eJournals motorik 42/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Forum Psychomotorik: Selbstreflexion und achtsame Körperwahrnehmung für psychomotorische Fachkräfte

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2019
Matthias Schäfer
Die Selbstreflexion wird als wichtiger Bestandteil der professionellen Haltung von PsychomotorikerInnen gesehen. Sie bezieht sowohl theoretische Begriffe als auch Erkenntnisse aus der Biographiearbeit mit ein. Als besonders wichtig wird die Reflexion der Begriffe Leib und Körper erachtet. Hermann Schmitz bietet mit der neuen Phänomenologie eine umfassende Theoriegrundlage, die einen Zugang zum Verständnis vom eigenleiblichen Spüren ermöglichen kann. Der vorliegende Artikel soll einen Einstieg in Theorie und Praxis der achtsamen Körperwahrnehmung bieten.
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Zusammenfassung / Abstract Die Selbstreflexion wird als wichtiger Bestandteil der professionellen Haltung von PsychomotorikerInnen gesehen. Sie bezieht sowohl theoretische Begriffe als auch Erkenntnisse aus der Biographiearbeit mit ein. Als besonders wichtig wird die Reflexion der Begriffe Leib und Körper erachtet. Hermann Schmitz bietet mit der neuen Phänomenologie eine umfassende Theoriegrundlage, die einen Zugang zum Verständnis vom eigenleiblichen Spüren ermöglichen kann. Der vorliegende Artikel soll einen Einstieg in Theorie und Praxis der achtsamen Körperwahrnehmung bieten. Schlüsselbegriffe: Selbstreflexion, Psychomotorik, Bewusstsein, Leib, Körper, Atmosphäre, Achtsamkeit Self-reflection and mindful body awareness for psychomotor professionals Self-reflection is an important part of the professional attitude of psychomotor therapists. It includes theoretical concepts as well as results from biographical reflections, in particular about the term »body«. Hermann Schmitz offers a comprehensive theoretical basis, which can provide access to the understanding of one's own sensed body (»Leib«). This article is intended as an introduction to theory and practice of mindful body awareness. Key words: self-reflection, psychomotricity, awareness, sensed body, body, atmosphere, mindfulness [ TITELRUBRIK ] [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Selbstreflexion und achtsame Körperwahrnehmung für psychomotorische Fachkräfte Matthias Schäfer In ihrem Lehrbuch Psychomotorik arbeitet Kuhlenkamp (2017, 116) die Selbstreflexion als wichtigen Bestandteil einer professionellen Haltung in der Psychomotorikheraus: »Psychomotorische Fachkräfte wirken durch ihre leibliche Persönlichkeit, sie müssen sich daher im Rahmen von Selbstreflexion immer wieder mit ihrer eigenen (Bewegungs-)Biografie, ihren Erwartungen, ihrer Haltung, ihren Konstruktionen, ihrem Bewegungsverständnis etc. auseinandersetzen«. Dabei betont Kuhlenkamp (2017, 116), dass es für die Begründung von professionellem Handeln nicht ausreiche darauf zu verweisen, dass man als Fachkraft aus dem Bauch heraus handelt. Das psychomotorische Handeln müsse fachlich fundiert und mit Rückgriff auf die psychomotorischen Handlungsprinzipien und eigenen Vorerfahrungen reflektiert und begründet werden. Jessel (2017, 112) postuliert in diesem Zusammenhang: »Für die Entwicklung psychomotorischer Könnerschaft und Expertise ist es unabdingbar, dass Lernende und Professionelle ihre Aufmerksamkeit auch auf leibliche und zwischenleibliche Resonanzphänomene richten«. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die psychomotorische Fachkraft in ihrer Professionalität auf zwei unterschiedliche Aspekte von Wahrnehmung zurückgreift. Erstens auf den Aspekt der Intuition, dem nicht-planbaren Handeln aus dem Bauch heraus und zweitens auf den Aspekt der theoretischen Begriffe, die das Handeln begründen können. Die Herausforderung, die sich hier für die Fachkraft ergibt, ist intern zwischen beiden Aspekten zu vermitteln. Dazu erscheint es notwendig, dass sie sich im Rahmen der Selbstreflexion mit dem eigenen Verständnis von Leib, Körper und Person auseinandersetzt. Der vorliegende Artikel soll daher in die Grundlagen der 2| 2019 motorik, 42. Jg., 58-63, DOI 10.2378 / mot2019.art11d © Ernst Reinhardt Verlag [ 58 ] [ 58 ] [ 59 ] Schäfer • Selbstreflexion und achtsame Körperwahrnehmung 2| 2019 Leibphilosophie nach Schmitz einführen und im Anschluss einen möglichen Zugang zur leiblichen Selbstreflexion entwickeln. Der Philosoph Hermann Schmitz (geb. 1928) beschäftigt sich in seinem Werk sehr ausführlich mit dem Verhältnis zwischen Leib und Person und entwickelt in mehr als 50 Büchern ein eigenes System der Philosophie, das er als die »Neue Phänomenologie« bezeichnet. Der Körper als Subjekt und Objekt Der eigene Körper kann im Spiegel wie ein Objekt im dreidimensionalen Raum wahrgenommen werden. Der Körper erscheint hier wie ein Gegenstand- -- er kann gemessen, ertastet, geschmeckt und gerochen werden. Genauso kann er mit anderen Körpern und Gegenständen verglichen werden. Der Körper ist ein Körper unter Körpern (Böhme 2012). Aus dieser Perspektive kann der Körper wie eine Maschine erscheinen. Die Organe sind wie einzelne Bauteile, die für das Gesamtsystem eine ganz bestimmte Funktion erfüllen. Im Labor können Proben entnommen werden, deren Gehalt gemessen und mit Standardwerten abgeglichen werden kann. So ergeben sich Krankheitsbilder als Abweichung von Normwerten und Therapien als Methoden, diese Normwerte wiederherzustellen (z. B. durch die Vergabe von Medikamenten). Genauso kann der Körper in Bezug auf ästhetische Idealbilder digital und chirurgisch modifiziert und angepasst, oder Sport und Ernährung zur Formung des Körpers gezielt eingesetzt werden. Aus einer rein reduktionistisch-naturwissenschaftlichen Perspektive, die sich nur mit den objektiven Tatsachen beschäftigt, wird der Körper als Objekt beschrieben, alles Weitere wird davon getrennt und der Psyche zugeschrieben (Böhme 2012; Schmitz 2016). Die Leibphilosophie nach Schmitz gibt sich mit diesem Menschenbild, das im Wesentlichen aus einem Körper-und-Psyche-Dualismus besteht, nicht zufrieden und führt mit seinem Leibbegriff die für ihn entscheidende Instanz ein, die den Menschen in seiner subjektiven Natur beschreibt. Die entscheidende Frage der Subjektivität ist: Woher weiß ich, dass dieser Körper, den ich im Spiegel sehe, zu mir gehört? Und woher weiß ich, dass dieser Körper mehr ist als nur ein Gegenstand unter vielen? Schmitz (2017) nennt diese Gewissheit die »affektive Betroffenheit«, das leibliche Spüren in einer Intensität und Unmittelbarkeit, die deutlich macht, dass auch wirklich ich es bin, um den es hier geht. Der Grund für die Präsenz des Wissens, dass dieser Körper zu mir gehört, dass ich gemeint bin, wenn ich diesen Körper im Spiegel sehe, ist, dass ich es unmittelbar spüren kann. Unmittelbar heißt ungespalten--- in der affektiven Betroffenheit gibt es keinen Raum für Zweifel oder Interpretationen. Der betroffene Mensch spürt »[…] etwas als sich selbst, also als das, was er ist« (Schmitz 2017, 17). Diese Eindeutigkeit des affektiven Betroffenseins bildet für Schmitz das absolute Ich, das von hier, von eben dieser subjektiven Tatsache ausgehend, zur Selbstzuschreibung, also zum Aufbau von relativen personalen Identitäten über Sprache befähigt ist (Schmitz 2017, 15ff ). Räumlichkeit des Leibes Je nach Fokussierung der Aufmerksamkeit kann der eigene Körper als Objekt, als klar begrenzter Gegenstand im naturwissenschaftlichen Sinne oder als Subjekt im Sinne des Leibes gespürt werden. Böhme (2012) unterscheidet das intentionale Bewusstsein vom Leibbewusstein. Schmitz (2009, 46ff ) beschreibt verschiedene Formen der Räumlichkeit. Der Leib gehört zum Weite- und Richtungsraum, die Wahrnehmung des Körpers als Objekt, der getrennt von seiner Umwelt erscheint, findet im sogenannten Ortsraum statt. Während der Körper als Objekt durch die Haut als äußere Hülle klar umrissen und definiert ist, so ist das subjektiv-leibliche Gefühl dazu geneigt, viel verschwommener zu verlaufen, sich räumlich und unabhängig von den physischen Körpergrenzen auszudehnen. Der leibliche Raum ist nach Schmitz (2009) flächenlos, er ist nicht dreidimensional, sondern eher von atmosphärischem Charakter, wie beispielsweise der Raum des Schalls. Es sind verschiedene weich auslaufende Leibesinseln in der Nähe des Körpers spürbar (Schmitz 2009). Die Dynamik des Leibes beschreibt Schmitz (2016) in der Polarität von Engung und Weitung [ 60 ] 2| 2019 Forum Psychomotorik im vitalen Antrieb. Je mehr die oszillierende Dynamik zur Engung tendiert, desto mehr Spannung entsteht, je mehr sie zur Weitung tendiert, desto mehr Schwellung entsteht. Gefühle sind als räumlich ausgedehnte Atmosphären zu verstehen, von denen ein »Bewussthaber« affektiv betroffen sein kann (Schmitz 2016, 162ff ). Die »Einleibung« (Schmitz 2011, 40) beschreibt das leibliche ineinander Verwobensein in sozialen Situationen. Begegnen sich zwei oder mehrere Menschen, verschränken sich die beteiligten Leiber zu einem gemeinsamen vitalen Antrieb. Die jeweilige Dynamik von Engung und Weitung eines Leibes greift in die Dynamik der anderen Leiber ein. Eine gemeinsame Stimmung kann sich aufschaukeln oder entspannen. So kann die Atmosphäre einer gerade beginnenden Feier noch gespannt sein und sich im Laufe der Zeit in Gelassenheit auflösen. In einem wechselseitigen Tanz der Kräfte von Engung und Weitung, das sich beispielsweise über den leiblichen Blickwechsel vollzieht, trifft der Blick des Einen den Leib des Anderen und umgekehrt. Der Blickwechsel ist ein Ringen um Dominanz von Engung und Weitung. Das Streben nach Dominanz ist hier nicht als persönliche Absicht zweier sich begegnenden Personen zu verstehen, sondern als unterschwellig spürbare leibliche Kommunikation (Schmitz 2011, 31). Im Leib sind soziale Situationen in einem ganzheitlichen Gefüge bereits verschmolzen. Die warme Atmosphäre der Lichtstimmung, die Qualität der frischen Luft am Morgen und auch die weichen Formen der Architektur wirken sich auf das leibliche Befinden aus. Gefühle und Stimmungen sind keine in den Tiefen des Individuums eingeschlossene Privatsachen, sondern sich als Atmosphären ausdehnende und sich wechselseitig zurückreflektierende Resonanzphänomene. Der Leib als Fundament der Persönlichkeit Während der Mensch den Weite- und Richtungsraum, also die leibliche Wahrnehmung, mit den Tieren teilt, ist der Ortsraum mit seiner objektiven und begrifflichen Wahrnehmung eine Eigenschaft, die den Menschvon denTieren unterscheidet. Der Mensch kann sich durch die Sprache (sofern diese entwickelt ist) über die primitive Gegenwart des Leibes erheben und eine begrifflich abstrakte Wirklichkeit erschaffen, die die subjektive empfundene Lebendigkeit auf eine Welt aus objektiven Tatsachen reduziert (Schmitz 2016, 256ff ). Personale Emanzipation ist nach Schmitz (2016) der Prozess, in dem ein »Bewussthaber« sich von seinen präpersonalen Wurzeln entfernt. In diesem Prozess vollzieht sich die Trennung zwischen Person und Umwelt und die Person lernt, mit Selbstbestimmung und Selbstermächtigung auf die Umwelt einzuwirken. Die Person bildet in diesem Prozess eine Eigen- und eine Fremdwelt heraus. Personale Regression hingegen ist der Prozess, in der der »Bewussthaber« zu seinen leiblichen Wurzeln, also zu seinem ungespaltenen Verhältnis zur Umwelt zurückkehrt. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Eigen- und Fremdwelt. Das Spüren des Leibes im Hier und Jetzt erfüllt das Bewusstsein, Atmosphären sind spürbar, die leibliche Kommunikation tritt in den Vordergrund. Beide Prozesse brauchen sich jeweils als Gegenspieler und wechseln sich in einem Kreislauf ab. Die personale Emanzipation kann nicht ohne die Regression, da die Person für die Festigung der Identität den Leib als absolutes Fundament spüren muss. Gleichzeitig kann die Regression nicht ohne die personale Emanzipation, da die Regression einen Verlust der Selbstbestimmung zur Folge hätte (Schmitz 2016, 297ff ) (Abb. 1). Macht es Sinn, hier ein Bewegungsangebot zu initiieren? Dies soll im folgenden Beispiel verdeutlicht werden: Auf die Frage »Wer bist du? « antwortet eine Person im Alltag mit einer Aufzählung von biografischen Eckdaten, wie z. B.: »Ich bin Matthias Schäfer, in Witten geboren, verheiratet, nach meiner Schulzeit habe ich eine Ausbildung zum Gestaltungstechnischen Assistenten absolviert, usw.«. Die Person definiert sich durch objektivierende Sprache, die eine Geschichte und ein Bild von einer Person konstruiert. Dass diese Person aber wirklich dieser Matthias Schäfer ist und nicht jemand anderes, spürt sie leiblich, da sie davon betroffen ist. Die affektive Betroffenheit ist die Basis, der absolute Ankerpunkt für die relative Narration auf der Sprachebene (Schmitz 2017, 15ff ). [ 61 ] Schäfer • Selbstreflexion und achtsame Körperwahrnehmung 2| 2019 Einverleibtes Handeln Trotz aller Vernunft und Bemessung des intentionalen Bewusstseins zeigt sich im Alltag die Wirkung von unwillkürlich leiblicher Dynamik auf das Handeln. Das aus der Erfahrung des Sehens und Tastens herausgebildete perzeptive Körperschema bezieht sich auf die relative Lage der einzelnen Körperteile im Ortsraum: Die Füße sind da unten, da sind meine Hände und hier oben im Gesicht befindet sich meine Nase. Für Schmitz (2016) bezieht sich das perzeptive Körperschema auf die rein sinnlich-objektive Wahrnehmung im Ortsraum und kann für ihn die Dynamik von spontanen und flüssigen Bewegungsabläufen (z. B. die des Tanzes) nicht erfassen und erklären. Hier verweist er wieder auf die ganz eigene Dynamik des Leibes und führt den Begriff des motorischen Körperschemas ein. Mit dem Beispiel des plötzlichen Insektenstiches, in dem die betroffene Person, blitzartig mit der Hand zur exakt richtigen Stelle des Einstichs fährt, macht Schmitz (2016, 176ff ) deutlich, dass die leibliche und spontane Koordination über das sinnliche Bemessen der Raum-Lage-Wahrnehmung und das bewusste und gezielte Einsetzen einzelner Körperteile hinausgeht. Dazu möchte ich ein Beispiel aus meinem Aufenthalt in Südkorea anbringen: Das Essen mit Stäbchen fiel mir bei den ersten Versuchen noch schwer, ich versuchte, die einzelnen Finger meiner Hand bewusst zu koordinieren. Es fühlte sich unnatürlich und fremd an, das Essen entglitt mir immer wieder aus dem unkoordinierten Griff der Stäbchen. Doch nach einigen Tagen der Übung gingen die Bewegungen mir immer leichter von der Hand. Irgendwann bemerkte ich, dass ich die Bewegungen gar nicht mehr bewusst koordinieren musste. Meine Hand bewegte sich wie von selbst, mit unglaublicher Präzision vollzog ich die Bewegungen, ohne dass ich darüber nachdenken musste. Schmitz (2016, 176ff ) schreibt dazu, dass das perzeptive und das motorische Körperschema sich beim Erwerb anspruchsvoller motorischer Kompetenzen im Verlauf der Zeit in der Führung ablösen. Die Bewegung geht ins Leibliche über, die Stäbchen sind in diesem Beispiel in der leiblichen Empfindung keine vom Subjekt getrennten Objekte mehr. Es ist wie bei MusikerInnen, die irgendwann eine gefühlte Einheit mit ihrem Instrument bilden und schon den richtigen Ton treffen, bevor sie Zeit hatten, darüber nachzudenken. Das Leben entfaltet sich aus primitiver leiblicher Gegenwart (Schmitz 2016, 176ff ). Hier lässt sich das Konzept des Habitus nach Bourdieu (1982) anschließen. Die Familiensituation als Kind prägt als leibliche Disposition das Denken und Handeln im weiteren Lebensverlauf. Auch hier geht das erlernte Verhalten ins Leibliche über, steuert von hier aus die Entscheidungen und den ganz individuellen Geschmack einer Person. Im Gegensatz zu Bourdieu (1982), dessen Theorien eher deterministisch erscheinen, lässt Schmitz (2015) durch die zentrale Stellung Abb. 1: Prozess personaler Emanzipation und Regression (in Anlehnung an Schmitz 2016; Böhme 2012) [ 62 ] 2| 2019 Forum Psychomotorik des leiblichen Spürens einen großen Spielraum für die Transformationen von leiblichen Dispositionen zu und sieht durch Freude motivierte Bewegungserfahrungen, die das leibliche Spüren wieder ermöglichen, als einen geeigneten Zugang zur Selbstreflexion. Leibvergessenheit Die Dynamik des Leibes ist rein kognitiv, mit reiner Vernunft und Logik kaum nachzuvollziehen. Es erfordert entweder ein subjektives Nachempfinden und eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den unwillkürlichen Regungen des Selbst oder es erfordert ein konsequentes Verdrängen dieses Bereichs der menschlichen Erfahrung zugunsten eines rein vernunftbasierten Ideals, das seine Erkenntnisse aus den sichtbaren und sichtbar-gemachten objektiven Tatsachen bezieht. Schmitz (2016, 206) bemängelt im Rückblick auf die Philosophiegeschichte das nahezu vollständige Verschwinden der Bedeutung des Leibes als erfahrbares Subjekt. Die Vernunft soll im Sinne der europäischen Intellektualkultur die eigene Natur mit all ihren unwillkürlichen Regungen überwinden und kontrollieren. Das intentionale Bewusstsein wird so zur absoluten Identität erklärt. Der Leib wird somit in die Innenwelt, in den Spalt zwischen Psyche und Körper verdrängt und es wird so getan, als würde es den spürbaren Leib gar nicht geben. Der Leib gerät, bei allem Fokus auf Vernunft und Technik, in Vergessenheit. Für die Naturwissenschaften ist die sich daraus ergebende neutrale und rationale Haltung ein erwünschtes Ideal (Schmitz 2016). Gernot Böhme (2012, 201) arbeitet heraus, dass auch »das aktive Körperbewusstsein, das im Sport entwickelt wird und das ja zu einer hohen funktionalen und emotionalen Identifikation mit dem eigenen Körper führt, durch Leibevergessenheit bestimmt […]« ist. Das Körperbewusstsein ist »[…] auf die Leistung und Perfektion körperlicher Verrichtungen gerichtet« (Böhme 2012, 201). Der Körper wird so zum Willensinstrument gemacht. Der moderne medienvermittelte Körperkult ist Ausdruck der Leibvergessenheit und damit auch der Ausdruck einer Überbewertung des Körpers als Objekt (Böhme 2012). Zugang zur Selbstreflexion für psychomotorische Fachkräfte Das Verlagern der Aufmerksamkeit ins Leibbewusstsein kann alltagsintergiert stattfinden. Als Einstieg kann es sich anbieten, zu versuchen, die Stille hinter den Geräuschen zu hören. Sinnbildlich gesprochen befindet sich hinter jedem Geräusch, die Stille als Raum des Schalls. »Der Raum des Schalls ist ein naher Verwandter des leiblichen Raumes, ebenso frei von Flächen und anderen bezifferbaren Dimensionsstufen […]« (Schmitz 2009, 13). Im Sinne des Leibes ist die Stille als Atmosphäre auch dann spürbar, wenn es laut ist. Eine praktische Handlungsempfehlung für die leibzentrierte Selbstreflexion ist im Alltag vermehrt auf die Stille (unter den Geräuschen) zu achten und wahrzunehmen, ob und wenn ja wie sich der leibliche Spürsinn, gerade auch in der Begegnung mit anderen Menschen verändert. Neben der Stille bietet es sich an, auf die Atmosphäre und die klimatische Beschaffenheit des Raumes zu achten. Schmitz (2016, 227) sieht eine enge Verbindung zwischen dem Fühlen von Gefühlen und dem Fühlen des Wetters. Anstatt die Aufmerksamkeit gezielt auf die sichtbaren und offensichtlichen Inhalte des Raumes, z. B. auf Objekte oder andere Personen, zu richten, kann es hilfreich sein zu versuchen, die gesamte Atmosphäre des Raumes wahrzunehmen. Die Fragestellung im Dialog ist nicht, wie geht es mir oder wie geht es der anderen Person, sondern wie fühlt sich das Klima an, das zwischen uns steht? Sobald die Atmosphäre des Raumes in den Fokus der Aufmerksamkeit genommen wird, kann auch die Empfindung des Leibes deutlicher werden. Hierbei geht es nicht darum, etwas mit den ins Bewusstsein aufsteigenden leiblichen Phänomenen zu tun (Intentionales Bewusstsein), sondern nur darum, sie zu bemerken und ihnen Raum zu geben (Leibbewusstsein). Fazit Der potenzielle Mehrwert für psychomotorische Fachkräfte, die das bewusste Spüren als Teil der Selbstreflexion miteinbeziehen, ist in erster Linie [ 63 ] Schäfer • Selbstreflexion und achtsame Körperwahrnehmung 2| 2019 kein intellektueller Wissensgewinn, sondern eine bewusstere Verankerung im spürbaren Leib. Dazu gehört vor allem eine Ausdifferenzierung des eigenen Körper- und Leibverständnisses und ein bewussteres Wahrnehmen und Verstehen von Resonanzphänomen im Dialog mit KollegInnen und KlientInnen. Des Weiteren bietet das leibliche Spüren und dessen sprachliche Reflexion, die Möglichkeit unbewusste leibliche Dispositionen und Schnittmengen zwischen privater und professioneller Identität zu identifizieren. Was mit Schmitz weiter in den Vordergrund rückt, sind die subtilen Atmosphären der zwischenmenschlichen Dynamik, die in einer vom intentionalen Bewusstsein geprägten Gesellschaft leicht zu übersehen sind, aber für die professionelle Selbstreflexion und die psychomotorische Intervention von großer Bedeutung sind. Die Auseinandersetzung mit der Leibphilosophie nach Schmitz gibt dem Bauchgefühl im professionellen Handeln einen theoretischen Unterbau, bietet Inspiration für die Selbsterkundung und erweitert das Vokabular zur Beschreibung und Einordnung von unwillkürlichen Lebenserfahrungen. Literatur Böhme, G. (2012): Ich-Selbst. Über die Formation des Subjekts. Fink, Paderborn Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Jessel, H. (2017): Embodiment- -- Leiblichkeit- -- Psychomotorik. Zusammenhänge und Implikationen. motorik 40 (3), 108-113 Kuhlenkamp, S. (2017): Lehrbuch Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München / Basel Schmitz, H. (2017): Zur Epigenese der Person. Originalausgabe. Verlag Karl Alber, Freiburg / München Schmitz, H. (2016): Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Originalausgabe. Verlag Karl Alber, Freiburg / München Schmitz, H. (2015): Hermann Schmitz im Gespräch V Über Medizinphilosophie. In: https: / / youtu.be/ JsYmj2BoIJQ, 01.09.2018 Schmitz, H. (2011): Der Leib. De Gruyter, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1515/ 9783110250992 Schmitz, H. (2009): Der Leib, der Raum und die Gefühle. 2. Aufl. Edition Sirius, Bielefeld Der Autor Matthias Schäfer Kommunikationsdesigner, BA Soziale Arbeit (i.A.), seit 2012 Geschäftsführer von Ruhrbewegung gUG (haft.), Fachkraft und Dozent für Psychomotorik und Achtsame Körperwahrnehmung Anschrift Matthias Schäfer Ruhrbewegung gemeinnützige UG (haft.) Brunnenstr. 11 D-45128 Essen m.schaefer@ruhrbewegung.de