eJournals motorik 42/3

motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2019
423

Auf den Punkt gebracht: Wissen kompakt: Draußenspiel

71
2019
Christiane Richard-Elsner
Das freie Kinderspiel im Freien, hier kurz Draußenspiel genannt, war in der Menschheitsgeschichte ein selbstverständlicher Bestandteil der Kindheit. Beim Draußenspiel agieren Kinder unbeeinflusst von Erwachsenen in idealerweise anregungsreichen, naturhaften Freiräumen. Das Spiel ergibt sich aus dem Vorhandenen: den Räumen, den Materialien, den SpielpartnerInnen und der individuellen Verfassung des Kindes. Sinneserfahrungen, körperliche Bewegung und soziale Interaktion sind wesentliche Bestandteile des Spielhandelns. Eltern und andere betreuende Erwachsene geben zeitliche und räumliche Grenzen vor (Richard-Elsner 2017). Eigenständiges Spiel ist ein biologisch angelegtes Bedürfnis. Kinder machen sich so mit ihrer kulturellen und natürlichen Umwelt vertraut. Bewegungsorientierter, kreativer, spielerischer, zeitvergessener Umgang mit der Umwelt ist die von Kindern bevorzugte Lernform (Konner 2010; Crone 2011). [...]
7_042_2019_003_0144
3| 2019 motorik, 42. Jg., 144-145, DOI 10.2378 / mot2019.art24d © Ernst Reinhardt Verlag [ 144 ] [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Wissen kompakt: Draußenspiel Christiane Richard-Elsner Das freie Kinderspiel im Freien, hier kurz Draußenspiel genannt, war in der Menschheitsgeschichte ein selbstverständlicher Bestandteil der Kindheit. Beim Draußenspiel agieren Kinder unbeeinflusst von Erwachsenen in idealerweise anregungsreichen, naturhaften Freiräumen. Das Spiel ergibt sich aus dem Vorhandenen: den Räumen, den Materialien, den SpielpartnerInnen und der individuellen Verfassung des Kindes. Sinneserfahrungen, körperliche Bewegung und soziale Interaktion sind wesentliche Bestandteile des Spielhandelns. Eltern und andere betreuende Erwachsene geben zeitliche und räumliche Grenzen vor (Richard-Elsner 2017). Eigenständiges Spiel ist ein biologisch angelegtes Bedürfnis. Kinder machen sich so mit ihrer kulturellen und natürlichen Umwelt vertraut. Bewegungsorientierter, kreativer, spielerischer, zeitvergessener Umgang mit der Umwelt ist die von Kindern bevorzugte Lernform (Konner 2010; Crone 2011). Voraussetzung für das freie Spielen sind gute Spielbedingungen (Kyttä 2004): ■ Dazu zählt eine Auswahl an möglichst naturnahen Freiräumen, die Kinder über sichere Wege eigenständig aufsuchen können. Ebenso ist es wichtig, dass sie SpielkameradInnen selbstständig erreichen können. ■ Die Gesamtheit der Freiräume bietet viele Anregungen. Verschiedenste Spielmöglichkeiten, wie Tobe-, Ball- oder Rollenspiele, Entdecken und Experimentieren mit natürlichen oder anderen Materialien, aber auch Gelegenheiten für Ruhe und Absonderung allein oder in kleinen Gruppen, sind dabei möglich. Kinder können ihre Spielräume, z. B. durch das Bauen von Buden, gestalten und verändern. ■ Abhängig von Alter und Entwicklungsstand des Kindes sind erwachsene AnsprechpartnerInnen idealerweise in Reichweite. Erwachsene lassen Kinder agieren und vertrauen auf ihre Stärken, Konflikte selbst regeln zu können, immer wieder neue Spielideen zu entwickeln und selbst einschätzen zu können, was sie gerade brauchen. Warum draußen spielen? Eigene Bewegungserfahrungen und viel Bewegungsübung sind nötig, um die Motorik zu schulen, Knochenmasse aufzubauen und das Immunsystem zu stärken. Über 70 % der deutschen Kinder erfüllen nicht die von der WHO empfohlene Mindestanforderung von täglich einer Stunde mäßiger bis intensiver Bewegung (Finger et al. 2018). Jedes fünfte Kind ist übergewichtig. ÄrztInnen und SportwissenschaftlerInnen stellen fest, dass viele Kinder über eine zu geringe körperliche Fitness verfügen und unter Haltungsschäden leiden. Folge ist, dass Herz-Kreislauferkrankungen und Rückenleiden schon im mittleren Erwachsenenalter auftreten. Bewegung und Draußenspiel verbessern das Konzentrationsvermögen. Kinder, die draußen spielen und selbstbestimmt ihre Umwelt erforschen, trainieren ihre Sprachfähigkeit und ihr Handlungsvermögen. Sie finden kreative Lösungen für ihre Spielziele. Der soziale Umgang miteinander, Wünsche zu äußern, sie durchzusetzen, Kompromisse zu [ 145 ] Richard-Elsner • Draußenspiel 3| 2019 schließen und mit Regeln umzugehen, wird im selbstbestimmten Spiel gelernt und geübt. Entwicklung von Risikokompetenz Kinder suchen und finden physische Risiken im Draußenspiel. Dabei gehen sie nicht blind Risiken ein. Sie wägen bewusst für sich ab zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit und der Aussicht, nach bewältigtem Risiko ein Gefühl großer Freude zu erleben. Der Umgang mit Risiken, Entscheidungskompetenz, muss erlernt und geübt werden. Spiel ist der geeignete Trainingsraum. Es ist immer mit einem ungewissen Verlauf verbunden, findet jedoch im relativ geschützten Raum statt (Richard-Elsner 2013). Selbstwirksamkeitserfahrungen Das Kind lernt sich, seine Möglichkeiten und Grenzen, im Zusammenspiel mit der Umgebung kennen. Es weiß, dass es etwas schaffen kann, die Umgebung verändern, durch Verhandeln mit anderen Kindern den Spielverlauf beeinflussen, durch eigene Kraft den anderen den Ball abjagen kann und dass es seine Grenzen mit zunehmendem Alter immer weiter hinausschiebt (Zimmer 2012). Entlastung der Eltern Kinder haben einen höheren Bewegungsdrang und reagieren spontaner als Erwachsene. Die Bedürfnisse von Eltern und Kindern in der Familie passen deshalb nicht immer zusammen. Draußenspiel entlastet Erwachsene und entspannt die Familienatmosphäre. Eltern sind dann weniger unter Druck, ständig »Programm« für die Kinder anbieten zu müssen. Was tun? Entscheidend ist, dass Kinder in ihrer Wohnumgebung und im Ganztag viele Gelegenheiten zum Draußenspiel haben (Blinkert et al. 2015). In ihrer Wohnumgebung müssen Kinder sich eigenständig auf sicheren Wegen fortbewegen und so viele Spielräume erreichen können. Dies sind anregungsreiche Freiräume, vor allem naturnahe, aber auch Höfe, Plätze und sichere Straßenräume, in denen sie sich länger aufhalten und etwas verändern können. Bestandteil von Ganztagsbetreuung muss es sein, dass Kinder unbeobachtet und eigenständig auf interessanten Freiflächen spielen können. Literatur Blinkert, B., Höfflin, P., Schmider, A., Spiegel, J. (Hrsg.) (2015): Raum für Kinderspiel! Eine Studie im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerkes über Aktionsräume von Kindern. Lit Verlag, Münster Crone, E. (2011): Das pubertierende Gehirn. Wie Kinder erwachsen werden. Droemer, München Finger, J. D., Varnaccia, G., Borrmann, A., Lange, C., Mensink, G. B. M. (2018): Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring 3 (1), 24-30 Konner, M. (2010): The evolution of childhood. Relationships, emotion, mind. Belknap Press of Havard University Press, Cambridge Kyttä, M. (2004): The extent of children’s independent mobility and the number of actualized affordances as criteria for child-friendly environments. Journal of Environmental Psychology 24 (2), 179-198, https: / / doi.org/ 10.1016/ S0272-4944(03)00073-2 Richard-Elsner, C. (2017): Draußen spielen. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel Richard-Elsner, C. (2013): Risikokompetenz ohne Risikoerfahrung? Unsere Jugend 65 (10), 436-445, https: / / doi.org/ 10.2378/ uj2013.art41d Zimmer, R (2012): Handbuch Psychomotorik. Herder, Freiburg Die Autorin Dr. Christiane Richard-Elsner Leiterin der interdisziplinären Arbeitsgruppe-Draußenkinder im ABA Fachverband. www.draussenkinder.info Anschrift ABA Fachverband Clarenberg 24 D-44263 Dortmund christiane.richard-elsner@aba-fachverband.org