eJournals motorik 42/1

motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2019
421

Praxistipp: Ein motogeragogisches Tanzvermittlungsmodell

11
2019
YoonSun Huh
Alexandra Steinke
Die vorliegende Darstellung befasst sich mit der Entwicklung eines motogeragogischen Tanzvermittlungsmodells für eine im Heim lebende Gruppe von SeniorInnen. Die Intension der motoger­agogischen Arbeit ist es, durch die Erfahrung des Könnens von Bewegungen ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens in das eigene Können zu vermitteln und dadurch eine individuelle Freiheit zu erschaffen. Aber auch das Erfahren von Grenzen und das Wissen darüber kann die Möglichkeit bieten, sich auf mögliche Grenzen einzustellen und somit eine emotional stabilisierte Handlungskompetenz im Umgang mit diesen zu erlernen. Die Motogeragogik verfolgt dabei das Ziel, die persönlichen Ressourcen zu stärken und den SeniorInnen durch geeignete Angebote die Gefühle von Handhabbarkeit, Bedeutsamkeit und Verstehbarkeit zu vermitteln (Eisenburger 2005, 20 f). Das vorliegende Tanzkonzept basiert auf der motogeragogischen Sichtweise und verknüpft die Bereiche Motogeragogik und Tanz. [...]
7_042_2019_001_0031
[ 31 ] Praxistipp 1 | 2019 [ PRAXISTIPP ] Ein motogeragogisches Tanzvermittlungsmodell Vom Sitztanz zum gemeinsamen Kreistanz Die vorliegende Darstellung befasst sich mit der Entwicklung eines motogeragogischen Tanzvermittlungsmodells für eine im Heim lebende Gruppe von SeniorInnen. Die Intension der motogeragogischen Arbeit ist es, durch die Erfahrung des Könnens von Bewegungen ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens in das eigene Können zu vermitteln und dadurch eine individuelle Freiheit zu erschaffen. Aber auch das Erfahren von Grenzen und das Wissen darüber kann die Möglichkeit bieten, sich auf mögliche Grenzen einzustellen und somit eine emotional stabilisierte Handlungskompetenz im Umgang mit diesen zu erlernen. Die Motogeragogik verfolgt dabei das Ziel, die persönlichen Ressourcen zu stärken und den SeniorInnen durch geeignete Angebote die Gefühle von Handhabbarkeit, Bedeutsamkeit und Verstehbarkeit zu vermitteln (Eisenburger 2005, 20 f ). Das vorliegende Tanzkonzept basiert auf der motogeragogischen Sichtweise und verknüpft die Bereiche Motogeragogik und Tanz. Bedeutung von Tanz für ältere Menschen Das Sich-Bewegen zur Musik ist für alte Menschen von großer Bedeutsamkeit. Sind sie sonst in ihren starren und steifen Körpern gefangen, löst der Klang von Musik intuitive Bewegungen der Hände und Füße aus, der gesamte Körper gerät plötzlich in Bewegung (Eisenburger 2008, 44). Das Tanzen aktiviert bei älteren Menschen auch eine Vielzahl an Emotionen. Es werden Erinnerungen geweckt, die sonst im Verborgenen bleiben, sodass zeitweise eine alte Lebensfreude zurückkehrt (Meusel 1999, 111). Besonders hervorzuheben ist diese Bedeutung des Tanzens für Demenzerkrankte. Was ihr Gehirn bereits vergessen hat, wird über Bewegung und Musik wieder lebendig: »Wenn Worte versagen, bildet Bewegung die Brücke, auf der wir die Menschen erreichen« (Eisenburger 2014, 239). Zudem beinhaltet Tanzen eine wichtige soziale Komponente für die älteren Menschen. Der häufig auftretenden Isolation der SeniorInnen kann durch Tanzen in Gemeinschaft entgegengewirkt werden, insbesondere Berührungen und Bewegungen, wie gemeinsames Schunkeln im Kreistanz, tragen wesentlich dazu bei (Hartogh / Wickel 2008, 124 f ). Eine Tanzstunde im Altenheim In der Praxis wurde das Modell mit einer sehr heterogenen Gruppe im Altenheim erprobt, in der das Durchschnittsalter bei ca. 78 Jahren lag. Bewusst ist es für diejenigen konzipiert, die nicht mehr im Vollbesitz ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit sind. So schließt die Tanzstunde auch ältere Menschen mit Demenzerkrankungen ein. Das Modell ist für eine Bewegungsstunde (60- Minuten) im Altenheim ausgelegt. Vermittlungsziele sind z. B. ■ sich selbst als handlungsfähig erleben und die eigenen Widerstandsressourcen wecken, ■ soziale Beziehungen im Tanz aufbauen und sich einer Gruppe zugehörig fühlen, ■ Tanzen als lustvolle Bewegungsform entdecken, ausüben und bewerten, ■ physische Mobilität und Stabilität positiv anregen. Einstieg: Miteinander warm werden Der Beginn der Stunde ist durch einen sehr individuenbezogenen Ansatz geprägt. Durch die persönliche Zuwendung wird der Rahmen für eine geborgene Atmosphäre gesteckt. Die Gruppenleitung heißt jede Person persönlich willkommen, indem sie reihum kurz, aber intensiv Kontakt zu den SeniorInnen aufnimmt und so allen das Gefühl gibt, wichtig für das Geschehen zu sein (Abb. 1). Bevor zu intensiven Bewegungen übergegangen wird, muss die Muskulatur zunächst erwärmt werden. Wichtig ist vor allem, dass alle Körperpartien angesprochen werden, damit die Teilnehmenden nach oftmals tagelanger Inaktivität wieder ein Gefühl für ihren eigenen Körper entwickeln. [ 32 ] [ 32 ] 1 | 2019 Praxistipp Hauptteil: Vom Sitztanz zum Kreistanz A. Einführen der Bewegungsfolge im Sitzen Für einen sanften Einstieg wird zuerst mit einer Vorstellung des Liedes »Liebe kleine Schaffnerin« begonnen, das einmal am Stück ohne besonderen Auftrag abgespielt wird. Mitsingen ist ausdrücklich erwünscht. Nun geht es um das Erlernen der Tanzschritte, die später im Kreistanz gebraucht werden. Dabei werden die Bewegungen durch ein Mitsprechen des Liedtextes begleitet. Die SeniorInnen lernen die dazugehörigen Bewegungen zunächst trocken kennen und setzen sie danach zur Musik um (Abb. 2). Wenn zum Schluss alle Teilabschnitte erlernt und geübt sind, kann alles zu einem zusammenhängenden Tanz zusammengefügt werden. Die Gruppenleitung übernimmt hier durch lautes Mitsprechen das Einläuten der nächsten Bewegungen. B. Erlerntes im Kreistanz anwenden Nach einer Trinkpause geht es mit dem Höhepunkt der Tanzstunde weiter - dem Kreistanz im Stehen. Alle Elemente bleiben im Kern bestehen, auch das gemeinsame Schunkeln wird beibehalten (Abb. 3). Aufgabe der Leitperson bleibt es weiterhin, Bewegungen sprachlich zu untermauern. Ausklang Auf den regsamen Tanz folgt eine Entspannungsphase. In dieser Phase soll es vor allem um eine Rückbesinnung zu sich selber gehen, die die Spannung in eine innere Ruhe umleitet. Die Teilnehmenden können individuell in ihrem Tempo ihren Körper massieren und streicheln, sodass sie am Ende der Einheit ganz bei sich sind. Anschließend werden die SeniorInnen aufgefordert, ihre Erinnerungen und Gedanken zu der erlebten Stunde zu äußern. Zuletzt wird nach den Erfahrungen der SeniorInnen mit Tanzen gefragt, die sie in ihren Leben gemacht haben. So kann die Stunde in einen größeren Sinnzusammenhang eingeordnet werden. Reflexion Die Bewegungsstunde war offiziell als Tanzstunde mit und ohne Rollatoren ausgeschrieben. Dass es in der tatsächlichen Tanzgestaltung letztlich nicht zum Einsatz der Rollatoren gekommen ist, hatte einen sehr erfreulichen Grund: Alle Teilnehmenden hatten von sich aus den Anspruch, es ohne Rollator zu versuchen. Die Tatsache, dass die SeniorInnen den kompletten Tanz ohne Hilfsmittel absolvieren konnten, hat mehrere positive Effekte: Die Lossagung vom alltäglichen Stützgerät, das für viele zu einem essentiellen Bestandteil einfachster tagtäglicher Aktivitäten geworden ist und für einige bereits als metaphorisches Gefängnis wahrgenommen wird, kam für viele der Teilnehmenden einer (symbolischen) Abb. 2: Erlernen der Tanzschritte im Sitzen Abb. 3: Kreistanz im Stehen Abb. 1: Persönliche Begrüßung [ 33 ] [ 33 ] Praxistipp 1 | 2019 Befreiung gleich. Mussten viele von ihnen nach Ende der Stunde wieder auf den Rollator zurückgreifen, war es doch eine zwischenzeitliche Zurückerlangung von Freiheit und Unabhängigkeit. In Bezug auf die gesteckten Ziele der Motogeragogik sind die Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit der Situation an dieser Stelle entscheidend. Die älteren Menschen hatten genügend Vertrauen in ihre eigenen Ressourcen, um die Herausforderung zu meistern. Der Verzicht auf den Rollator hatte zudem Einfluss auf das Selbstkonzept und die Selbstwirksamkeit der SeniorInnen. Ein weiterer positiver Effekt der Stunde, der sich erst im Nachhinein herauskristallisiert hat, ist die Anregung des Gedächtnisses der Teilnehmenden. Eingebettet in eine lustvolle Aufgabe, wie das Tanzen, scheinen erforderliche Gedächtnisleistungen den SeniorInnen deutlich leichter zu fallen. Auffallend war das Bedürfnis, sich während des Tanzens an den Händen festzuhalten. Hier können zwei Überlegungen angestellt werden: Zum einen deutet dies auf ein hohes Bedürfnis nach Kontakt zur Gruppe hin, es herrscht ein größeres Gemeinschaftsgefühl, wenn man die anderen spürt. Die Verbundenheit scheint von einer ganz besonderen Art zu sein. Die Tatsache, dass die SeniorInnen sich aneinander festhalten wollten, ist auch ein Hinweis auf ein Sich-Unsicherfühlen einzelner SeniorInnen, wenn sie die gesamte Zeit ohne Stützhilfe tanzen müssten. Hier zeigt sich eine weitere Chance des Kreistanzens für SeniorInnen: die Förderung des Gleichgewichtssinns. Literatur Eisenburger, M. (2014): Motogeragogik: Psychomotorik im Alter. In: Kurs. A., Jasmund, C. (Hrsg.): Psychomotorik in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern. Kohlhammer, Stuttgart, 225-239 Eisenburger, M. (2008): Aktivieren und Bewegen. 4. Aufl. Meyer & Meyer, Aachen Eisenburger, M. (2005): Zuerst muss die Seele bewegt werden. verlag modernes lernen, Dortmund Hartogh, T., Wickel, H. (2008): Musizieren im Alter: Arbeitsfelder und Methoden. Schott, Mainz Meusel, H. (1999): Sport für Ältere. Bewegung - Sportarten - Training. Handbuch für Ärzte, Therapeuten, Sportlehrer und Sportler. Schattauer, Stuttgart YoonSun Huh, Alexandra Steinke DOI 10.2378 / mot2019.art06d Schrittfolge »Liebe kleine Schaffnerin«, Kreistanz Teil A) 2x acht Zählzeiten: an den Händen fassen und schwingen Teil B) 2x acht Zählzeiten: rechter Arm macht einladende Geste (1-2), linker Arm macht einladende Geste (2-4), Schultern nach rechts, links schwingen (4-8) & Wiederholen Teil C) 6x acht Zählzeiten: an den Händen fassen, in die Mitte gehen (1-4), Hände dreimal mit PartnerIn zusammenführen (4-8); wieder zurückgehen (1-4), Hände wieder zusammenführen (4-8); im Kreis weitergehen (1-4), rechts, links tippen (4-8); linker Arm zwei Achterbewegungen (1-4), rechter Arm zwei Achterbewegungen (4-8); im Kreis weitergehen (1-4) und linker Arm zwei Achterbewegungen (4-8), rechter Arm zwei Achterbewegungen (1-4) und in Ausgangposition kommen (4-8) Wiederholung von Teil A, B, C und Ende