eigentätigkeit, Lebendigkeit und Schwung in die Runde. Die Erfahrung zeigt: Sogar HeimbewohnerInnen, die sonst bei keinerlei Angebot mehr mitmachen, äußern nach einigen Malen, dass sie dabei sein möchten. Neulich in einem Heim folgende Szene: Eine Dame im Rollstuhl, die ständig vor sich hin wimmert, sitzt in einiger Entfernung des Kreises. Mit einem Mal werden ihre Töne lauter und plötzlich vernimmt man das Wort »spielen«. Die motogeragogische Gruppenleitung fragt nach, ob sie richtig verstanden habe, dass sie im Kreis mitspielen möchte. Darauf richtet sich die Bewohnerin auf, blickt klar in die Augen der motogeragogisch ausgebildeten Person und sagt ganz »normal«: »Ja bitte. Spielen möchte ich mit Ihnen! « Seither nimmt die Dame einmal pro Woche teil. Und auch ihr kam mittlerweile ein Satz über die Lippen, welcher im motogeragogischen Erleben oft zu hören ist: »Dass ich DAS noch kann! «, begleitet von einem strahlenden Lächeln. Literatur Eisenburger, M. (2012): »Zuerst muss die Seele bewegt werden.« Psychomotorik im Pflegeheim. Ein theoriegeleitetes Praxisbuch. verlag modernes lernen, Dortmund Eisenburger, M. (1998): Aktivieren und bewegen. Meyer & Meyer, Aachen Eisenburger, M., Zak, T. (2013): Bewegte Begegnungsstunden für Menschen mit Demenz. Meyer & Meyer, Aachen Die Autorinnen Thesi Zak Seit 2002 als selbstständige, mobile Motopädagogin und Motogeragogin in der psychomotorischen Entwicklungsbegleitung mit Menschen zwischen 3 und 103 Jahren, sowie in der Erwachsenen Fort- und Weiterbildung europaweit tätig; Referentin bei zahlreichen Veranstaltungen im In- und Ausland zum Thema Motopädagogik und Motogeragogik Dr. Marianne Eisenburger Dipl. Päd. und Sportpädagogin Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Motologie, Arbeitsschwerpunkte: Psychomotorik im Alter, Psychomotorik und Demenz. Zahlreiche Veröffentlichungen zu diesen Themen; Fortbildungstätigkeit bei div. Fortbildungsträgern und in der stationären und ambulanten Altenhilfe. Leiterin von Bewegungsgruppen im Altenheim und Betreuungsgruppe für Demenzkranke. Anschrift Thesi Zak Draugasse 7 / Haus 167 A-1210 Wien thesi@motogeragogik.org