motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2019.art35d
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2019
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Aktuelles Stichwort: Ästhetische Bildung
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Iris Laner
Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671–1713), ist als einer der richtungsweisenden Figuren im Diskurs überzeugt, dass Geschmack als begreifendes Wahrnehmen und hierin bedeutsames menschliches Vermögen durch Gebrauch, Übung und kulturellen Austausch erlernt wird. Shaftesbury trug als einflussreicher Denker dazu bei, dass die Frage danach salonfähig wurde, wer wie zu Geschmack kommt und damit auch zu ästhetischer Erfahrung und Gestaltung fähig ist. Die damit verbundene Perspektivierung ästhetischer Bildung ist nicht nur immer noch aufschlussreich, sondern sie macht auch auf Engpässe heutiger Debatten aufmerksam. Das Hinterfragen der Ansicht, dass wir alle von Natur aus ästhetisch erfahren, gestalten und urteilen können, soll daher der Ausgangspunkt einer knappen Darstellung dessen sein, was ästhetische Bildung ist und wovon ästhetische Bildungsprozesse handeln.
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[ 193 ] motorik, 42. Jg., 193-196, DOI 10.2378 / mot2019.art35d © Ernst Reinhardt Verlag 4| 2019 [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Aktuelles Stichwort: Ästhetische Bildung Iris Laner »Taste […] can hardly come ready form’d with us into the World. […] Use, Practice and Culture must precede the Understanding and Wit of such an advanc’d Size and Growth as this« (Shaftesbury 2001, 101). Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671-1713), ist als einer der richtungsweisenden Figuren im Diskurs überzeugt, dass Geschmack als begreifendes Wahrnehmen und hierin bedeutsames menschliches Vermögen durch Gebrauch, Übung und kulturellen Austausch erlernt wird. Shaftesbury trug als einflussreicher Denker dazu bei, dass die Frage danach salonfähig wurde, wer wie zu Geschmack kommt und damit auch zu ästhetischer Erfahrung und Gestaltung fähig ist. Die damit verbundene Perspektivierung ästhetischer Bildung ist nicht nur immer noch aufschlussreich, sondern sie macht auch auf Engpässe heutiger Debatten aufmerksam. Das Hinterfragen der Ansicht, dass wir alle von Natur aus ästhetisch erfahren, gestalten und urteilen können, soll daher der Ausgangspunkt einer knappen Darstellung dessen sein, was ästhetische Bildung ist und wovon ästhetische Bildungsprozesse handeln. Zur Komplexität des Begriffs »Ästhetische Bildung« Gegenwärtig taucht der Begriff »ästhetische Bildung« als Beschreibung für einen unklar konturierten Bildungsbereich auf. Diese Uneindeutigkeit hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass ästhetische Bildung einerseits auf das Aisthetische- - also das die sinnliche Wahrnehmung Betreffende- - und andererseits auf die produzierende und rezipierende Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur gerichtet verstanden wird (Dietrich et al. 2012; Mollenhauer 1996; Peez 2008; Selle 1988). Ästhetisch gebildet wäre demnach, wer der eigenen Sinne Frau oder Herr ist, wer Kunst und Kultur angemessen betrachten und Gegenstände von künstlerischem Wert herstellen kann. Nicht jede sinnliche Wahrnehmung hat aber mit künstlerischen Artefakten zu tun. Sie kann zum Beispiel auch körperliche Tätigkeit oder die Interaktion mit anderen betreffen (Liebau et al. 2009; Rittelmeyer 2017). Sind diese aber ebenso Gegenstand ästhetischer Bildung? [ 194 ] 4| 2019 Auf den Punkt gebracht Ästhetische Erfahrung und Gestaltung als Zugang Um Debatten über Grenzen des Sinnlichen zu vermeiden, wird ästhetische Bildung an dieser Stelle auf das ästhetische Erfahren und Gestalten bezogen. Damit sind Erfahrungs- und Handlungsbereiche gemeint, die nicht instrumentellen Nutzen, Erkenntnis, ökonomische Verwertbarkeit oder Triebbefriedigung zum Ziel haben. Wer ästhetisch erfährt, lässt sich auf das Erfahrene als solches ein. Wer ästhetisch gestaltet, schafft Situationen oder Gegenstände, die für sich genommen Gefallen hervorrufen. Ästhetische Dinge erhalten ihren Wert nicht erst durch den Dienst an etwas Anderem. Wird nun über die Bildung ästhetischer Erfahrung und Gestaltung nachgedacht, rücken Fragen, wie folgende ins Zentrum: Wer kommt unter welchen Umständen in die Lage, wer verfügt durch welches Wissen, welche Übungen, welche Prägungen über die Fertigkeiten, ästhetisch zu erfahren und zu gestalten? Welches Können ist Voraussetzung für ästhetische Auseinandersetzungen? Wie kann dieses Können erworben werden? Das Nachdenken über Geschmack kann beim Finden von Antworten helfen. Auch wenn der Begriff in den heutigen Debatten über ästhetische Bildung kaum Erwähnung findet, erlaubt er es, sowohl die Aisthetik als Schulung der Sinne wie auch die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur miteinzubeziehen, ohne aber deren jeweilige Spezifik zu verwässern. Geschmack-- ästhetisch betrachtet Geschmack beschreibt laut Shaftesbury die Fertigkeit, sinnliche Erfahrungen zu machen, die mit Lust einhergehen und gleichsam eine urteilende Komponente haben (Shaftesbury 2001, 101). Geschmack impliziert, wie das Zitat zu Anfang des Textes verdeutlicht, neben dem Gefallenfinden einen Bezug zu »Understanding and Wit«, womit Begreifen und geistreiche Beschäftigung gemeint ist. Das bedeutet nun nicht, dass bereits jede Person, die Geschmack hat, auch tatsächlich etwas begrifflich fassen muss oder sich geistreich artikuliert. Es heißt aber, dass ihre Erfahrung über einen »bloßen« sinnlichen Eindruck hinausgeht, indem sie sich auf den Gegenstand einlässt, diesen als eigenständigen ernst nimmt, aber dennoch differenziert, abwägt, sucht, erkundet. Charakteristisch für eine ästhetische Erfahrung ist, dass man sich am betrachteten Gegenstand auf Grund seiner sinnlichen Qualitäten und nicht auf Grund von Nutzen, Funktionalität oder Mehrwert erfreut. Gesellt sich in der ästhetischen Erfahrung zur lustvollen Wahrnehmung nun aber noch eine Art von Begreifen, handelt es sich um ein Geschmackserlebnis im Shaftesbury’schen Sinn. Das Wahrgenommene wird-- zunächst nicht mittels Konzepten, sondern sinnlich-- zu verstehen gesucht, es wird verglichen, assoziiert, hinzuimaginiert usw. In Folge kann, aber muss nicht zwangsweise, ein sogenanntes Geschmacksurteil gefällt werden, ein Urteil darüber nämlich, worin für einen selbst in der Betrachtung der ästhetische Gehalt eines Dings liegt. Über ein solches Urteil kann dann freilich auch diskursiv verhandelt werden und man wird im Dialog mit anderen aufgefordert, die eigenen Erfahrungen mitzuteilen, mit Hilfe von Gesten oder Sprache zum Beispiel. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich unterstreichen, dass damit keine elitäre Idee von ästhetischem Erfahren eingeführt werden soll. Im Gegenteil geht es darum, jenes reine, freie, selbstbezügliche Kontemplieren zu entzaubern, das in vielen Debatten ästhetischer Bildung mit Rekurs auf Immanuel Kants Rede vom »uninteressierten« (Kant 1977, 116) Geschmacksurteil beschworen wird. Wer ästhetische Erfahrungen im hier verstandenen Sinne hat, muss nicht völlig distanziert, frei von Emotionen und Interessen sein; es geht in der ästhetischen Bildung dagegen darum, ästhetische Zugänge zu schaffen auch für diejenigen, die es sich nicht leisten können, völlig frei von anderen Interessen zu sein, die aber nichtsdestotrotz mit dem Ästhetischen umgehen und dieses als solches genießen und begreifen lernen können. Geschmack zu haben, ist nicht nur zentral für das Betrachten von Werken der Kunst und Kultur. Es ist auch ein wesentlicher Motor der Kunst- und Kulturproduktion. Das ästhetische Gestalten, als Herstellen von ästhetischen Dingen, ist kein reines technisches Fertigen und mechanisiertes Arbeiten an einem Gegenstand; es ist gleicherma- [ 195 ] Laner • Aktuelles Stichwort: Ästhetische Bildung 4| 2019 ßen ein prüfendes Betrachten desselben. Neben dem Beherrschen von Techniken, der Entwicklung der Feinmotorik und dem Wissen um Gebrauch von Materialien braucht es für das ästhetische Gestalten von künstlerisch und kulturell wertvollen Dingen ebenso Geschmack. Ästhetische Bildung als Erwerb der Fertigkeit des ästhetischen Erfahrens Kehren wir zum Kernanliegen dieses Beitrags zurück, ästhetische Bildung als Erwerb der Fertigkeit des ästhetischen Erfahrens und Gestaltens durch Schulung des Geschmacks zu beschreiben. Dass eine ästhetische Haltung nicht schlichtweg gegeben ist, sondern erworben werden muss, war zu Beginn des 18. Jahrhunderts keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Auch heute versteht sich diese Einsicht nicht von selbst. In theoretischen und bildungspolitischen Diskussionen wie auch im Lehr- und Vermittlungsbetrieb wird meines Erachtens nicht immer vehement genug eingefordert, dass wir einen wahrnehmenden und begreifenden Zugang zu ästhetischen Dingen entwickeln, ja, uns vielleicht sogar erarbeiten müssen. Viele-- wissenschaftliche wie auch praktische- - Ansätze schweigen sich über die Voraussetzungen der Begegnung mit der ästhetischen Welt aus und riskieren damit, in Lernkontexten unvorbereitet und ungeübt mit dieser zu konfrontieren. Das Ästhetische an Gegenständen wahrnehmen zu können, sich an diesen erfreuen zu können, sinnlich erkunden, begreifen wie auch gestalten zu wollen, ist jedoch nicht Selbstverständlichkeit, sondern bedarf einer Haltung, die als zu übende und erwerbende thematisiert werden muss. Dort, wo der Kunstunterricht zum Beispiel in erster Linie als Raum für die Begegnung mit dem Ästhetischen gesehen und nicht dezidiert zum Thema gemacht wird, dass nicht jede Person immer schon die Bereitschaft hat, an einer solchen Auseinandersetzung zu partizipieren, können sich Zwang und Ablehnung einstellen. Insbesondere differenzsensible, integrative Ansätze ästhetischer Bildung müssen daher mit der Einsicht arbeiten, dass nicht nur die Fähigkeit zu Bildbetrachtung und technisch versiertem Gestalten, sondern bereits das, was diesen zu Grunde liegt, nämlich die ästhetische Haltung, im Rahmen von Übungen, Wiederholungen, angeleiteten Auseinandersetzungen, Hinweisen usw. gelernt wird. Dazu muss ästhetisches Erfahren nicht als Ausgangspunkt, sondern als eines der wesentlichen Ziele von Prozessen ästhetischer Bildung verstanden werden. Erst dann nämlich ist es möglich, den immer noch herrschenden Klassenunterschieden in Kunst- und Kulturproduktion wie auch der Trennung von High und Low Art mitsamt den damit verbundenen Hierarchisierungen in Theorie und Praxis die Stirn zu bieten. So verstanden, setzt ästhetische Bildung bewusst als ein vorsichtiges Heranführen an eine spezifische- - die ästhetische- - Haltung und Erfahrungsform an, die Vielen zunächst fremd und unzugänglich sein mag. Zugänge können durch Übungen im Wahrnehmen, wie Vergleiche zwischen Erfahrungsformen, gemeinsames Betrachten, motivierte Perspektivenwechsel oder auch schlichte Wiederholungen und dem Bereitstellen von Zeit, geschaffen werden. Gerade von Seiten der PädagogInnen und VermittlerInnen müssen dabei besonders diejenigen angesprochen und behutsam mit ins Boot geholt werden, denen nicht das Privileg gegeben ist, Erfahrungen immer schon gemacht zu haben, die anders sind als funktional oder instrumentell orientiert. Fazit Ästhetische Bildung braucht viel Zeit und Räume, in die man sich zurückziehen kann, ohne dabei aber den Bezug zur Lebenswelt zu suspendieren. Sie ist daher keineswegs ein selbstgenügsamer Rückzugsort und isolierter Bildungsbereich, sondern sie kann Welt neu erschließen. Sie kann Zugänge schaffen nicht nur zu Kunst und Kultur, sondern auch zu anderen Gebieten und nicht zuletzt kann sie für die Erfahrenden ihre eigene Erfahrung als solche thematisch machen. Somit gibt sie Gelegenheit zur Ausbildung von Selbstbewusstsein im wortwörtlichen Sinn. Da diejenigen, die an ästhetischen Bildungsprozessen partizipieren, sich darin üben, ihre Perspektive auf [ 196 ] 4| 2019 Auf den Punkt gebracht das Erfahrene zu ändern, erlernen sie die Fertigkeit, sich nicht nur auf das Ästhetische einzulassen, sondern auch zunächst nicht-ästhetische Dinge anders als instrumentell oder funktional zu betrachten. Damit aber ist auch etwas für Reflexionen gewonnen, die an den Bereich des Ethischen oder des Poltischen anschließen (zur weiteren Vertiefung siehe Laner 2018). Ästhetische Bildung ist zwar eine große Aufgabe und vielleicht schwieriger zu realisieren als manchmal angenommen; die Hürden zu überwinden und den Weg des bewussten, theoretischen und praktischen Aufarbeitens der Voraussetzungen von ästhetischen Erfahrungen zu begehen, lohnt aber in vielerlei und eben nicht nur in strikt ästhetischer Hinsicht. Literatur Dietrich, C., Krinninger, D., Schubert, V. (2012): Einführung in die Ästhetische Bildung. Beltz, Weinheim / Basel Kant, I. (1977): Werke in zwölf Bänden. Bd. 10. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Laner, I. (2018): Ästhetische Bildung zur Einführung. Junius, Hamburg Liebau, E., Klepacki, L., Zirfas, J. (2009): Theatrale Bildung: Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule. Juventa, Weinheim Mollenhauer, K. (1996): Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Juventa, Weinheim Peez, G. (2008): Einführung in die Kunstpädagogik. Kohlhammer, Stuttgart Rittelmeyer, C. (2017): Warum und wozu ästhetische Bildung. Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick. Athena, Oberhausen Selle, G. (1988): Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogische Praxis. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Shaftesbury, Earl of (2001): Characteristicks of- Men, Manners,Opinions,Times.Book3.Liberty-Fund,Indianapolis, https: / / doi.org/ 10.1017/ CBO9780511803 284 Die Autorin Dr. Iris Laner Forschung und Lehre in Erziehungswissenschaft, Kunstpädagogik, Philosophie Anschrift Akademie der bildenden Künste Wien Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften Augasse 2-6 A-1090 Wien i.laner@akbild.ac.at
