motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Fachbeitrag: Bewegungskindheit?
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2019
Anja Voss
Der Beitrag widmet sich der Frage, wie sich aktuelle gesellschaftliche Veränderungen auf das Bewegungsverhalten von Kindern auswirken. Aufbauend auf Definitionen von Kindheit(en) rücken Bewegungskindheiten in den Mittelpunkt des Interesses und es wird aufgezeigt, wie sich sowohl sozialräumliche Veränderungen als auch familiale Bedingungen, Mediatisierungs- und Digitalisierungsprozesse sowie Vorgänge der Institutionalisierung auf die kindliche Bewegungssozialisation auswirken. Anschließend werden Konsequenzen aus den veränderten Bedingungen für ein bewegtes Aufwachsen von Kindern skizziert.
7_042_2019_003_0131
Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag widmet sich der Frage, wie sich aktuelle gesellschaftliche Veränderungen auf das Bewegungsverhalten von Kindern auswirken. Aufbauend auf Definitionen von Kindheit(en) rücken Bewegungskindheiten in den Mittelpunkt des Interesses und es wird aufgezeigt, wie sich sowohl sozialräumliche Veränderungen als auch familiale Bedingungen, Mediatisierungs- und Digitalisierungsprozesse sowie Vorgänge der Institutionalisierung auf die kindliche Bewegungssozialisation auswirken. Anschließend werden Konsequenzen aus den veränderten Bedingungen für ein bewegtes Aufwachsen von Kindern skizziert. Schlüsselbegriffe: Bewegung, Kindheit, Sozialraum, Mediatisierung, Digitalisierung, Institutionalisierung Moved childhood? Social changes and their effects on movement socialisation The paper examines the question of how current social changes affect children’s activity behaviour. Based on definitions of childhood it is shown, how family conditions, mediatisation and digitisation processes as well as processes of institutionalisation effects on movement socialisation in (early) childhood. Subsequently, the consequences of the changed conditions for a moved growing up of children are outlined. Key words: movement, (early) childhood, social space, mediatisation, digitisation, institutionalisation [ FACHBEITRAG ] [ 131 ] motorik, 42. Jg., 131-137, DOI 10.2378 / mot2019.art22d © Ernst Reinhardt Verlag 3| 2019 Bewegungskindheit? Gesellschaftliche Veränderungen und deren Auswirkungen auf kindliches Bewegungsverhalten Anja Voss Kindheit gilt traditionell als die Lebensphase, in der sich Lebenseinstellungen und u. a. auch grundlegende Einstellungen zum Körper und Gewohnheiten des Bewegungsverhaltens begründen (Schinkel/ Herrmann 2017). Allerdings bringt der beschleunigte soziokulturelle Strukturwandel der letzten Jahrzehnte erhebliche Relativierungen und Reformierungen wissenschaftlicher Kindheitskonzepte mit sich. So lassen sich, z. B. anhand der Pädagogisierung und Dramatisierung kindlicher Bewegungsdefizite, gegenwärtig erhebliche Veränderungen in den Diskursen und ihnen zugrundeliegenden Praktiken und Semantiken der Bewegungssozialisation beobachten (Schmidt et al. 2015; Voss 2019). In ihnen können sich, je nach normativer Positionierung, Verluste wie auch Gewinne für die Bedingungen widerspiegeln, unter denen sich Kinder Körpereinstellungen und grundlegende Gewohnheiten des Bewegungsverhaltens aneignen. Im Folgenden sollen solche Verluste und Gewinne anhand (sozial-)räumlicher, familialer, mediatisierter und institutionalisierter Bedingungen, unter denen Kinder derzeit aufwachsen, nachgezeichnet werden. Anschließend werden begründete Konsequenzen aus den veränderten Bedingungen für ein bewegtes Aufwachsen von Kindern vorgestellt. Diskurse über Kindheit Kindheit ist seit einigen Jahren nicht mehr nur eine konkrete Altersphase (0-14 Jahre) und ein [ 132 ] 3| 2019 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Status der Minderjährigkeit, nicht mehr nur eine Entwicklungsphase oder Vorbereitung bzw. ein Übergang zum Erwachsenendasein, sondern eine eigene Lebensphase, ein »Konstrukt generationaler Verhältnisse« (Heinzel 2012, 9) und ein eigenständiger Abschnitt der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen. Nicht zuletzt durch Ariès´ These von Kindheit als »Erfindung« der europäischen Moderne wurde eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kindheit als einem komplexen sozialen Phänomen angestoßen, in der sich die Einsicht durchsetzte, dass jede Epoche ihre eigene »Kindheit« hervorbringt (Bründel/ Hurrelmann 2017, 9). Kindheit wird als eine gesellschaftliche Konstruktion, die historischen Veränderungen unterliegt, begriffen (Marotzki et al. 2005) und ein Wandel der Kindheit geht aus einem Wandel der Gesellschaft hervor (Oswald 2006, 28). So stellt sich auch die Frage, welcher gesellschaftliche Wandel dem derzeit vielfach konstatierten Wandel der Bewegungskindheiten voraus- oder einhergeht. Im Mittelpunkt stehen dabei die Perspektiven der erziehungswissenschaftlich und soziologisch orientierten Kindheitsforschung, die sich insbesondere den »Lebensbedingungen, Alltagserfahrungen und Sozialbeziehungen von Kindern« widmet (Heinzel 2012, 9). (Sozial)räumliche Strukturen Die (sozial-)räumlichenStrukturendeskindlichen Bewegungsalltags haben sich in den letzten Jahrzehnten durch eine Funktionalisierung des öffentlichen Raums für Verkehr, monofunktionale Wohnumgebungen, Dienstleistung und Konsum weitreichend verändert (Kränzl-Nagl/ Mierendorff 2007). Nicht zuletzt findet durch den stetig ansteigenden Fahrzeugbestand (2018 waren im Vergleich zum Vorjahr 1,1-Mill. Fahrzeuge mehr zugelassen, insgesamt fast 64-Mill. (Kraftfahrt-Bundesamt 2018)) eine Reduktion des öffentlichen Raums auf Verkehr statt. Durch eine zunehmende Verstädterung verändert sich die Aufteilung des meist unvermehrbaren Straßenraumes weiter zu Lasten der Aufenthaltsqualität, des zu Fuß Gehens und vor allem zu Lasten einer Straßenkultur. Auf dem Land oder in kleinstädtischen Regionen hingegen ist das sogenannte »Straßenspiel« nach wie vor möglich (Podlich / Kleine 2003). Die Priorisierung der Mobilität von Erwachsenen durch das Auto schränkt die eigenständige Mobilität und das informelle Sporttreiben von Kindern deutlich ein. Dies kann sowohl auf eine veränderte Raumnutzung als auch auf die zunehmende Erwerbstätigkeit beider Elternteile zurückgeführt werden (Richard-Elsner 2017). Eine monofunktionale Wohnumgebung im Sinne von Enklaven oder Ghettos, z. B. ausschließlich mit Büros, Geschäften oder Dienstleistern, birgt die Gefahr in sich, dass die Möglichkeiten der Verbindung von Freizeitgestaltung und sozialem Leben sinken. Stattdessen findet eine Fixierung auf wenige Handlungsbereiche statt, vor allem aber eine Abnahme öffentlicher Räume und Plätze als informelle Orte der Begegnung. Dadurch werden Kindern potentielle Grundlagen für bewegungsbezogene Aneignungs-, Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse entzogen. Bewegungsspiel als Tätigkeit ohne Leistungsnormierung erhält das Etikett des Unwichtigen und die »geheimen Orte«, an denen Kinder sich außerhalb der elterlichen Kontrolle aufhalten und bewegen können, nehmen ab. Durch die fortschreitende Sportstättenentwicklung werden auch Sport- und Bewegungsräume quasi als »Hardware des Sporttreibens« zunehmend zu funktionalisierten und vorstrukturierten Plätzen und z. B. als Fußball- und Basketballplätze bzw. -käfige, Halfpipes, betonierte Tischtennisplatten etc. in den öffentlichen Raum implementiert. Gleichzeitig verbringen Kinder ihre freie Zeit noch immer sehr gerne und oftmals am liebsten im Freien (Rohlfs 2006). Außerdem haben sie sich nach Zander (2010, 62) neue Räume erschlossen, nicht zuletzt durch die Entwicklung neuer Bewegungsmöglichkeiten in Städten (z. B.- Parcours, Hochseilgarten, Slackline). Zudem hat sich eine Palette vielfältiger Bewegungs- und Fortbewegungsmöglichkeiten (z. B. Skateboardschuhe, Laufrad, BMX-Rad, Inliner, Skate-/ Longboard) entwickelt. Bewegung wird außerdem mit Digitalisierung zusammengeführt, wie beispielsweise beim Geocaching. Nicht zuletzt zeugen appellative Botschaften, wie »Draußen spielen! « [ 133 ] Voss • Bewegungskindheit? 3| 2019 (Richard-Elsner 2017) oder auch die Konjunktur von Natur- und Bewegungskitas möglicherweise von einer Wiederentdeckung des öffentlichen Raums als Bewegungsraum. Bewegungsaktivitäten von Kindern Insbesondere für die frühe Kindheit, in der die informelle Sportbzw. Bewegungsausübung im Mittelpunkt steht, spielen Außenräume als Erfahrungsräume eine Rolle, die vielfältige Bewegungsmöglichkeiten und Lernanlässe bieten. Dabei geht es weniger um klare Funktionszuschreibungen, sondern um Möglichkeiten der individuellen Nutzung und Gestaltung, um eigenständige Raumaneignung und Uminterpretation von Funktionsräumen durch Kinder (Zander 2010). Schon in den 1980er Jahren stand der Begriff »Verinselung« für die Ablösung der Beobachtung einer konzentrischen Raumaneignung, in der Kinder ausgehend vom Familienwohnsitz mit zunehmendem Lebensalter ihren Aktionsradius erweitern und sich räumlich beieinanderliegende Betätigungsorte eigenständig erschließen (Zeiher / Zeiher 1994). Mit dem Wandel des Musters kindlicher Raumaneignung finden auch Bewegungs- und Sportgelegenheiten von Kindern an verschiedenen Orten und Stationen statt, die »wie Inseln verstreut in einem größer gewordenen Gesamtraum liegen, der als Ganzer unbekannt oder zumindest bedeutungslos ist« (Zeiher 1983, 187) und mit Eltern, Großeltern oder anderen Betreuungspersonen mit dem Auto abgefahren werden. Kinder werden - nach vorheriger Planung und Koordination - zum Sportverein, Schwimmbad oder ins Jumphouse bugsiert, der Raum zwischen den sogenannten Inseln bleibt für Kinder unentdeckt bzw. bleibt ein Zwischenraum, der der Überbrückung dient. Das Spiel auf Straßen, Hinterhöfen und in Wäldern verlagert sich in Turnhallen, auf Spielplätze oder vor den Computer und die Erfahrungsräume der Kinder sind häufig institutionalisiert und normiert. Dabei ist die Teilnahme an institutionellen Bewegungsangeboten, wie z. B. von Sportvereinen, Schwimm- oder Tanzschulen, ungebrochen groß. Bereits ein Drittel der 2-3-Jährigen nimmt an einem Angebot zur Sport- und Bewegungsförderung teil. Bis zum Alter von sechs Jahren steigt die Nutzung kontinuierlich auf etwa 60 % an, wobei etwas mehr Mädchen als Jungen an den Kindersportangeboten teilnehmen (Schmiade / Mutz 2012). Der Anteil der 6-17-Jährigen, die Mitglieder in einem Sportverein sind, ist in den letzten Jahren gestiegen und liegt den Zahlen der KiGGS-Studie zufolge aktuell bei 62 % (Motorik-Modul-Studie 2017). Eine kontinuierliche Mitgliedschaft im Sportverein vom Kindesbis ins Jugendalter wird ungebrochen als ein wichtiger Baustein für eine altersgerechte motorische Entwicklung gesehen (Motorik-Modul-Studie 2017). Ob als Mitglied im Sportverein oder außerhalb eines Vereins: Drei Viertel der in der KiGGS-Studie befragten Kinder zwischen drei und zehn Jahren ist mindestens einmal die Woche sportlich aktiv, ein Drittel sogar dreimal oder häufiger. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass jedes vierte Kind nicht regelmäßig Sport macht und dem wünschenswerten Niveau fast täglicher sportlicher Aktivität werden nur 29 % der Jungen und 22 % der Mädchen gerecht (Finger et al. 2018). Auch zeigen sich deutliche Unterschiede hinsichtlich der Partizipation an Bewegung und Sport mit Blick auf den sozialen Status: Kinder und Jugendliche aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status sind häufiger sportlich aktiv als Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status (Finger et al. 2018, 28). Die in den KiGGS-Studien wiederholt festgestellte soziale und gesundheitliche Ungleichheit im Kindesalter, die sich auch auf die körperliche Aktivität von Kindern bezieht, bedarf dringend entsprechender sport- und bewegungswissenschaftlicher Analysen und Interventionen, die sich auch um soziale Teilhabechancen von Kindern bemühen müssten (Nagel 2003; Mess / Woll 2012). Die Statusunterschiede erweisen sich allerdings beim Vereinssport wesentlich ausgeprägter als beim Sport, der außerhalb von Vereinen ausgeübt wird (Lampert et al. 2007), was für eine stärkere Fokussierung von non-formalen und informellen Bewegungsangeboten und -welten spricht. Und dies nicht nur mit Blick auf den Abbau von sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten, sondern auch mit Blick auf eine [ 134 ] 3| 2019 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis lebensweltliche Bewegungsbildung, die, im Gegensatz zu den Logiken institutionalisierter (Bewegungs-)Bildung, in eine »allgemeine Handlungsfähigkeit zur Lebensführung« (Grundmann et al. 2007, 49f ) mündet. Familie als Instanz der Bewegungssozialisation Die Familie stellt nach wie vor den zentralen Lebensbereich von Kindern dar. In der Kindheit kommt ihr im Prozess der Sport- und Bewegungssozialisation eine tragende Rolle zu und es zeigt sich, dass Kinder, deren Eltern selbst regelmäßig aktiv Sport treiben, zu einem deutlich höheren Prozentsatz an Kindersportgruppen teilnehmen als Kinder aus sportlich eher inaktiven Familien. Dabei sind Kinder aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status sowohl häufiger sportlich aktiv als auch Mitglieder im Sportverein als Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status (Finger et al. 2018; Schmiade / Mutz 2012). Da das Armutsrisiko besonders diejenigen Kinder trifft, die mit einem Elternteil aufwachsen sowie Familien mit Migrationshintergrund und Familien mit drei oder mehr Kindern (BMFSFJ 2016), müssten für diese Zielgruppen in stärkerem Maße Unterstützungsangebote entwickelt werden, die den Zugang zu Bewegung und Sport erleichtern. Schmiade und Mutz (2012) weisen zudem nach, dass sich mit steigendem Bildungsstand der Mutter und einem höheren Haushaltseinkommen der Anteil der Sport treibenden Kinder signifikant erhöht. Der (negative) Einfluss der Eltern auf kindliches Bewegungsverhalten wird nach Schwarz (2017) auch anhand des alltäglichen Kita-Bring- und Abholverhaltens deutlich: Danach erfolgt der Transfer zwischen Wohnareal und Kita bei zwei Drittel der befragten Eltern motorisiert, d. h., die Kinder bewegen sich nicht selber aktiv zur Einrichtung. Dabei könnte, so Schwarz, ca. 30-50 % der täglichen Empfehlung für körperliche Aktivität mit einem aktiven Transfer zwischen Kita und Wohnareal erreicht werden (Schwarz 2017). In den »Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung« wird für 4-6-Jährige eine tägliche moderate bis intensive körperliche Aktivität von 180 Minuten / Tag gefordert (Rütten / Pfeifer 2016, 28f ). Mit der nach wie vor steigenden Erwerbstätigkeit und auch Vollzeittätigkeit beider Elternteile (BMFSFJ 2016) steigt auch die Herausforderung der Vereinbarkeit der Erwerbstätigkeit der Eltern mit Öffnungszeiten von Kita, Schule, Hort/ Ganztagsbetreuung und zeitlich sowie räumlich gebundenen Sport(vereins)angeboten. Zudem werden größere räumliche Entfernungen (z. B. bei Wahl des Arbeitsplatzes oder Schule) toleriert. Mediatisierung und Digitalisierung Kinder wachsen dem 15. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2017) zufolge heute in ein digital-vernetztes Leben hinein und sind damit den Chancen ebenso wie den Risiken von Digitalisierungsprozessen ausgesetzt. Die Besonderheit der digitalen Vernetzung besteht vor allem darin, dass sie klare Raum- und Zeitbegrenzungen aufhebt und Kinder mit Grenzverschiebungen konfrontiert, vor allem zwischen Öffentlichkeit und Privatheit aber auch zwischen Körper und Technik. In Haushalten mit 2-5-Jährigen ist nahezu eine Vollausstattung mit Blick auf Fernseher, Handy bzw. Smartphone und Computer bzw. Laptop gegeben (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2014). Im Vergleich zur miniKIM-Studie 2012 (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2013) ist die Ausstattungsrate mit Smartphones um 17 % und die Tablet-Ausstattung um 8 % gestiegen. Die miniKIM-Studie 2014 (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2014) zeigt, dass Fernsehen und die Beschäftigung mit Büchern im Alltag von 2-5-Jährigen eine zentrale Rolle spielen. Fast die Hälfte der Kinder dieser Altersgruppe (44 %) sieht jeden oder fast jeden Tag fern, 43 % beschäftigen sich (fast) täglich mit einem Buch. Im Altersverlauf zeigt sich eine deutliche Verschiebung der Präferenzen: Während für die Mehrheit der 2-3-Jährigen Bücher unverzichtbar sind, ist für die 4-5-Jährigen das Fernsehen das wichtigste Medium. Kinder sehen durchschnittlich 43 Minuten pro Tag fern (2-3- Jahre: 34 Minuten, 4-5 Jahre: 52 Minuten) (Medienpädagogischer Forschungsver- [ 135 ] Voss • Bewegungskindheit? 3| 2019 bund Südwest 2014, 31). Das Internet wird von den 6-7-Jährigen täglich ca. 15 Minuten genutzt, 8-9-Jährige sind 25 Minuten am Tag online (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2016) und Jugendliche durchschnittlich 221 Minuten am Tag (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2016). Ein eigenes Smartphone oder Handy besitzen fast 40 % der 6-9-Jährigen, bei den 10-13-Jährigen haben 84 % ihr eigenes mobiles Endgerät (Kinder-Medien-Studie 2017), bei den 12-19-Jährigen sind es 98 % (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2018). Konsequenzen des steigenden Medienkonsums für Bewegung, Spiel und Sport werden nach Burrmann (2011) zum einen darin gesehen, dass die im Zusammenhang mit Medien genutzte Zeit einer potentiellen Bewegungszeit verloren geht, zum anderen wird die »passiv-konsumierende und sinnlich-reduzierende Haltung […] als den kindlichen Entwicklungs- und insbesondere Bewegungsbedürfnissen wenig angemessen dargestellt« (Thiele 2011, 18). Institutionalisierung Für den Wandel kindlicher Bewegungswelten ist auch die These von der »Institutionenkindheit« von besonderer Bedeutung, worunter mit Rauschenbach (2015, 74) die aktuellen Verschränkungen und Mischungsverhältnisse privater und öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern zu verstehen sind - und damit auch für die Entwicklung von bewegungsförderlichen Lebenswelten und der Sicherung kindadäquater Bewegungsräume, -themen und -zeiten. Die zunehmende subjektive Bedeutung von Schule und Schulerfolg für Kinder und Jugendliche hat Konsequenzen für deren Sport- und Bewegungsverhalten, da sich zum einen außerschulische Bewegungs-, Spiel- und Sportzeiten verringern, zum anderen eine zunehmende Pädagogisierung der Kindheit beobachtet wird, womit sowohl die erzieherische Begleitung von Kindern durch verschiedenste pädagogische AkteurInnen als auch ein wachsendes intentional-pädagogisches Handeln seitens der Eltern gemeint sind (Rauschenbach 2015). Daraus resultiert ein gesteigerter Kooperationsbedarf der kindrelevanten AkteurInnen, wie es zunehmend z. B. zwischen Kitas und Sportvereinen zu beobachten ist. Kinder, die eine Kindertagesstätte besuchen, sind auch besonders häufig in Kindersportgruppen aktiv (Schmiade / Mutz 2012). Da Kitas mit 95 % der Fünfjährigen den Großteil der Vorschulkinder erreichen (Bock-Famulla et al. 2015), sind sie ideale Orte zur Bewegungsförderung. Durch das sinkende Eintrittsalter in die institutionalisierte Kinderbetreuung bei gleichzeitigem Anstieg der Nutzungsdauer gewinnt die Kita als Instanz der Bewegungssozialisation in der Vermittlung bewegungsbezogener Kompetenzen seit einigen Jahren an Bedeutung (Rauschenbach 2015, 75f ). Anders als in den Curricula der Grundschulen gibt es für Kindertageseinrichtungen keine verbindlichen Vorgaben mit Blick auf den Umfang von Bewegung oder körperliche Aktivität. Fazit: Herausforderungen für ein bewegtes Aufwachsen von Kindern Kinder sind eine wichtige Zielgruppe aktueller politischer Entscheidungen. Sie werden in Kontexten der politischen Ökonomie als Humankapital betrachtet, das Investitionsentscheidungen verlangt, wie sich z. B. am gegenwärtigen Diskurs um die Digitalisierung in Schulen zeigt. Der Trend zur Mediatisierung und Digitalisierung könnte einerseits die Chancen für eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit, Familie, Kita, Schule und Verein erhöhen (BMFSFJ 2016), z. B. durch eine stärker etablierte Home-Office-Kultur. Andererseits könnte die rasante Entwicklung der verschiedensten Informations- und Kommunikationstechnologien auch unter den Bedingungen veränderter Arbeitsstrukturen in Zukunft sogar mit einem fundamentalen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Körpers, des traditionellen Sports und des körpergebundenen Bewegens korrespondieren. Und zwar deshalb, weil sich Sport- und Bewegungsszenarien deutlich in virtuelle Welten verlagern und Medienkonsum und Bewegung als konkurrierende Freizeitaktivitäten auch von Kindern gefasst werden (Burrmann 2011). Hier müssten Kinder zukünftig darin unter- [ 136 ] 3| 2019 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis stützt werden, Bewegung zu einem Bestandteil des Lebensstils werden zu lassen und es müssten Anknüpfungspunkte für eine Habitualisierung von Bewegung bei Kindern angeboten werden. Mit der zunehmenden Bedeutung institutionalisierter Bildung scheint eine Marginalisierung von offenen Spielgelegenheiten und freier Mobilität von Kindern einherzugehen, so dass die Bedeutung informeller Sport- und Bewegungsaktivitäten für die Entwicklung von Kindern zu sinken scheint. Allerdings scheinen die vielfältigen Bewegungs-, Spiel- und Sportgeräte die Möglichkeiten der »Rückeroberung« des städtischen Raums zu unterstützen (Zander 2010). Vor dem Hintergrund steigender Inanspruchnahme und längerer Aufenthaltsdauer von Kindern in Kitas und dem Ausbau der Ganztagsbetreuung in Schulen werden mit Blick auf Bewegung und Sport die Anforderungen an diese Institutionen steigen. Dazu gehört auch eine gemeinsame Angebotserstellung von Sportvereinen und Kitas sowie Schulen (Schmidt et al. 2015). Auch hinsichtlich einer Verbesserung der motorischen Leistungsfähigkeit erweisen sich z. B. Kooperationen zwischen Kitas und Sportvereinen nach Schwarz (2017) als Erfolgsmodell - vorausgesetzt, dass die Kinder in den Vereinen ein vielseitiges und motorisch breit gefächertes Angebot erhalten, das auf 3-6-Jährige zugeschnitten ist, statt auf spezifische Sportarten. Eine sozialräumliche Zusammenarbeit von Kitas, Schulen, Sportvereinen und Kommunen sollte mit Blick auf Bewegung forciert werden. Das Ziel müsste in der Schaffung eines breit gefächerten, niederschwelligen Sport- und Bewegungsangebots für Kinder und Jugendliche liegen, z. B. durch die Schaffung attraktiver und wohnortnaher Angebote. Dabei müsste ein Fokus auf der stärkeren Einbindung von Kindern aus Familien mit niedrigem Sozialstatus gesetzt werden. Eine vielversprechende Möglichkeit liegt im Auf- und Ausbau von Bildungslandschaften, womit »langfristige, professionell gestaltete, auf gemeinsames Handeln abzielende, kommunalpolitisch gewollte Netzwerke zum Thema Bildung« (Bleckmann / Durdel 2009, 12) gemeint sind. Sie knüpfen an der »Perspektive des lernenden Subjekts« an und umfassen »formale Bildungsorte und informelle Lebenswelten« (Bleckmann / Durdel 2009, 12). Dieser Beitrag durchlief das Peer Review. Literatur Bleckmann, P., Durdel, A. (2009): Einführung: Lokale Bildungslandschaften - die zweifache Öffnung. In: Bleckmann, P., Durdel, A. (Hrsg.): Lokale Bildungslandschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen. Springer, Wiesbaden, 11-16, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-91857-0_1 Bock-Famulla, K., Lange, J., Strunz, E. (2015): Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2015. Transparenz schaffen - Governance stärken. Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Bründel H., Hurrelmann, K. (2017): Kindheit heute. Lebenswelten der jungen Generation. Beltz, Weinheim/ Basel Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. 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