motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2020
431
Forum Psychomotorik: Visionen für die Psychomotorik im Schweizer Schulsystem
11
2020
Kimon Blos
Die Fachkräfte der Psychomotoriktherapie arbeiten in der Schweiz nahezu ausschließlich im obligatorischen Volksschulbereich, was zwar ein definiertes Profil, aber auch eine Abhängigkeit vom Monopol der schulischen Arbeitgeberschaft bedingt. Deren Weiterentwicklung gewinnt so elementare Bedeutung für die fachlichen Schwerpunktsetzungen und die landesweiten Berufsperspektiven. So sind Ausbildungsstellen, Weiterbildungsinstitute und Berufsverband aufgefordert, die etwaigen Entwicklungsstränge aufmerksam zu verfolgen und ggf. bereits geeignete Wege anzubahnen, den neuen Anforderungen zu genügen. Der Beitrag bemüht sich um eine Übersicht und erste Impulse.
7_043_2020_001_0010
Zusammenfassung / Abstract Die Fachkräfte der Psychomotoriktherapie arbeiten in der Schweiz nahezu ausschließlich im obligatorischen Volksschulbereich, was zwar ein definiertes Profil, aber auch eine Abhängigkeit vom Monopol der schulischen Arbeitgeberschaft bedingt. Deren Weiterentwicklung gewinnt so elementare Bedeutung für die fachlichen Schwerpunktsetzungen und die landesweiten Berufsperspektiven. So sind Ausbildungsstellen, Weiterbildungsinstitute und Berufsverband aufgefordert, die etwaigen Entwicklungsstränge aufmerksam zu verfolgen und ggf. bereits geeignete Wege anzubahnen, den neuen Anforderungen zu genügen. Der Beitrag bemüht sich um eine Übersicht und erste Impulse. Schlüsselbegriffe: Psychomotoriktherapie, Schule, bewegter Unterricht, Lehrplan 21, Zukunftsszenarien, Visionen Visions for psychomotricity in the Swiss school system. Current opportunities and perspectives Psychomotricity therapy specialists in Switzerland work almost exclusively in compulsory elementary education, which requires a defined profile, but also a dependency on the monopoly of the school employer. So, their further development gains general importance for the professional priorities and the national career perspectives. Apprenticeships, further education institutes and professional associations are called upon following the possible developments closely and initiating suitable ways to meet the new requirements. The article tries to give an overview and first impulses. Key words: psychomotricity therapy, school, physical activitybased lessons, curriculum, future scenarios, visions [ 10 ] 1 | 2020 motorik, 43. Jg., 10-15, DOI 10.2378 / mot2020.art03d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Die Psychomotorikin der Schweiz hatihre Anfänge mit Suzanne Naville und Juan de Ajuriaguerra (Jucker-Keller 2012) ähnlich wie in Deutschland mit Ernst »Jonny« Kiphard und Helmut Hünnekens (Kiphard 1980) im direkten Umfeld der Kinderpsychiatrie genommen. Doch während sie sich in Deutschland in eine eigenständige Fachsystematik und verschiedene Anwendungsfelder ausdifferenzierte (Schilling 1981), ist sie in der Schweiz durch ihre Verortung in der Heil- und Sonderpädagogik (Vetter 2007) v.a. im Schulsystem präsent. Im Zuge der Bestrebungen zur Harmonisierung der traditionell stark föderalistisch geprägten obligatorischen Schulorganisation (EDK 2007a) und zur Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG 2002) regelt die interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik (EDK 2007b) den Anspruch auf unterstützende Maßnahmen des öffentlichen Bildungsauftrags. Diese umfassen bei entsprechender Indikation den landesweit unentgeltlichen Zugang zu psychomotorischer Förderung und Therapie jeden Kindes der Volksschule. Rahmenbedingungen prägen die Disziplinentwicklung Diese Verankerung der Psychomotorik im schulischen Sektor, die in vielen Kantonen bereits Jahrzehnte vor dem genannten Sonderpädagogikkonkordat bestand, eröffnet den AbsolventInnen des Bachelorstudiums Psychomotoriktherapie (PMT) eine in Anstellung und Entlohnung verlässliche Berufsperspektive. Die faktische Be- Visionen für die Psychomotorik im-Schweizer Schulsystem Von aktuellen Chancen und perspektivischen Risiken Kimon Blos [ 11 ] Blos • Visionen für die Psychomotorik im-Schweizer Schulsystem 1 | 2020 schränkung des Arbeitsfeldes bleibt dagegen aber nicht ohne Konsequenzen für die individuellen wie kollektiven fachlichen Entwicklungen, die entsprechend maßgeblich von den Anforderungen und Bedürfnissen der Arbeitgeberschaft beeinflusst werden. Die mitunter divergierenden Zielvorstellungen erzeugen so in der therapeutischen Praxis zwar wiederkehrend Klärungsbedarf (Blos 2014; Vetter 2015), sollen aber hier nicht im Zentrum der Überlegungen stehen. Die nunmehr zentralen schulischen Interessen konnte die Psychomotorik beispielsweise beständig über ihre Grafomotorikkompetenzen bedienen. Die Unterstützung der Lehrpersonen im elementaren Schreiblernprozess ihrer SchülerInnen war eine entscheidende und wertvolle Eintrittskarte ins öffentliche Bildungssystem. Vom frühen Grundlagenwerk (Naville / Marbacher 1980) bis zu den heutigen innovativen Forschungsprojekten und Veröffentlichungen unter Federführung schweizerischer PsychomotorikerInnen (Sägesser / Eckhart 2016; Hurschler / Wicki 2017) zur grafomotorischen Diagnostik und Förderung entspannt sich ein Netz, das die Schnittstelle zwischen Entwicklungsbegleitung, Kulturtechnikvermittlung, Prävention und Schreibdidaktik (Jucker-Keller 2012) verbindet. Auch die Förderkonzeption G-FIPPS (Vetter et al. 2010) zeugt von dieser Tradition. Doch gerade die Entstehungsgeschichte des letztgenannten Projektes explizit integrativer Schwerpunktsetzung verweist auf eine Gefahr, die der hiesigen PMT droht, wenn sich die Rahmenbedingungen des einzigen Arbeitgebers verändern und diese nicht rechtzeitig antizipiert werden. Denn die im oben genannten Sonderpädagogikkonkordat (EDK 2007b) festgelegte Prämisse, »integrative Lösungen sind separierenden Lösungen vorzuziehen« (Art. 2b), veranlasste einen kantonalen Ausbildungswie Unterrichtskostenträger, die vermeintlich mehrheitlich separativen Angebote der PMT infrage zu stellen und-- wenngleich vorrübergehend-- zu streichen (Vetter 2009). Vor diesem durchaus (existenz-)bedrohlichem Hintergrund muss die schweizerische Psychomotorik die Schulentwicklung aufmerksam im Blick behalten: zum einen, um deren Erwartungen und Anforderungen mit kompatiblen Angeboten zu begegnen, zum anderen aber auch, um deren Spielraum mit eigenen Impulsen und Profilen zu erweitern. Doch selbst wenn ihr der zweite Aspekt angemessener erscheint, so kann sie den eigenen Einfluss auf das nämliche System im Eingeständnis der tatsächlichen Bedeutungsstrukturen nur aufrechterhalten, wenn sie die prinzipielle Unterstützung des gesellschaftspolitischen Bildungsauftrags der Schule gewährleistet. So scheint es geboten, die aktuellen wie perspektivischen Chancen und Risiken anhand bereits wirksamer und begründet absehbarer Parameter einzuschätzen. Lehrplan 21 als aktueller Handlungsrahmen Der seit Oktober 2014 freigegebene und mehrheitlich zwischen 2017 und 2019 eingeführte neue Lehrplan 21 (LP21) (D-EDK 2014) formuliert Grundansprüche, die über einen mehrstufigen Kompetenzaufbau gewährleistet werden sollen. Diese gelten prinzipiell für alle Kinder, zu deren individueller Unterstützung die umfänglich verantwortliche Lehrkraft aber zusätzliche Fachpersonen beiziehen kann. So zielen Kompetenzorientierung und Integration auf die zunehmende Öffnung der vormaligen Leitideen der Lernzielorientierung und Separation, die damit aber noch nicht vollständig überwunden sind. Denn den deklarierten Mindeststandards haften weiterhin immanente Aussonderungen an, da sie innerhalb jener Grenzsetzungen über Akzeptanz und Ablehnung entscheiden. In diesem Zwiespalt sind die beigezogenen Fachpersonen der PMT gefordert. Sie sollen sowohl auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten eingehen als auch die Erfüllung der jeweiligen fachbereichsspezifischen Standards unterstützen, sollen somit sowohl eine dem Leistungsprofil entsprechende Persönlichkeitsentwicklung voranbringen als auch die erwartete Funktionalität wiederherstellen, die über das Anrecht auf Teilhabe entscheidet. So finden sich im Professionsverständnis der TherapeutInnen vielfältige funktionale wie verstehende Motivlagen (Adler et al. 2007), doch entspringt dieser Eklektizismus womöglich weniger einer souverän-selbstbewussten Gelassenheit in der [ 12 ] 1 | 2020 Forum Psychomotorik Frage nach fachlichen Ansatzdiskussionen (Richter-Mackenstein 2014), sondern viel mehr einem notgeschuldeten Pragmatismus im zwischen Integration und Separation eben nur schwer versöhnlichen Anforderungsraum gegensätzlicher Paradigmen (Vetter 2015). Dennoch stellt der LP21 aus Sicht der Psychomotorik eine erfreuliche Weiterentwicklung dar. Er betont die Bedeutung von Wahrnehmung und Bewegung im alltäglichen Unterricht und bietet ihr verschiedene Begründungsperspektiven für deren Einsatz (Tab.-1). So kommen PsychomotoriktherapeutInnen im schulischen Arbeitsfeld zwei Aufgaben zu: Als TherapeutInnen unterstützen sie in erster Linie Kinder mit besonderem Förderbedarf und als Coach v.a. Lehrpersonen in deren Anspruch, vielfältigen entwicklungs- und kompetenzorientierten Unterricht anzubieten. Gerade weil sich ihre zweite Rolle in der Praxis noch stärker etablieren darf, gilt es für die Psychomotorik, diesen im LP21 eröffneten Handlungsrahmen aktiv zu besetzen. Mit ihrem Anspruch, eine umfassende Verankerung der Bewegung im Schulalltag zu postulieren, kann sie einen entscheidenden Beitrag in einem Entwicklungsprozess vom schulgerechten Kind zur kindgerechten Schule leisten. Dabei ließe sich die Emanzipation der Bewegung von einer separativen Begrenzung in dafür vorgesehene Zeit- und Organisationseinheiten, wie Sportunterricht, Pausenaktivität, Wandertag oder Skilager, zu einer integrativen Öffnung explizit auch des fachspezifischen Unterrichts für körper- und bewegungsgetragene Lernimpulse beschreiben. Diesen Prozess sollte die Psychomotorik nutzen, ihre eigene Präsenz in der Schule für ungewisse Perspektiven breiter abzustützen. Zukunftsszenarien Diesen ungewissen Perspektiven versucht sich die Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung (2011a; 2011b) auf der Grundlage differenziert modulierter Einflussfaktoren zu nähern. Sie hat dafür vier plausible Szenarien entworfen (EGO, CLASH, BALANCE, BIO CONTROL, Tab.- 2), die das gesellschaftliche Leben absehbar prägen. Im Hinblick auf etwaige Auswirkungen auf die Psychomotorik interessieren hier besonders die in einer Vertiefungsstudie behandelten Konsequenzen für die Volksschule, die u.a. untersucht, »mit welchem Auftrag unsere künftigen Schulen ausgestattet […], wie sie in Zukunft organisiert und legitimiert […], welche Berufe mit der Schulung unserer Kinder betraut sein werden« (Roos / Tremp 2011, 4). Selbstbehauptungsthesen der Psychomotorik in den skizzierten Szenarien EGO: Die PMT wird unter der Schwächung des Solidaritätsprinzips aus dem Schulsystem ausgegliedert, findet sich aber im aufstrebenden Markt zunehmend ausdifferenzierter Ergänzungsangebote wieder. Gefordert werden Anpassung, Funktionalität und persönliche Leistungsoptimierung, während Integrationsmodelle an der Regelschule als gescheitert gelten. Die Psychomotorik etabliert sich mit individuellen Profilberatungen im Feld der Begabungsförderung, muss sich aber Standardisierungen und Zertifizierungen unterwerfen sowie nach Drittmittelfinanzierungen umsehen. Dafür tritt sie auch im öffentlichen Leben stärker in Erscheinung, um im Kampf um Aufmerksamkeit konkurrierender Angebote zu bestehen. CLASH: Für zusätzliche schulunterstützende Maßnahmen stehen keine staatlichen Finanzmittel mehr zur Verfügung. Der Bedarf an körperorientierten Selbsterfahrungsangeboten steigt aber und die Kompetenzen der Psychomotorik in der leiblichen Differenzierung, Gewaltprävention bzw. der psycho-sozialen Förderung sind gefragt. Diese werden aber zunehmend von Fachpersonen der (Schul-)Sozialarbeit übernommen, die entsprechende Psychomotorikmodule in ihrer Aus- oder Weiterbildung besucht haben. BALANCE: Obwohl dieser Wertekanon Zielvorstellungen und Überzeugungen der Psychomotorik prinzipiell stützt, gerät ihre allgemeine Etablierung durch zunehmend lokale Entscheidungshoheit über etwaige Schulprofile in Gefahr. Sie muss ihr Angebot anhand externer Eva- Der LP21 … Bewegungsimpulse … … verlangt vielfältige Unterrichtsmethoden … ergänzen und variieren den alltäglichen Unterricht … betont die Bedeutung der Entwicklungsorientierung … fördern die individuelle Entwicklung … fokussiert den Erwerb (fachlicher wie überfachlicher) Kompetenzen … unterstützen und festigen den Aneignungs- und Verstehensprozess Tab.-1: LP21 als Ausgangspunkt für bewegten Unterricht [ 13 ] Blos • Visionen für die Psychomotorik im-Schweizer Schulsystem 1 | 2020 [ 13 ] Blos • Visionen für die Psychomotorik im-Schweizer Schulsystem 1 | 2020 luationen, Evidenz- und Wirksamkeitsstudien als bildungsrelevant und unterrichtsfördernd legitimieren. Da sich dabei die psychomotorische Forschung lediglich auf aktuelle Anwendungsbereiche konzentrieren kann, bleibt ihre breite Weiterentwicklung fraglich. BIO CONTROL: PMT legitimiert sich als sonderpädagogische Eingliederungshilfe sowie als Präventiv- und Reparationsmaßnahme- - ggf. auch unter dem Aspekt schulischer Gesundheitsförderung, obwohl die psychomotorische Maxime des individuellen Wohlbefindens hinter allgemeinen Prinzipien der Volksgesundheit zurückstehen müsste. Unter dem anerkannten Kontroll- und Erziehungsauftrag rückt die biologische Funktionsorientierung in den Mittelpunkt, die die Psychomotorik mit ihren kompetenztheoretischen Ansätzen bedient. Ihre korrektiven Zielfokussierungen auf persönliche Sinnerfahrung, Individualität und Heterogenität werden skeptisch beäugt, entsprechende Forschungsprojekte nicht gefördert. Konkrete Visionen schulischer Ausbildungsstätten Auch Ausbildungsstellen für Lehrpersonen beschäftigen sich bereits intensiv mit den zukünftigen Herausforderungen und leiten aus relevanten Megatrends etwaige Visionen für die eigene Arbeit ab. So hält eine Arbeitsgruppe der Pädagogischen Hochschule Schwyz vor dem Hintergrund wachsender gesellschaftlicher Dynamik und steigender Erwartungshaltungen fest, dass Schulen die Möglichkeit erhalten müssen, »sich noch stärker als heute verändern zu können, mitunter auch grundsätzlich« (PHSZ 2019). Fokus EGO CLASH BALANCE BIO CONTROL Ökonomische und soziale Grundannahmen (u.a. BIP, Einkommen, Arbeitslosigkeit) sehr günstig ungünstig günstig sehr ungünstig Hauptmerkmale dominierender Werte-Orientierung Primat der Leistung, soziale Auf- und Abstiege »Überlebenskampf« befördert wachsende Intoleranz, starke Bindung an eigenes Soziotop Subsidiarität, Ressourcenorientierung Primat der Politik, angeleitete Lebensführung und soziale Ordnung Die Schule … als Marke … brennt … als Holding … mit Gesellschaftserziehungsauftrag Entwicklungslinie der Volksschule Privatisierung der Bildung: Bildungsgutschriften, frei einlösbar an zertifizierten Schulen, Orientierung an internationalen Standards politisch umkämpfte Bildungspolitik, schwindende Alimentierung, Praxis: Mischung aus Sozialpädagogik und Repression konsequente Dezentralisierung, lebensräumliche Orientierung unter Einbezug lokaler Ressourcen, Partnerschaften umfassende Verschulung der Kindheit, Erziehungs- und Gesundheitsauftrag Trägerschaft, Steuerung, Legitimation schnell wachsender privater, pluraler Schulmarkt, Zertifizierung anhand nur formaler Anforderungen, wettbewerbswirksame Ratings (Schulgeld), wissenschaftliche Didaktik orientiert sich auch an psychologischen, pädagogischen und medizinischen Erkenntnissen Etablierung religiös, ethnisch oder pädagogisch differenzierter Privatschulen, Pädagogik-Diskurs verkennt Feuerwehr-Charakter der schulischen Praxis, fehlender Grundkonsens und zunehmende Skepsis gegenüber wissenschaftlich-rationaler Steuerungsinstrumente lokale Schulverbände aus Gemeinden, privaten Unternehmen, Vereinen und NGOs, großes Interesse an weltweiten Best-Practise-Beispielen und evidenzbasierten Erkenntnissen öffentliche Trägerschaft und zentralisierte Steuerung der Volksschule, »wertebasierte Wissenschaft« legitimiert das pädagogische Handeln, Einbezug von Medizin und Sozialpädagogik Bildungsziele, Curricula plurale Profile und Ziele, Trennung von Betreuung und Lernen, Talente und Begabungen im Mittelpunkt kulturelle Integration und Chancengleichheit, tatsächlich aber manifestiert sich Reproduktion der Ungleichheit, Orientierung an Mindest-Standards (Alphabetisierung, Arbeitsplatzfindung) verantwortungsvolle Ressourcen- Kompetenz, Nachhaltigkeit, lokale Lernanlässe gewinnen an Bedeutung Mindeststandards des klassischen Bildungskanons sowie Verhaltenskontrolle, Gemeinschaftsbildung, Verantwortungsbewusstsein, Disziplinierung Unterricht, Lernorte, Betreuung Individualisierung als Organisationsprinzip, Vielfalt der Lernorte und Zeitstrukturen gemäß Nachfrage sozialpädagogisch orientierter Unterricht in Jahrgangsklassen, keine Mittel für weitere Betreuung anregende multilokale Lernzonen, auch bei PartnerInnen, flexibler Stundenplan, vielfältige (freiwillige) Betreuungsangebote leistungsdifferenzierte Jahrgangsklassen, breites Instrumentarium sonderpädagogischer Maßnahmen, verbindliche Tagesstruktur Profession Personal mit differenzierten, privat zertifizierten Qualifikationsprofilen, günstiges Assistenz- und Betreuungspersonal, zusätzlich Talentscouts von Firmen und Hochschulen verkürzte Ausbildung von Lehrpersonen mit verstärkter sozialpädagogischer Kompetenz, z.T. an FH für Sozialarbeit, auch QuereinsteigerInnen mit »breitem Rücken« und »harter Hand« staatlich organisierte und zertifizierte Ausbildung der Lehrpersonen, die soz. Prozesse steuern und als LernbegleiterInnen fungieren, aber von Selektionsaufgaben befreit sind, multidisziplinäre Teams unter pädagogischer Führung Ausbildung der Lehrpersonen aus Kostengründen zurückgestuft, Persönlichkeit und Charakter gewinnen an Bedeutung, ErzieherInnen genießen hohe Anerkennung Tab.-2: Vier Szenarien und ihre Auswirkungen auf den Bildungssektor (in Anlehnung an Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung 2011a; 2011b) [ 14 ] 1 | 2020 Forum Psychomotorik Dieser Wandel fordere Visionen, die nicht nur beschreiben, was sein könnte, sondern auch, was sein sollte-- entwickelten also auch normativen Charakter. Aus Sicht der Psychomotorik, die sich bisher als Teil des schulischen Angebots verstehen darf, scheinen Aussagen zu (1.) den zentralen Akteuren und ihrer Zusammenarbeit, (2.) der Führung und Steuerung sowie (3.) der zukünftigen Örtlichkeiten besonders bedeutsam. Vision 1-- Die Primarschule der Zukunft wird durch profilierte Lehrpersonen in unterrichtsbezogenen Teams verantwortet Um die Anzahl der Bezugspersonen für die Schülerinnen und Schüler möglichst klein zu halten, bestehen die Teams aus wenigen Lehrpersonen mit breiten Grundkompetenzen und je spezifischen Ergänzungsprofilen. Option: Während diese Teams prinzipiellen Spielraum für die PMT offenhalten, verpflichtet die unterrichtsbezogene Ausrichtung deren Mitglieder auf den Lehrplan. Da die Teams zudem möglichst klein und daher breit ausgebildet und einsetzbar sein sollten, drängen sich strategische Fragen nach der Sicherung psychomotorischer Kompetenzen an der Schule auf: Werden Doppelqualifikationen als PsychomotoriktherapeutIn und Lehrperson notwendig oder bilden sich Letztere in als besonders relevant erachteten psychomotorischen Teilkomponenten weiter? Vision 2-- Schulen entwickeln eigenständige Profile zur Erfüllung ihres Leistungsauftrages Realisation: Mögliche Auswirkungen lassen sich bereits heute am Beispiel der Sonderschulen im Kanton Luzern ablesen. Während das kantonale Volksschulbildungsgesetz im Regelschulbereich die Stellenkapazitäten noch mit verbindlichen Richtzahlen festlegt (SRL 1999), bleibt die Umsetzung im Sonderschulbereich den einzelnen Schulen überlassen, die in der Verteilung ihrer finanziellen Ressourcen eigene Schwerpunkte setzen. So differieren die entsprechenden Angebote auch bei Schulen vergleichbarer SchülerInnenprofile enorm (DVS Luzern 2019). Vision 3-- Die Primarschule der Zukunft fördert die Vielfalt von Lernorten in und außerhalb der Schule Die Primarschule ist Teil des öffentlichen Lebens und nutzt die Zusammenarbeit mit örtlichen Zusatzangeboten, um Schnittstellen im Sinne der ganzheitlichen und integrativen Förderung überfachlicher Kompetenzen zu bearbeiten. Option: Der lokale Charakter der Schule wird gestärkt. Unter dieser Vorgabe könnte die Psychomotorik ihre Inhalte auch als externe Partnerin anbieten, wenn ihre allgemeine Etablierung und Legitimierung in der Folge der oben skizzierten Entwicklungen in Frage stehen. Dabei scheinen ihre Schulnähe, ihre integrative Ausrichtung und öffentliche Präsenz zwingend. Da nicht in allen Gemeinden und Schulhäusern separate Therapieräume zur Verfügung stehen, nutzt auch die Psychomotorik vielfältige Handlungsorte, um den Unterricht wie auch die Schülerinnen und Schüler mit ihren Impulsen zu unterstützen. Fazit und Forderungen zur Selbstverpflichtung Zukunftsforschung und pädagogische Hochschulen gehen von einem (grundsätzlichen) Wandel der Schule aus. Um vor diesem Hintergrund auch perspektivisch als Leistungsanbieterin gefragt zu bleiben, sollte die Psychomotorik diese Entwicklungen unbedingt ernst nehmen. Unabhängig von weiteren szenarienspezifischen Anforderungen scheint eine Selbstverpflichtung auf konsequente integrative Ausrichtung, Öffnung für Klassen- und Gruppenangebote, Akzeptanz verstärkter Beratungs- und Coachingfunktion, aktivere öffentliche Präsenz und Beteiligung am Diskurs zur Schulentwicklung notwendig, psychomotorische Kompetenzen auch langfristig an Schweizer Volksschulen zu sichern. Dabei muss die Psychomotorik ihren gesellschaftskorrektiven Anspruch nicht aufgeben, ihn jedoch über lehrplanrelevante Inhalte und organisationskompatible Strukturen vermitteln. Die offensive Akzentuierung der eigenen Expertise, bspw. in der Anregung der aktuell allgegenwärtig diskutierten 21st Century skills (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und [ 15 ] Blos • Visionen für die Psychomotorik im-Schweizer Schulsystem 1 | 2020 [ 15 ] Blos • Visionen für die Psychomotorik im-Schweizer Schulsystem 1 | 2020 kritisches Denken), böte hierzu einen neuen lohnenden Anknüpfungspunkt. Literatur Adler, J., Hättich, A., Rüesch, P., Kleiner, B., Senn, B., Vetter, M., Weibel, M., Wittgenstein, A.-F. (2007): Forschungsbericht. Beschäftigungslage und berufliche Tätigkeit von Psychomotorik-Therapeutinnen und Therapeuten in der Schweiz. HfH Zürich BehiG- - Behindertengleichstellungsgesetz (2002): Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2002. In: https: / / www.admin.ch/ opc/ de/ classified-compilation/ 20002658/ index.html, 22.06.2019 Blos, K. (2014): Wenn zwei dasselbe tun, ist einer überflüssig- - über Heterogenität und Individualisierung in Schule und Psychomotorik. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 20 (4), 38-45 D-EDK- - Deutschschweizer Erziehungsdirektoren- Konferenz (2014): Lehrplan 21. In: https: / / lehr plan21.ch, 22.06.2019 DVS Luzern- - Dienststelle Volksschulbildung Luzern (2019): Konferenz der Psychomotoriktherapeut_innen vom 04.06.2019. Protokoll (unveröffentlicht) EDK-- Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (2007a): Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule (HarmoS-Konkordat) vom 14.06.2007. In: https: / / edudoc.ch/ record/ 24711/ files/ HarmoS_d. pdf, 22.06.2019 EDK- - Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (2007b): Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik vom 25.10.2007. In: https: / / edudoc.ch/ record/ 87689/ files/ Sonderpaed_d. pdf, 22.06.2019 Hurschler, S., Wicki, W. (2017): Kinematische Untersuchung der Handschrift mit STREGA CSWin: Ein Verfahren zur Förderplanung und zur Wirksamkeitsforschung. Zeitschrift für Empirische Sonderpädagogik 9 (4), 406-425 Jucker-Keller, D. (2012): Die Professionalisierung der Psychomotoriktherapie in der Deutschschweiz. Lizentiatsarbeit. Universität Zürich. Institut für Erziehungswissenschaften. In: https: / / psychomotorik. ch/ wp-content/ uploads/ 2014/ 08/ 120510_Lizarbeit_ Daniel_Jucker_Teil1_komprimiert.pdf, 20.06.2019 Kiphard, E. J. (1980): Motopädagogik. Psychomotorische Entwicklungsförderung. Bd. 1. verlag modernes lernen, Dortmund Naville, S., Marbacher, P. (1980): Vom Strich zur Schrift. Selbstverlag, Zürich PHSZ- - Pädagogische Hochschule Schwyz (2019): Pädagogischer Orientierungsrahmen. Gemeinsame Visionen. In: https: / / orientierungsrahmen. phsz.ch/ visionen, 22.06.2019 Richter-Mackenstein, J. (2014): Das juckt mich nicht. Zum wissenschaftstheoretischen Umgang mit konzeptionellem Mischmasch. In: Richter-Mackenstein, J. (Hrsg.): Blickpunkte. Aktuelle Entwicklungen und Verwicklungen in Psychomotorik und Motologie. WVPM, Marburg, 11-22 Roos, G., Tremp, P. (2011): Vorwort. In: Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung (Hrsg.): Wertewandel in der Schweiz 2030. Vertiefungsstudie: Volksschulen 2030. Vier Szenarien zur Zukunft der Schule. Swissfuture, Luzern, 4-5 Sägesser, J., Eckhart, M. (2016): GRAFOS. Screening und Differentialdiagnostik der Grafomotorik im schulischen Kontext. Hogrefe, Bern Schilling, F. (1981): Grundlagen der Motopädagogik. In: Clauss, A. (Hrsg.): Förderung entwicklungsgefährdeter und behinderter Heranwachsender. Perimed, Erlangen, 184-194 Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung (Hrsg.) (2011a): Wertewandel in der Schweiz 2030. Vier Szenarien. Swissfuture, Luzern Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung (Hrsg.) (2011b): Wertewandel in der Schweiz 2030. Vertiefungsstudie: Volksschulen 2030. Vier Szenarien zur Zukunft der Schule. Swissfuture, Luzern SRL- - Systematische Rechtssammlung (1999): 408. Verordnung über die Schuldienste. In: srl.lu.ch/ frontend/ versions/ 3248? locale=de, 20.06.2019 Vetter, M. (2015): Schulnahe Therapien und inklusive Bildung: im Spannungsfeld von institutionell definierter Zuständigkeit und subjektivem Problem- und Wirksamkeitserleben mit Folgen für die Interventionen. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 16 (3), Art. 14 Vetter, M. (2009). Welche Ziele verfolgt Psychomotorik im Gesellschafts- und Bildungskontext? motorik 32 (2), 59-66 Vetter, M. (2007): Wie sich Psychomotorik in Heil- und Sonderpädagogik definiert. In: Buchmann, T. (Hrsg.): Psychomotorik-Therapie und individuelle Entwicklung. Edition SZH / CSPS, Luzern, 25-28 Vetter, M., Amft, S., Sammann, K., Kranz, I. (2010): G- FIPPS: Grafomotorische Förderung. Borgmann, Dortmund Der Autor Dr. Kimon Blos Psychomotoriktherapeut (EDK), Dipl. Motologe, Dipl. Sportlehrer, Dozent PH Schwyz, Fachbeauftragter Psychomotoriktherapie Kanton Luzern, Leiter der regionalen Schuldienste (Logopädie, Psychomotorik, Schulpsychologie, Schulsozialarbeit) in Willisau/ LU Anschrift Pädagogische Hochschule Schwyz Zaystrasse 42 CH-6410 Goldau kimon.blos@phsz.ch
