motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2019.art15d
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2019
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Fachbeitrag: Grundvorstellungen von ganzheitlicher Gesundheit
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Ulf Henrik Göhle
Das etablierte Gesundheits-Krankheits-Kontinuum der Salutogenese muss durch ein zweites Kontinuum ergänzt werden, damit Paradoxien und die Komplexität von Gesundheit besser verstanden werden können und einem Anspruch auf Ganzheitlichkeit auch theoretisch nähergekommen wird. Ferner kann so die normative Dimension von Gesundheitsförderung thematisiert werden. Das damit neu entstehende Modell unterscheidet Handlungspotenzial in »reproduktiv« versus »produktiv«. Für die Praxis birgt das vorgelegte Modell weitreichende Orientierungshilfen, um therapeutisches Handeln theoretisch neu zu strukturieren.
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Zusammenfassung / Abstract Das etablierte Gesundheits-Krankheits-Kontinuum der Salutogenese muss durch ein zweites Kontinuum ergänzt werden, damit Paradoxien und die Komplexität von Gesundheit besser verstanden werden können und einem Anspruch auf Ganzheitlichkeit auch theoretisch nähergekommen wird. Ferner kann so die normative Dimension von Gesundheitsförderung thematisiert werden. Das damit neu entstehende Modell unterscheidet Handlungspotenzial in »reproduktiv« versus »produktiv«. Für die Praxis birgt das vorgelegte Modell weitreichende Orientierungshilfen, um therapeutisches Handeln theoretisch neu zu strukturieren. Schlüsselbegriffe: Gesundheitsmodell, Handlungstheorie, Ganzheitlichkeit, Motologie, Psychomotorik, Gesundheitsförderung Fundamental concepts of holistic health The »health-disease« continuum is well established in the field of Health Promotion but lacks explanatory powers to depict paradoxes and complexities of human health. This paper proposes a second continuum of »human action potential« that runs from reproductive to productive action as a means for understanding the normative aspect of human Health Promotion. This approach will provide more holistic information to health practitioners structuring therapeutic interventions. Key words: Health-model, Action Theory, holistic approach, psychomotricity, Health Promotion [ 88 ] 2| 2019 motorik, 42. Jg., 88-94, DOI 10.2378 / mot2019.art15d © Ernst Reinhardt Verlag [ FACHBEITRAG ] Grundvorstellungen von ganzheitlicher Gesundheit Ulf Henrik Göhle Die Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit motologischer Gesundheitsförderung in Unternehmen beherbergt eine ganze Reihe von erkenntnistheoretischen Problemen, unter anderem danach, was den motologischen Gesundheitsbegriff auszeichnet. Dazu bedurfte es der Entwicklung einer konzeptionellen Basis, die die bisher vorliegenden Bestimmungen zum motologischen Gesundheitsbegriff zusammenfasst, weiterentwickelt und daraus ein kohärentes Modell entwirft. Das hier vorgestellte Vier-Zonen-Modell der Gesundheit kann möglicherweise dazu beitragen, neue Entwicklungen anzustoßen, die die Salutogenese, das bisher herangezogene Referenzmodell für Gesundheit, nicht mehr zu leisten vermag. Dies insbesondere deswegen, weil sie die Komplexität von ganzheitlicher Gesundheit zu stark reduziert, Widersprüche und Paradoxien ausklammert, mit denen wir aber gerade in der Praxis des täglichen Lebens immer wieder konfrontiert werden und deren Kontroversen eine tiefe Quelle von Erkenntnis eröffnen (Latour 2016). So strebt das vorgelegte Modell konsequenterweise auch danach, den vorherrschenden methodischen Individualismus über eine »Re-kontextualisierung« zu überwinden und Gesundheit als »Zusammenkunft« zu verstehen, wie dies »Handlung« in der Akteur-Netzwerk-Theorie wird (Latour 1996; 2007; 2016; Mol/ Law 2004). Die wissenschaftstheoretische Begründung des Modells kann im Rahmen dieses Artikels nur angedeutet werden. Eine vertiefende Auseinandersetzung findet sich in Göhle (2019). Modellentwurf der motologischen Gesundheitsbestimmungen Aufgrund des fachimmanenten Anspruchs auf Ganzheitlichkeit ist ein motologischer Gesundheitsbegriff sehr reichhaltig und facettenreich. [ 89 ] Göhle • Grundvorstellungen von ganzheitlicher Gesundheit 2| 2019 Grundzüge eines motologischen Gesundheitsbegriffs wurden bereits dargelegt (Haas et al. 2014; Seewald 2006; 2008; Späker 2008), und insbesondere von Seewald (2008) auf folgende Komponenten verdichtet: 1. Multifaktorielles Balancedenken, 2. Verborgenheit: Gesundheit versteckt sich in unserer Potenzialität und ist nicht direkt zugängig, 3. Gesundheit ist erst- und zweitrangig zugleich (Paradox 1), 4. Gesundheit ist individuell, aber gleichzeitig gesellschaftlich bedingt (Paradox 2). Zu den einzelnen Punkten lässt sich anmerken: 1. Multifaktorielles Balancedenken: Ein aus dem antiken Gesundheitsverständnis hergeleiteter Kerngedanke (Kollesch 2009) ist der der Balance. Das Balancieren um einen, dem Menschen in seiner Einmaligkeit gemäßen, inneren Mittelpunkt. Die »stimmige« oder »optimale« Balance erhöht das Handlungspotenzial und drückt sich dann in guter Gesundheit und Wohlbefinden aus. Geraten wir aus der Balance, reduzieren sich Handlungsspielräume. Auch in fernöstlichen Philosophien und Theorien ist diese Vorstellung von Gesundheit leicht auffindbar (Svoboda 1995). 2. Verborgenheit: Gesundheit verschwindet hinter den Handlungsspielräumen bzw. versteckt sich in unserer Potenzialität (Seewald 2008). Es geht hierbei um Handlungspotenzialität. Allerdings kann auch das Unterlassen von Handlungen das Potenzial erhöhen. Eine unkontrollierbare Hyperaktivität stellt eine gesundheitliche Einschränkung dar. Gesundheit kommt durch den Horizont an Möglichkeiten zum Ausdruck, der uns zur Verfügung steht und durch Krankheit schrumpft (Gadamer 1993). 3. Paradox 1: Gesundheit ist gleichzeitig »erst- und zweitrangig« (Seewald 2008): Die Erstrangigkeit liegt drin, dass Gesundheit uns überhaupt erst den vollständigen Zugang zur Welt gewährt. Schwindet unsere Gesundheit, reduzieren sich auch die Möglichkeiten, die wir in der Welt haben. Die gleichzeitige Zweitrangigkeit ist jedoch deswegen so wichtig, damit wir uns als Gesunde, den Dingen der Welt zuwenden und nicht ständig nur mit unserer Gesundheit beschäftigt sind. Gewinnt die Erstrangigkeit Oberhand, so entsteht Hypochondrie und im Falle einer steten Zweitrangigkeit würde Nachlässigkeit und gesteigertes Risikoverhalten vorherrschen. 4. Paradox 2: Gesundheit ist immer individuell und gleichzeitig gesellschaftlich bedingt. Unsere Gesundheit ist ähnlich einzigartig wie wir selbst, sie kommt in dieser Weise kein zweites Mal vor. Gleichzeitig haben jahrzehntelange Forschungen gezeigt, dass unsere Gesundheit eng mit unserer sozioökonomischen Statusstufe assoziiert ist (Cockerham 2014, 92f ). Aus diesen vier Punkten leitet sich zwingend ein fünfter ab, dass nämlich Gesundheit komplex und aufgrund ihrer Emergenz nicht auf Einzelteile reduzierbar ist. Gesundheit ist somit auch nicht auf Handlungspotenziale reduzierbar bzw. Gesundheit ist supervenient zu Handlungspotenzial und liegt somit auf einer höheren Ebene. Gesundheit kann im Sinne des Verborgenheitsgedankens Handlungspotenziale evozieren. Handlungspotenziale wiederum ermöglichen Spielräume für gesundheitsförderliches Verhalten, resultieren aber nicht notwendigerweise in Gesundheit. Entwurf des Vier-Zonen-Modells von Gesundheit Um diesen postulierten inneren Merkmalen von Gesundheit nachzugehen, bedarf es eines komplexen Ansatzes im Theoriedesign: Verschiedene Zugänge müssen verknüpft werden, um ein möglichst facettenreiches Bild zu erstellen. Daher wird Komplexität bereits als Gesundheitsparadigma diskutiert und dabei die Notwendigkeit eines transdisziplinären Ansatzes herausgestellt (Albrecht et al. 1998; Tremblay / Richard 2014). Folglich muss ein Modell, das Bedingungen ganzheitlicher Gesundheit darstellen will, sowohl empirische als auch hermeneutische Zugänge beinhalten. Ein Entwurf eines motologischen Gesundheitsmodells sollte in der Lage sein, Sprünge und Brüche zu erklären. Dies erscheint dann möglich, wenn das salutogenetische Gesundheits-Krankheits-Kontinuum mit [ 90 ] 2| 2019 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis dem zweiten Kontinuum des Handlungspotenzials ergänzt wird. Dieses Handlungspotential wird qualitativ unterschieden zwischen den Polen »reproduktiv« und »produktiv«. Dieses Begriffspaar rekurriert auf eine Unterscheidung, die Bernhard Waldenfels (1989) herausgearbeitet hat. »Reproduktiv« ist demnach eine Handlung, die die Ordnung, innerhalb derer sie stattfindet, nicht selbst mit hervorbringt, sondern eben nur reproduziert. Bei produktivem Handeln hingegen geht es nicht nur um Alternativen im Hinblick auf die Notwendigkeiten einer nicht selbst mitgestalteten Ordnung, es geht darum, dass die Handlungen die Ordnung selber mit hervorbringen: »Als produktiv verstehe ich ein Handeln, das selber beteiligt ist an der Schaffung der Ordnung, in der es sich bewegt, und an der Formulierung der Fragen, auf die es antwortet« (Waldenfels 1989, 20). Durch das Aufspannen eines Kontinuums, das zwischen reproduktivem und produktivem Handlungspotenzial unterscheidet, und dieses Kontinuum quer zum etablierten salutogenetischen Gesundheits-Krankheits-Kontinuum liegt, entsteht ein neues Modell von Gesundheit. Die resultierende Vier-Felder-Matrix (Abb. 1) ermöglicht es zum einen, verschiedene Qualitäten von Gesundheit zu postulieren und zum anderen können Paradoxien veranschaulicht werden, z. B. dass Krankheit sogar unter Umständen produktives Handeln ermöglicht. Die punktuellen Beschreibungen der Legende dienen nur der Veranschaulichung. Es ist vielmehr anzunehmen, dass Menschen ihre Gesundheit im Sinne eines Möglichkeitsraums entfalten, der sich in einer jeweils höchst individuellen Form, als kontinuierliche Bewegung zwischen diesen vier Zonen darstellen ließe. Kontinua und Gesundheitszonen Die Kombination dieser zwei Kontinua erzeugt vier Zonen: ■ Zone 1: krank---reproduktiv (»Überleben«), ■ Zone 2: krank---produktiv (»Matratzengruft«), ■ Zone 3: gesund---reproduktiv (»Funktion«), ■ Zone 4: gesund---produktiv (»Kontingenz«) Im Weiteren sollen diese vier Zonen kurz in ihren wesentlichen Merkmalen beschrieben werden. Zone 1: »Überleben« Die Zone 1 ist gekennzeichnet durch Krankheit und nicht selbstbestimmte Handlungsspielräume. Je weiter wir in dieser Zone hinabsinken, desto ernsthafter wird die Gefahr für unser (gelingendes) Leben. Der Begriff »Überleben« ist beim Eintritt in diese Zone zunächst symbolisch gedacht: Viele Erkrankungen stellen heutzutage keine Lebensbedrohung dar. Das Extrem dieser Zone finden wir bei Schwerkranken, denen fast alle Vitalfunktionen abgenommen werden (künstliche Ernährung etc.). Von einer Zone des zunächst symbolischen bis immer konkreteren »Überlebens« zu sprechen, ist sinnvoll vor dem Hintergrund, dass Krankheit und Gesundheit ein Kontinuum bilden. Ob Krankheiten schwer verlaufen oder sie überlebt werden, ist ebenfalls eine »Zusammenkunft« im Sinne Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007). Es ist unzureichend, Gesundheit und Krankheit nur vom Individuum und dessen Adaptionsleistung aus zu betrachten. Die Überlebenswahrscheinlichkeit von Kindern mit Krebs ist beispielsweise stark von deren sozioökonomischem Status abhängig (Gupta et al. 2014), den sie selber nicht ändern können. Zone 2: Formen der Matratzengruft Krankheit ist auch Teil eines gesunden Lebens. Harmlose Infektionskrankheiten und der Kontakt mit Antigenen aller Art sind gerade für Kleinkinder wichtig, damit ihr Immunsystem »Freund« und »Feind« unterscheiden lernt. Ob Krankheit förderlich für unsere Entwicklung ist, scheint vor allem vom Schweregrad, dem Verlauf und dem Umgang damit abzuhängen. Die Leitdifferenz reproduktiv / produktiv sagt letztlich aus, ob die Krankheit der (Weiter-)Entwicklung eines gelingenden Lebens zuträglich ist. Chronische Krank- Ein Gesundheitsmodell sollte in der Lage sein, Sprünge und Brüche zu erklären. [ 91 ] Göhle • Grundvorstellungen von ganzheitlicher Gesundheit 2| 2019 heiten können unter Umständen produktiv sein. Ein Bandscheibenvorfall bedeutet für verbeamtete PolizistInnen möglicherweise einen »ruhigeren« Job, mit mehr produktiven Gestaltungsspielraum ausüben zu können. Hingegen würden freiberufliche ComputerexpertInnen dadurch sicher eine schwere berufliche Einschränkung erfahren, weil sie nicht mehr so lange sitzen können. Folglich würde der letztere Fall in diesem Vergleich nicht in diese Zone, sondern in die Zone 1 fallen. Das berühmte Extrem dieser Zone ist sicher Heinrich Heines Matratzengruft, nach der sie benannt wurde, weil der Dichter seine letzten acht Jahre bettlägerig verbrachte, diese Zeit aber eine höchst produktive Schaffensphase seines Lebens war. Zone 3: Gesundheit als Funktion In der Praxis der Gesundheitsförderung ergibt sich oft das Bild, dass Gesundheit mit Leistungsfähigkeit im Hinblick auf selbst- und fremdbestimmte Aufgaben assoziiert oder sogar gleichgesetzt wird (Göhle 2017). Es ergibt also Sinn, eine Zone der Funktion zu postulieren. Im Kontext betrieblicher Gesundheitsförderung erscheint dies von besonderer Bedeutung, denn Unternehmen haben ein berechtigtes Interesse daran, dass Gesundheitsförderung ihre MitarbeiterInnen in ihrer Leistungsfähigkeit stabilisiert oder diese sogar steigert. Die Zone 3 (Funktion) wird durch »reproduktive Handlungen« charakterisiert: Selbst- und fremdbestimmte Aufgaben innerhalb einer gegebenen Ordnung werden durch eine Verbesserung der Gesundheit zunehmend besser bewältigt. Waldenfels spricht im Hinblick auf »gutes Leben« dieser Art von Handlung eine »Dienstfunktion« zu und führt aus, dass diese Vorstellung von Handlung in »funktionalistische Handlungstheorien« Eingang gefunden hat (Waldenfels 1989, 19). Gesundheit wäre dann, so die Übertragung dieses Gedankens, eine Funktion des erfolgreich reproduktiven Handelns. In dieser Zone der Gesundheit können Menschen sich selbst Aufgaben stellen und bewältigen diese auch. Selbst gestellt heißt aber noch nicht zwangsläufig »produktiv«. Die Produktivität bleibt »Reproduktivi- Abb. 1: Entwurf eines Vier-Zonen- Modells der Gesundheit (Göhle 2019, 69) Legende: + = schwere Krankheiten ++ = Befindlichkeitsbeeinträchtigungen +++ = schwere Erkrankung, die aber produktives Handeln ermöglicht * = Höchstleistung im Hinblick auf vorgegebene Ordnung (im Extrem noch weiter links: fremdbestimmte Überstrukturierung der Handlungsspielräume, z. B. Elite-SoldatIn im Einsatz) ** = kreatives selbstbestimmtes Handlungspotential (im Extrem: Gefahr der Unterstrukturierung) [ 92 ] 2| 2019 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis tät«, solange sie sich auf Alternativen im Hinblick auf eine Problemlösung vorgegebener Ordnung beschränkt. Extremes Beispiel dieser Zone könnten Elite-SoldatInnen im Einsatz sein: bei »bester« Gesundheit, weit überdurchschnittlich in der Leistungsfähigkeit und in der Stressresistenz, jedoch nahezu vollständig fremdbestimmt. Was dieser Zone fehlt, ist selbstbestimmte Handlungskontingenz. Denn der Auslegung Luhmanns folgend ist Kontingenz »etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist« (Luhmann 1984, 154). Diese Unterscheidung zwischen Alternativen im reproduktiven Handeln und Kontingenz im produktiven Handeln ist wesentlich. Funktionsgeschehen haben fast immer alternative Lösungswege, diese sind aber stets auf das Erreichen eines Ziels ausgerichtet, also im Luhmann’schen Sinne nicht kontingent, da sie Alternativen innerhalb eines funktionsorientierten, zielgerichteten Handelns darstellen, also innerhalb von Notwendigkeiten bleiben. Wie tief sich diese Vorstellung von Gesundheit in den Diskurs eingegraben hat und unhinterfragt als Ausgangspunkt genommen wird, lässt sich an vielen Modellen aufzeigen. Zone 4: Gesundheit als Kontingenz Wie Gesundheit jenseits eines Funktionsgeschehens konzeptualisiert werden kann, ist handlungstheoretisch mit Waldenfels’ Vorstellung von produktivem Handeln erklärbar. Es geht um mögliche Welten, die auch die Möglichkeit des Scheiterns im Hinblick von Zielerreichung beinhalten. Eine Kontingenz der Gesundheit bedeutet nicht nur Reserven, sondern auch Spielräume, Anders-sein-Können sowie die Möglichkeit des produktiven Scheiterns. Es geht nicht mehr um die Bewältigung der internen und externen Anforderungen, sondern um »produktives« Handeln. In dieser Zone findet sich die von Seewald (2008) referierte und von Gadamer (1993) stammende Vorstellung von Gesundheit wieder: »Wohlgefühl, unternehmungsfreudig, erkenntnissoffen und selbstvergessen […] selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren---das ist Gesundheit« (Gadamer 1993, 144). Fazit Dieser Modellentwurf dient als eine erste begründete Annahme, um Gesundheit neu denken zu können. Dies schützt davor, gedanklich lediglich in die ausgefahrenen Wege bestehender Modelle zu geraten. Das Modell kann sowohl empirisch als auch normativ genutzt werden, wenn es darum geht, Gesundheit zu verorten. Für die empirische Nutzung bedarf es selbstverständlich noch der Entwicklung geeigneter Datenerhebungsmethoden, die prüfen können, ob sich eine Verbesserung der Gesundheit in Leistungsfähigkeit hinsichtlich einer bestehenden Ordnung übersetzt oder ob Gesundheit kreativselbstbestimmende Handlungspotenziale eröffnet. Die implizit-normativen Vorstellungen des Modells stehen im direkten Einklang mit dem Menschenbild der Motologie und Psychomotorik (Seewald 1998). Dieses Modell könnte möglicherweise einen Schritt hin zur Klärung der Verwobenheit zwischen den zwei motologischen Feldern Entwicklungsförderung und Gesundheitsförderung leisten. Es ist vorstellbar, dass ein Zusammenspiel aus Funktion, Kontingenz sowie milde Formen der Matratzengruft entwicklungsförderlich wirkt bzw. dass das »Verhaftet-Sein« in bestimmten Zonen Entwicklung hemmen kann. Typische Beispiele wären Gesundheit mit Leistungsfähigkeit zu verwechseln, sprich nur die Funktionszone zu sehen, oder Gesundheit nur mit Selbstbestimmtheit in Verbindung zu bringen, also lediglich die Kontingenz-Zone anzustreben und dabei die im Arbeitsleben immer notwendige »Dienstfunktion« von Gesundheit zu übersehen. Die Erreichung der Kontingenz-Zone als alleiniges Ziel zu proklamieren, wäre auch unterkomplex gedacht. Es würde übersehen, dass auch diese Zone Pathologien begünstigen kann: z. B. zu viel Auswahl relativ zur Integrationsleistung des Individuums, könnte zu einer chronisch unterstrukturierten Handlungssituation führen. Selbstwirksamkeitserfahrungen und Lebensfreude wären dann ähnlich gefährdet, wie bei fehlenden Kompetenzen in der Funktionszone. Daher muss motologische Gesundheitsförderung vor allem auf Dynamik der individuellen Gesundheit hin konzeptualisiert werden: Welche [ 93 ] Göhle • Grundvorstellungen von ganzheitlicher Gesundheit 2| 2019 Umwelt-Individuum-Konstellation fordert welche Art von Gesundheitsförderung? Wie kann gerade das Wechselspiel zwischen Funktion und Kontingenz gelingen? Welche Kompetenzen und Reflexionsfähigkeiten bedarf es, um Abstürze in die Krankheitszonen zu vermeiden, welche bedarf es für den Aufstieg? Mit diesem Modellentwurf eröffnet sich eine neue Dimension von Gesundheitsförderung, die weit über die bisher bestehende Salutogenese hinauswachsen könnte, ein facettenreicheres Vorgehen begründet und vor allem der Komplexität der gelebten Wirklichkeit der Akteure angemessener erscheint. Dieser Beitrag durchlief das Peer Review. Literatur Albrecht, G., Freeman, S., Higginbotham, N. (1998): Complexity and Human Health: The Case for a Transdisciplinary Paradigm. 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