motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Forum Psychomotorik: Was die Psychomotorik über ästhetische Zugänge lernen kann
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2019
Melanie Lietz
Im vorliegenden Beitrag steht die Frage im Fokus, was die Psychomotorik über ästhetische Zugänge lernen kann. Zunächst wird ein Blick auf ausgewählte ästhetische Zugänge geworfen. Insbesondere in Hinblick auf die gewählten Konstrukte »Ästhetische Wahrnehmung« und »Ästhetische Erfahrungen« ergibt sich mit den Ausführungen ein verändertes Verständnis von Wahrnehmung und Erfahrung. Die strukturgebenden Momente einer ästhetischen Erfahrung bieten dabei den Rahmen, um Impulse für die psychomotorische Praxis abzuleiten.
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Zusammenfassung / Abstract Im vorliegenden Beitrag steht die Frage im Fokus, was die Psychomotorik über ästhetische Zugänge lernen kann. Zunächst wird ein Blick auf ausgewählte ästhetische Zugänge geworfen. Insbesondere in Hinblick auf die gewählten Konstrukte »Ästhetische Wahrnehmung« und »Ästhetische Erfahrungen« ergibt sich mit den Ausführungen ein verändertes Verständnis von Wahrnehmung und Erfahrung. Die strukturgebenden Momente einer ästhetischen Erfahrung bieten dabei den Rahmen, um Impulse für die psychomotorische Praxis abzuleiten. Schlüsselbegriffe: ästhetische Wahrnehmung, ästhetische Erfahrung, ästhetische Zugänge, Psychomotorik, Strukturmomente How psychomotoricity can benefit from aesthetic approaches This article focuses on the question of how psychomotricity can benefit from aesthetic approaches. First, a look at selected aesthetic approaches is taken. Particularly the two selected approaches »aesthetic perception« and »aesthetic experiences« have an impact on our understanding of perception and experience. The structural elements of an aesthetic experience provide the framework for deriving impulses for psychomotor practice. Key words: aesthetic perception, aesthetic experience, aesthetic approaches, psychomotricity, structural moments [ TITELRUBRIK ] [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Forum Psychomotorik [ 168 ] 4| 2019 motorik, 42. Jg., 168-171, DOI 10.2378 / mot2019.art31d © Ernst Reinhardt Verlag Was die Psychomotorik über ästhetische Zugänge lernen kann Melanie Lietz Ästhetisches Erleben ist alles, »was die menschlichen Sinne anregt« (Heyl/ Schäfer 2016, 4). Die Basis dazu bildet eine ästhetische Wahrnehmung. »Erst wenn wir uns einer sinnlichen Wahrnehmung bewusstwerden, wenn wir ihr gewahr werden, wenn wir die Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen und Empfindungen in Beziehung setzen und auslegen, dann verhalten wir uns nicht nur sinnlich, sondern ästhetisch« (Peez 2003, 253). Durch das Einfließen von subjektiven Erinnerungen in die Wahrnehmung können Bewusstes und Unterbewusstes miteinander verknüpft und eine Erfahrung über sich und den Gegenstand möglich werden (Kraemer / Spinner 2002, 12; Abb. 1 und 2). Abb. 1 und 2: Gestaltete Beispiele zum Thema »Gib deiner Umgebung ein Gesicht« aus dem Projekt »Unterwegs als Stadtentdecker« [ 168 ] [ 169 ] Lietz • Was die Psychomotorik über ästhetische Zugänge lernen kann 4| 2019 Duncker (1999) fasst die strukturgebenden Momente ästhetischer Erfahrungen als Erlebnisse der intensiven Wahrnehmung zusammen, die geprägt sind durch Faszination, Staunen, bewusstes Innehalten und Genießen, »wo Schönes und Erhabenes aufgesucht und in Wiederholungen durchlebt wird, wo Situationen ins Extreme gesteigert und Grenzerfahrungen provoziert werden- - in all solchen Momenten verbindet sich ästhetische Erfahrung« (Duncker 1999, 9). Um die oben beschriebene Abstraktion der ästhetischen Erfahrung zu begreifen, hat Peez (2003; 2007) die Strukturmomente ästhetischer Erfahrungen ausgearbeitet, um den Prozess, der sich hier für den Menschen vollzieht, zu fassen. Voraussetzung für ästhetische Erfahrungen ist das achtsame Verweilen und die beginnende Aufmerksamkeit des Menschen bei einem nicht alltäglichen Vorgang, einem bestimmten Geschehen oder einer Szene (Wallach 2017; Peez 2007, 6; Krummenacher 2017). Die Offenheit gegenüber Ungewohntem zeichnet sich bei einer ästhetischen Erfahrung durch eine emotionale Verbundenheit und Versunkensein (»Ganz-dabei-sein«) im jeweiligen Moment aus (Peez 2007, 6). Durch das geweckte Interesse und die damit verbundene Neugierde wird dem Moment ein subjektiver Wert zugeschrieben. Dieser erhält eine Bedeutung für die persönlichen Bedürfnisse (Wirtz 2017a; Peez 2007, 6; Mussel 2017). Wahrnehmungsgewohnheiten werden durchbrochen und der Mensch kann diesem Widerständigen mit Staunen begegnen (Peez 2007, 6). Dieses drückt sich zudem aus in Aufregung und Faszination (Wirtz 2017b), einer innerlichen Bewegtheit (Peez 2008, 10; Wirtz 2017c) und dem »Genuss der Wahrnehmung selbst« (Peez 2007, 6). Durch die bewusste und veränderte Wahrnehmung von vermeintlich Bekanntem sind neue Assoziationen durch die Anregung der Fantasie geweckt (Peez 2007). Aus der Reflexion des Wahrnehmungserlebens kann sich aus dem ästhetischen Erleben nun auch eine Erfahrung entwickeln (Peez 2007, 6). Das In- Beziehung-Setzen der eigenen ästhetischen Erfahrung mit kulturellen Produkten (Ästhetische Produktion) werden Erfahrungen objektiv greifbar gemacht und nach außen geöffnet (Mitteilung), so dass Empfundenes und Wahrgenommenes als Methode zur Gewinnung ästhetischer Erfahrungen von allen genutzt werden kann (Peez 2007, 6; Selle 1988, 30; Peez 2003, 253). Ästhetische Erfahrungen sollten also einerseits an Sinnlichkeit orientiert sein, andererseits ist aber auch der Sinngebung dieses Empfundenen und Wahrgenommenen eine Bedeutung beizumessen (Peez 2003, 253). Impulse ästhetischer Zugänge für die psychomotorische Arbeit mit Kindern Machen Kinder ästhetische Erfahrungen, eröffnet dies ihnen einen Zugang zur Welt und der begrifflichen Welterschließung (Kraemer / Spinner 2002, 10 f ). Der Unterschied dieser beiden Zugangsweisen liegt darin, dass durch einen begrifflichen Zugang eine Kategorisierung vorgenommen wird. Bei dem ästhetischen Zugang geht es um das Einmalige und Besondere, bei dem für das Kind keine Einschränkung durch einen bestimmten Begriff vorgenommen wird, so dass Erkenntnisse möglich werden, die nicht durch eine bestimmte Regel geleitet werden und somit keine Kategorisierung der Erkenntnis unter einen bestimmten Begriff erfordern (Staege 2016, 44; Kraemer / Spinner 2002, 11). Für die Psychomotorik ergibt sich aus den vorangegangenen Ausführungen ein erweiterter Blick auf die Konstrukte »Wahrnehmung« und »Erfahrung«. Zimmer und Martzy (2014, 5) definieren als allgemeines Ziel der Psychomotorik, die Förderung der Eigenaktivität des Kindes und die Vermittlung des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Dabei hat sich die Einteilung in die klassischen Erfahrungsbereiche Körper-, Material- und Sozialerfahrung als Orientierung für die praktische Gestaltung von Inhalten in vielen Veröffentlichungen durchgesetzt (Zimmer / Martzy 2014, 5; Beins / Jost 2013; Fischer 2019). Unter einer ästhetischen Perspektive bietet es Beim ästhetischen Zugang geht es um das Einmalige und Besondere. [ 170 ] 4| 2019 Forum Psychomotorik sich an, den Wahrnehmungs- und Erfahrungsbegriff (Körper- - Material- - Sozial) um einen vierten Bereich zu erweitern: ästhetische Wahrnehmung / ästhetische Erfahrung. Mit dieser Facette rückt ein erweiterter kreativer Zugang zur Welt und begrifflichen Welterschließung für das Kind in den Fokus (Abb. 3). An diesem Zugang können zahlreiche pädagogische Impulse anknüpfen, anhand derer das erweiterte Potential deutlich wird, welches auf die untrennbare Verbundenheit von Erlebtem (über Körper, Wahrnehmung und Bewegung), dem begrifflich zugeordneten Weltverstehen im Umgang mit den Dingen (Material) und dem bewussten Erkennen, der Reflexion und subjektiven Einordnung des Verhältnisses des Selbst zur Welt (Ästhetik) zielt. Wenn die Erfahrung oben benannter Differenz Einzug in das Selbst- und Weltverhältnis hält und die Selbstdistanzierung und weltbezogene Differenzierung über die Erfahrung hinausgeht, kann von Ästhetischer Bildung gesprochen werden. Erst dann wird die Erfahrung für das Leben in seiner Gesamtheit bedeutend (Staege 2016, 42) und verdeutlicht auf dieser Ebene das Potential, das über das bisherige Verständnis der Psychomotorik weit hinausgeht. Literatur Beins, H. J., Jost, M. (2013): Bewegung und Spiel für die Kleinsten. Psychomotorik für Kinder von 1 bis 4. Borgmann, Dortmund Duncker, L. (1999): Begriff und Struktur ästhetischer Erfahrung. Zum Verständnis unterschiedlicher formen ästhetischer Praxis. In: Neuß, N. (Hrsg.): Ästhetik der Kinder. Interdisziplinäre Beiträge zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, Frankfurt/ M., 9-19 Fischer, K. (2019): Einführung in die Psychomotorik. 4.-Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Heyl, T., Schäfer, L. (2016): Frühe ästhetische Bildung. Mit Kindern künstlerische Wege entdecken. Springer, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662- 48105-9 Kraemer, R. D., Spinner, K. H. (2002): SynÄshetische Bildung in der Grundschule. In: Kraemer, R. D., Spinner, K. H. (Hrsg.): SynÄshetische Bildung in der Grundschule. Eine Handreichung für den Unterricht. Auer, Donauwörth, 9-15 Krummenacher, J. (2017): Aufmerksamkeit. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch-Lexikon der Psychologie. In: https: / / portal.hogrefe.com/ dorsch/ aufmerksam keit, 28.09.2017 Mussel, P. (2017): Neugier. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch-Lexikon der Psychologie. In: https: / / portal. hogrefe.com/ dorsch/ neugier, 28.09.2017 Peez, G. (2008): Zur Bedeutung ästhetischer Erfahrung für Produktion und Rezeption in gegenwärtigen Konzepten der Kunstpädagogik. In: Greuel, T., Heß, F. (Hrsg.): Musik erfinden. Beiträge zur Unterrichtsforschung. Shaker Verlag, Aachen, 7-26 Peez, G. (2007): Kunstunterricht heute- - und morgen auch. Argumente und Konzepte im Überblick. Schulmagazin 5-10. Impulse für kreativen Unterricht (7-8), 5-8 Peez, G. (2003): Ästhetische Erfahrung- - Strukturelemente und Forschungsaufgaben im erwachsenenpädagogischen Kontext. In: Nittel, D., Seitter, W. (Hrsg.): Die Bildung des Erwachsenen. Erziehungs- und sozialwissenschaftliche Zugänge. Festschrift für Jochen Kade. Bertelsmann, Bielefeld, 249-260 Selle, G. (1988): Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogische Praxis. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Staege, R. (2016): Intersubjektivität und ästhetische Erfahrung. Eine theoretische Annäherung an ästhetische Bildung in der frühen Kindheit. In: Staege, R. Abb. 3: Erweitertes Verständnis der Inhaltsbereiche in der Psychomotorik [ 171 ] Lietz • Was die Psychomotorik über ästhetische Zugänge lernen kann 4| 2019 (Hrsg.): Ästhetische Bildung in der frühen Kindheit. Beltz, Weinheim, 41-50 Wallach, H. (2017): Achtsamkeit. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch-Lexikon der Psychologie. In: https: / / portal.hogrefe.com/ dorsch/ aufmerksamkeit, 28.09.2017 Wirtz, M. A. (2017a): Interesse. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch-Lexikon der Psychologie. In: https: / / portal. hogrefe.com/ dorsch/ interesse, 28.09.2017 Wirtz, M. A. (2017b): Involvement. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch-Lexikon der Psychologie. In: https: / / portal.hogrefe.com/ dorsch/ involvement, 28.09.2017 Wirtz, M. A. (2017c): Involvement, affektives. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch-Lexikon der Psychologie. In: https: / / portal.hogrefe.com/ dorsch/ involvementaffectives, 28.09.2017 Zimmer, R., Martzy, F. (2014): Psychomotorik von Anfang an. Nifbe-Themenheft Nr. 23. In: https: / / www. nifbe.de/ nifbe-publikationen, 29.05.2019 Die Autorin Vertr. Prof.in Dr. Melanie Lietz Lehrstuhl Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in der Heilpädagogik (Universität zu Köln) Anschrift Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in der Heilpädagogik Gronewaldstrasse 2a D-50931 Köln melanie.lietz@uni-koeln.de 4., aktualisierte Auflage 2019. 192 Seiten. 17 Abb. 10 Tab. (978-3-497-02866-5) kt Betroffene Kinder stärken Etwa drei bis fünf Millionen Kinder im deutschen Sprachraum haben mindestens einen Elternteil, der psychisch krank ist. Das kann gravierende Folgen für die Kinder haben: Unerwartete Reaktionen, schwierige soziale und finanzielle Verhältnisse, längere Trennungen können eine sichere Bindung an die Eltern und die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen. Die Autoren zeigen, wie man Kinder psychisch kranker Eltern in der Frühförderung unterstützen kann: Anhand von Fallbeispielen informieren sie über Störungsbilder der Eltern und erklären, wie das Kind die Erkrankung wahrnimmt. a w 4., aktualisierte Auflage 2019.
