eJournals motorik 42/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2019.art12d
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2019
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Forum Psychomotorik: Gegen den Strom

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2019
Lukas Clobes
Vor dem Hintergrund der sichtbaren Klimawandelfolgen wird herausgearbeitet, inwiefern der Klimawandel eine Herausforderung ist, mit welcher sich die motologische Gesundheitsförderung auseinandersetzen muss. Auf dieser Diskussion aufbauend wird der aktuelle Stand des Klimawandels aufgezeigt und auf die Wirkweise von Verdrängungsmechanismen hingewiesen, die zur Stabilisierung des Status Quo beitragen. Leib zu sein und damit Natur zu sein, wird als Aufgabe erkannt, zu welcher die motologische Gesundheitsförderung, dank ihrer phänomenologischen Wurzeln, beitragen kann und dabei den Erhalt von Lebensgrundlagen unterstützt.eigt.
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Zusammenfassung / Abstract Vor dem Hintergrund der sichtbaren Klimawandelfolgen wird herausgearbeitet, inwiefern der Klimawandel eine Herausforderung ist, mit welcher sich die motologische Gesundheitsförderung auseinandersetzen muss. Auf dieser Diskussion aufbauend wird der aktuelle Stand des Klimawandels aufgezeigt und auf die Wirkweise von Verdrängungsmechanismen hingewiesen, die zur Stabilisierung des Status Quo beitragen. Leib zu sein und damit Natur zu sein, wird als Aufgabe erkannt, zu welcher die motologische Gesundheitsförderung, dank ihrer phänomenologischen Wurzeln, beitragen kann und dabei den Erhalt von Lebensgrundlagen unterstützt. Schlüsselbegriffe: Natur, Leiblichkeit, motologische Gesundheitsförderung, Klimawandel, Handlungsfähigkeit Psychomotor health care in times of climate change Based on apparent consequences of climate change, this article discusses whether psychomotor health care has to deal with the issue of climate change. The current state of climate change is displayed and theories outlined how repression mechanism may stabilise the status quo. Helping people to feel the inextricable connection to nature is an opportunity of psychomotor health care, to overcome repression and support people to take action against the ongoing mass extinction of biodiversity. Key words: nature, embodiment, psychomotor health care, climate change, empowerment »Wer existentiell erfahren hat, dass, wo immer die Integrität eines Menschen bedroht ist, auch seine eigene Integrität gefährdet wird, wo immer auch die Integrität unseres ökologischen Lebensraumes zerstört wird, auch sein Leben gefährdet ist, der wird mit aller Kraft und allem Engagement, dessen er für sein eigenes Überleben fähig ist, auch für den anderen und die Welt eintreten; denn sie ist unser Haus (oikos) und die anderen sind unsere Schicksalsgefährten (consortes)« (Petzold 1978, 24). 2| 2019 motorik, 42. Jg., 64-70, DOI 10.2378 / mot2019.art12d © Ernst Reinhardt Verlag [ 64 ] [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Das Thema Psychomotorik in der Natur ist ein wiederkehrender Bestandteil der Zeitschrift »motorik«. Auf theoretischer und praktischer Ebene kann die wohltuende Wirkung der Natur auf die Gesundheit beschrieben und insbesondere erlebt werden. Der Frühling und Sommer 2018 zeichneten sich jedoch durch außergewöhnliche Wettererscheinungen aus. Der April war mit einer rund 5 °C gesteigerten Durchschnittstemperatur der wärmste April seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Im Mai erlebten wir dasselbe Phänomen mit zusätzlichem starken Unwetter und Überschwemmungen. In der folgenden Zeit blieb der Regen vielerorts über lange Zeiträume aus und die dauerhaft hohen Temperaturen ließen viele Bäume bereits im Juli die vertrockneten Blätter abwerfen sowie Felder verdorren. Schuld an der Intensität und Häufung dieser Ereignisse sei der menschengemachte Klimawandel, so Imbery et al. (2018). Schockierende Meldungen über das extremer werdende Wetter mögen für manche Menschen allmählich zur Gewohnheit werden. Für andere Gegen den Strom Motologische Gesundheitsförderung in Zeiten des Klimawandels Lukas Clobes [ 65 ] Clobes • Gegen den Strom 2| 2019 dagegen, insbesondere für jene, die durch intensive Naturerfahrungen eine tiefe Beziehung zu ihr aufgebaut haben und ihre Praxis naturnah ausrichten, ist dies ein Grund zur erlebten sowie mitfühlenden Not. Was diese erlebbaren Folgen des Klimawandels mit dem Arbeitsfeld der motologischen Gesundheitsförderung zu tun haben und welche Herausforderungen der Klimawandel und der damit einhergehende Biozid für die motologische Gesundheitsförderung mit sich bringen, wird in diesem Artikel diskutiert. Motologische Gesundheitsförderung und Klimawandel---(k)ein Zusammenhang! ? Auf den ersten Blick scheint zwischen dem gesellschaftlichen Thema Klimawandel und der motologischen Gesundheitsförderung kaum ein oder kein Zusammenhang zu bestehen. Gesundheitsförderung wird von Hurrelmann et al. (2014, 14) als »alle Eingriffshandlungen, die der Stärkung von individuellen Fähigkeiten der Lebensbewältigung dienen«, definiert. Gesundheitsförderung erscheint in dieser Definition vor allem auf das Individuum und auf die Stärkung der individuellen Fähigkeiten hin ausgerichtet zu sein. Wer Gesundheitsförderung erfährt, kann vermeintlich besser das Leben bewältigen. Die Lebensbedingungen geben dabei den Rahmen vor, sind jedoch nicht oder zumindest nicht in erster Linie Gegenstand des Einflusses der Gesundheitsförderung. Auch für die psychomotorisch-motologische Gesundheits- und Entwicklungsförderung gilt nach Späker (2016, 329): »Der psychomotorischmotologische Zugang bei Naturerfahrungen ist in erster Linie klientenzentriert, nicht umweltzentriert«. Gedanken an Umweltschutz seien zwar nicht unbedingt schlecht, müssten jedoch gut reflektiert werden, da sie Späker (2016, 329) zufolge zu mangelnder Akzeptanz und Annahme des Klienten führen könnten. Mit dem Themenfeld Klimawandel und Umwelt setze sich demgegenüber beispielsweise die problem- und handlungsorientierte Umweltpädagogik (BNE- -- Bildung für nachhaltige Entwicklung) auseinander (Späker 2016, 146ff ). Für Seewald (2012) scheint die Frage, inwieweit sich motologische Gesundheitsförderung mit gesellschaftlichen Themen, etwa der Erderwärmung, auseinanderzusetzen habe, weniger einfach zu beantworten. Seewald (2012, 56) weist unter Berücksichtigung der Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO) darauf hin, dass das Paradigma der Gesundheitsförderung deutlich politischer sei, als jenes der Entwicklungsförderung. Dies begründet er damit, dass Gesundheit den Erkenntnissen der WHO folgend gesellschaftlich hergestellt werde (Seewald 2012, 56). Unter genauerer Betrachtung der Charta der WHO scheint sich das Blatt, inwiefern sich Gesundheitsförderung mit gesellschaftlichen Themen, wie dem Klimawandel, auseinanderzusetzen habe, zu wenden. In aller Deutlichkeit wird darauf hingewiesen, dass unter anderem ein stabiles Ökosystem, eine sorgfältige Verwendung vorhandener natürlicher Ressourcen sowie soziale Gerechtigkeit, konstituierende Bedingungen von Gesundheit sind. Jede Verbesserung des Gesundheitszustandes sei zwangsläufig fest an diese Grundvoraussetzungen gebunden. Ferner müsse »[j]ede Strategie zur Gesundheitsförderung […] den Schutz der natürlichen und der sozialen Umwelt sowie die Erhaltung der vorhandenen natürlichen Ressourcen mit zu Ihrem Thema machen« (WHO 1986, 4). Gesundheit entstehe, der WHO (1986, 5) zufolge, aus der Sorge für andere und für sich selbst und wenn sich Menschen in der Lage befinden, selbst Entscheidungen zu fällen und Kontrolle über ihre eigenen Lebensumstände auszuüben. Die Gesellschaft gibt dabei die Bedingungen für das Möglichwerden von Gesundheit vor. Alle Beteiligten und Verantwortlichen des Gesundheitswesens werden von der WHO aufgerufen, Gesundheitsförderung weit über die medi- »Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten […]. Das ist das Schema der ungestörten Genußfähigkeit« (Adorno 1969, 75). [ 66 ] 2| 2019 Forum Psychomotorik zinisch-kurativen Betreuungsleistungen hinaus auszurichten und dabei u.a. »die globale ökologische Frage unserer Lebensweisen aufzuwerfen« (WHO 1986, 6). Vor dem Hintergrund von diesem Gesundheitsverständnis verweist Seewald (2012, 57) auf eine Form der Selbstsorge, welche das »bejahenswerte Leben für alle« mit sich bringen soll. Dass ein »bejahenswerte[s] Leben für alle« Fragen der ökologischen Lebensweise und des Ressourcenverbrauchs beantworten können muss, kommt bei Seewald (2012) indirekt zur Sprache. Durch den Bezug zum Konzept der Diätetik, welches mit den Begriffen Askese und Lebensstil einhergeht, weist Seewald (2012) in eine Richtung, die für an Privilegien gewöhnte Menschen zwar nicht immer bequem ist, jedoch zum Erhalt von Lebensgrundlagen und zur »Befreiung vom Überfluss« (Paech 2013) beitragen kann. Dass die WHO die Thematisierung von Umweltthemen hervorhebt und ihre konzeptionelle Einarbeitung fordert, wurde zwar in den 1980er Jahren noch nicht durch die drohende Klimakrise begründet, wird jedoch aktuell unter Berücksichtigung des fortgeschrittenen Stadiums des Klimawandels gut nachvollziehbar. Der aktuelle Stand des Klimawandels Mit dem Begriff »Klimawandel« wird auf den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre hingewiesen, der seit der industriellen Revolution durch menschlichen Einfluss intensiviert wurde (Hüging 2013). Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur lag 2017 bei +0,9 °C (NASA 2018). Ein relevanter Faktor, der das Klima auf der Erde beeinflusst, ist die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre. Ohne Treibhausgase hätte die Erde eine Durchschnittstemperatur von −18 °C. Durch die Wirkung der Treibhausgase in der Atmosphäre, also durch den Treibhauseffekt, liegt sie bei rund +15 °C (Hüging 2013). Die Konzentration des klimawirksamen Gases CO 2 hat nun, wie Abbildung 1 zeigt, über die letzten 800.000 Jahre einen menschheitsgeschichtlichen Höchststand erreicht und liegt mittlerweile bei 408,35 ppm CO 2 Die globale ökologische Frage unserer Lebensweisen muss mitgedacht werden. Abb. 1: Verlauf der Temperatur (rot) in der Antarktis und der CO2-Konzentration (blau) der vergangenen 800.000 Jahre. (Abbildung von Shakun (2012), Daten von Lüthi et al. (2008) und Jouzel et al. (2007)) [ 67 ] Clobes • Gegen den Strom 2| 2019 (NOAA- 2018). Der parallele Kurvenverlauf lässt den Zusammenhang zwischen der Treibhausgaskonzentration und der Temperaturveränderung erkenntlich werden. Die Entwicklung im Bereich Klima ist so ernst, dass Ripple et al. (2017) in ihrem von über 15.000 WissenschaftlerInnen unterschriebenen Artikel warnen, dass der Klimawandel aufgrund der hohen Zunahme an Treibhausgasemissionen katastrophale Ausmaße annehmen könne. Während die Temperaturen drastisch steigen, ist der Artenreichtum an Wirbeltieren von 1970 bis 2012 um 58 % zurückgegangen. Die sich gegenwärtig anbahnende Massenaussterbe-Episode gehöre zu den sechs heftigsten der vergangenen 540 Millionen Jahre. Bei einem weiter wie bisher Szenario wird zur nächsten Jahrhundertwende, die Hälfte aller Arten ausgelöscht oder vom Aussterben bedroht sein. Das Klima könnte, bei weiter steigenden CO 2 -Emissionen, bis 2100 um bis zu 6 °C erhitzt werden (Primack 2014, 208). Die Ursachen für diese Entwicklung liegen insbesondere in der Verbrennung von fossilen Energieträgern, in der Entwaldung und in der landwirtschaftlichen Produktion, vor allem von Wiederkäuern für die Fleischproduktion (Ripple et al. 2017, 1). Politisch zeichne sich bisher nicht ab, dass notwendige Maßnahmen zum Schutz der Lebensgrundlagen ergriffen werden. Da Politik vor allem auf Druck reagiere, sei eine Graswurzel-Bewegung dringend notwendig, um tatkräftige Veränderungen in Gang zu setzen. Viel Zeit bleibe für die Gründung bzw. Intensivierung dieser Bewegung nicht. Bei einem weiter wie bisher drohe hingegen »widespread misery and catastrophic biodiversity loss« (Ripple et al. 2017, 3). Gesund leben trotz Klimawandel! ? Weshalb ist die Thematisierung des Klimawandels so wichtig? Gebhard (2013, 246ff ) weist darauf hin, dass die (unbewusste) Wahrnehmung der existentiellen ökologischen Bedrohung bereits im Kindesalter Ängste hervorruft. Diese werden mit der Zeit verdrängt, da die individuelle Handlungsfähigkeit als zu gering eingeschätzt wird. Die Verdrängungsbemühungen wiederum haben negative Auswirkungen auf psychischer und somatischer Ebene zur Folge. Die psychische Abwehr bedeute dabei u.a. auch eine Blockierung wichtiger Verhaltenspotentiale, die zur realitätsgerechten Reaktionsweise beitragen können. Ziel der Abwehr sei die Vermeidung der ansonsten unerträglichen Angst. Während eine Beschäftigung mit der ökologischen Katastrophe und ein entsprechendes Umweltwissen die psychosomatischen Leiden und unbewussten Ängste nicht weiter schüre, könne die Artikulation von Ängsten vor Umweltzerstörung psychischen Gesundheitsgefährdungen sogar entgegenwirken. Auch Kabat-Zinn (2008, 15) und Macy und Young Brown (2011, 38f ) zufolge ist es insgesamt wichtig, dass der Klimawandel und seine dramatischen Folgen für die belebte Natur und Biodiversität nicht ignoriert oder ausgeblendet werden, denn ähnlich wie in anderen Therapieformen auch, schaffe die Krankheitseinsicht Motivation zur Heilung. Je schwerwiegender die Erkrankung (Kabat-Zinn 2008) bzw. je intensiver das Erlebnis des Schmerzes um die Welt (Macy / Young Brown 2011), desto höher die Priorität der Behebung des Problems. Werden innerste Empfindungen angesichts der Zukunft der Welt hingegen unter einem Schweigen begraben, so führe dies zu Erstarrung, Isolation, Erschöpfung und gedanklicher Verwirrung sowie zu einem Gefühl der Sinnlosigkeit (Macy / Young Brown 2011, 52). Die psychischen Auswirkungen der Umweltzerstörung seien auch dann existent, wenn »Wäre etwas wie eine Psychoanalyse der heute prototypischen Kultur möglich; spottete nicht die absolute Vorherrschaft der Ökonomie jeden Versuchs, die Zustände aus dem Seelenleben ihrer Opfer zu erklären, und hätten nicht die Psychoanalytiker selber jenen Zuständen längst den Treueeid geleistet- -- so müßte eine solche Untersuchung dartun, daß die zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht. […] die spätere Konfliktlosigkeit reflektiert das Vorentschiedensein, den apriorischen Triumph der kollektiven Instanz, nicht die Heilung durchs Erkennen« (Adorno 1969, 68ff ). [ 68 ] 2| 2019 Forum Psychomotorik sie nicht bewusst wahrgenommen werden, so Gebhard (2013, 59). Verdrängung führe nicht dazu, dass das Verdrängte unwirksam werde, sondern zur Wiederkehr des Verdrängten in Form von nicht verstandenen Symptomen. Dass die Wahrnehmung der ökologischen Katastrophe mit zunehmendem Alter als weniger schlimm für das eigene Leben eingestuft werde und die Bereitschaft, für die Umwelt aktiv zu werden, mit steigendem Alter geringer würde, sei einerseits durch persönliche Interessenkonflikte bedingt (Gebhard 2013, 249), andererseits jedoch auch durch die »Zivilisierung zum Corpus«, die von Hemmati-Weber (1993) aufgezeigt wird. Die Leib / Körper-Debatte vor dem Hintergrund der ökologischen Krise Die Differenzierung von Leib und Körper kann nach Fuchs (2013, 82) etymologisch gut nachvollzogen werden. Das Wort Leib komme vom mittelhochdeutschen Wort »lip«, welches auch »Leben« bedeutet. Körper stamme hingegen vom lateinischen Wort »corpus« und bedeute u.a. auch »Leichnam«. Der Leibbegriff stehe demnach für die lebendige Erscheinung und Gegenwart eines Menschen, der Körperbegriff hingegen für den primär materiellen Gegenstand. Vor diesem Hintergrund macht Fuchs (2013, 82) auf die von Plessner stammende Gegenüberstellung »Leib sein« und »Körper haben« aufmerksam und verweist darauf, dass »alle lebendigen Prozesse und Tätigkeiten […] nicht gehabt, besessen oder gemacht, sondern nur gelebt und erlebt werden« können (Fuchs 2013, 83), wohingegen Körper als Objekte zu Waren werden können, die besessen oder gehandelt werden können. Mit dem Leibbegriff werden darüber hinaus auch Aspekte des sogenannten Natürlichen bzw. der eigenen Natur verbunden. So schreibt Merleau-Ponty (1974, 234): »er [der Leib] bleibt verwurzelt in der Natur« und kann sich nicht gegen die Natur verschließen, noch die Natur übersteigen. Für Böhme (2005, 16) ist der »Leib: die Natur, die wir selbst sind«. Fuchs (2013, 84) macht darauf aufmerksam, dass Bedürfnisse, wie Essen, Trinken, Ruhen, Kontakt und das Atmen, Ausdruck unserer stillschweigenden, aber auch unmittelbaren und spontanen, bis hin zu kaum zu bändigenden Natur sind. Die Naturseite des Leibes widersetze sich bis zu einem gewissen Grad der neuzeitlichen Beherrschung der Natur. Da der Kern des »naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsprogramms« jedoch darauf ausgerichtet sei, »sich der Welt, der Natur, der Lebensprozesse und des eigenen Körpers zu bemächtigen, sie in Gegenstände zu verwandeln und so immer erfolgreicher zu manipulieren« (Fuchs 2013, 83), schwinde die Anerkennung des natürlich lebendigen Leibes mit seinen Eigenheiten und Rhythmen, seiner innewohnenden Fähigkeit zum Ausgleich und zur Genesung, während für den Körper immer mehr Möglichkeiten gefunden werden, diesen aufzuputschen, zu beruhigen, zu verschönern und zu kontrollieren. Dieser Prozess der Objektivierung und Instrumentalisierung des eigenen Leibes / Natur (Selbstentfremdung) sei gleichzeitig so weit fortgeschritten, dass Böhme (2005, 21) zu dem Schluss kommt, dass sich »Selbst-Natur-Sein« und »Leib zu sein« nicht mehr von selbst mache oder als gegeben angenommen werden könne, sondern zur Aufgabe und Herausforderung werde. Zu sehr würden die gegenwärtigen durch Technik geprägten Lebensformen, wie auch die neuzeitliche Tradition menschlichen Selbstverständnisses entgegenwirken (Böhme 2005, 16). Um dieser Herausforderung nachkommen zu können, habe der Aspekt des Spürens besondere Bedeutung (Böhme 2005, 18). Auf der Suche nach einer naturbewussten Gesundheitsförderung---selbst Natur sein als Lösungsweg und gesunder Konfliktherd In Anbetracht der Pluralität der Ursachen für die sich immer weiter zuspitzenden ökologischen Die »Zivilisierung zum Corpus« schmälert die Bereitschaft, aktiv zu werden. [ 69 ] Clobes • Gegen den Strom 2| 2019 Krisen bedarf es ebenfalls eine Vielfältigkeit der Lösungsansätze, um einerseits die Verdrängung zu überwinden und andererseits handlungsfähig---für den Erhalt existentieller Lebensgrundlagen und unserer lebendigen Mitwelt---zu werden. Dass Verhaltenspotentiale, die zur realitätsgerechten Reaktionsweise beitragen, nicht weiter durch Verdrängung überdeckt werden, könnte ein Ziel einer naturbewussten Gesundheitsförderung sein. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das weiter wie bisher Szenario im aktuellen Jahrhundert eine Klimaerwärmung von bis zu 6 °C und ein Aussterben von möglicherweise der Hälfte aller Arten mit sich bringt, steht das Erschließen der zum Wandel befähigenden Verhaltenspotentiale dringend an. Da Gesundheit aus der Sorge für sich und andere entsteht und von der Gesellschaft, die die Bedingungen für Gesundheit ermöglicht, abhängt (WHO 1986), muss in Zeiten der zur Routine gewordenen Umweltskandale neu diskutiert werden, zu welchen Fähigkeiten und Fertigkeiten Gesundheitsförderung befähigen muss. Statt lediglich die individuelle Fähigkeit zur Lebensbewältigung zu fördern, könnte eine naturbewusste Gesundheitsförderung Teil der notwenigen Bewegung zur Erhaltung von Lebensgrundlagen werden und dabei u.a. zur naturverträglichen Lebensgestaltung befähigen. Mit Hinblick auf die strukturelle Naturausbeutung kann weiterhin diskutiert werden, ob Solidarität, Emanzipation, sozialer Ungehorsam und eine gewaltfreie Streit- und Protestkultur zu zentralen Schlagwörtern einer aufgeklärten, naturbewussten Gesundheitsförderung werden müssen. Das phänomenologische Verständnis von Leib-Sein, als verankert sein in der Welt und als Teil sein von Natur, wie es Böhme (2005), Fuchs (2013) und Merleau-Ponty (1974) aufzeigen, kann als Grundhaltung weiterführend sein. Wenn selbst Natur sein zum Erleben wird, fließe die Fürsorge für die Mitwelt, »ganz natürlich, […], so dass der Schutz der freien Natur als Schutz unseres eigenen Selbst empfunden und wahrgenommen wird« (Macy / Young Brown 1998, 64f ). Entstehen könne dieses Erleben von Zugehörigkeit durch das Betreten der Reiche der Natur mit offenen Sinnen und in »komplexer Achtsamkeit« (Petzold 2016, 259f ). Literatur Adorno, T. W. (1969): Minima moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. 30. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Böhme, G. (2005): Naturerfahrung: über Natur reden und Natur sein. In: Gebauer, G. (Hrsg.): Naturerfahrung. Wege zu einer Hermeneutik der Natur. Die Graue Edition, Zug, 9-28 Fuchs, T. (2013): Zwischen Leib und Körper. In: Hähnel, M., Knaup, M. 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