motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2020
432
Forum Psychomotorik: Gendersensibilisierung in psychomotorischen Angeboten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit
41
2020
Caterina Schäfer
Der vorliegende Beitrag skizziert die kooperative Entwicklung von zwei geschlechterspezifischen und gleichzeitig gendersensiblen Bewegungsangeboten in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Als relevante Aspekte für eine Gendersensibilisierung in der Psychomotorik werden drei Aspekte herausgearbeitet: eine offene Ausschreibung, die Beachtung der individuellen Lebenslagen und Interessen der Adressat*innen sowie die Reflexion der geschlechterbezogenen und inklusiven Haltung der psychomotorischen Fachkräfte.
7_043_2020_002_0066
Zusammenfassung / Abstract Der vorliegende Beitrag skizziert die kooperative Entwicklung von zwei geschlechterspezifischen und gleichzeitig gendersensiblen Bewegungsangeboten in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Als relevante Aspekte für eine Gendersensibilisierung in der Psychomotorik werden drei Aspekte herausgearbeitet: eine offene Ausschreibung, die Beachtung der individuellen Lebenslagen und Interessen der Adressat*innen sowie die Reflexion der geschlechterbezogenen und inklusiven Haltung der psychomotorischen Fachkräfte. Schlüsselbegriffe: Offene Kinder- und Jugendarbeit, Mädchen, Jungen, Inklusion, Psychomotorik, Eltern, Gender Gender sensitisation in psychomotor offerings of open child and youth work This article outlines the cooperative development of two gender-specific and gender-sensitive movement offerings in open child and youth work. Three aspects are identified as relevant of gender sensitisation in psychomotricity: an open call for tenders, attention to the individual circumstances and interests of the addressees, as well as reflection on the gendered and inclusive attitudes of psychomotor specialists. Key words: open child and youth work, girls, boys, inclusion, psychomotricity, parents, gender [ 66 ] 2 | 2020 motorik, 43. Jg., 66-68, DOI 10.2378 / mot2020.art12d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Gendersensibilisierung in psychomotorischen Angeboten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Caterina Schäfer In der praktischen Umsetzung psychomotorischer Entwicklungsbegleitung von Kindern und Jugendlichen zeigt sich die Herausforderung, ein geschlechterspezifisches und gleichzeitig gendersensibles Bewegungsangebot auszuschreiben und gemeinsam mit den Adressat*innen zu gestalten. Einerseits erscheint es wichtig, spezifische Themen und Bedarfe von Mädchen* und Jungen* in spezifischen Angeboten aufzugreifen (um vielfältige Varianten von Geschlechtsentwicklungen und -identitäten abzubilden, werden Personenbezeichnungen hier mit Asterisk (*) gekennzeichnet (Wallner 2019, 41)). Andererseits könnten damit eine Bedürftigkeit und Eingrenzung auf bestimmte Themen impliziert werden, die möglicherweise nicht der Lebenswelt der Adressat*innen entsprechen oder diese gar erst hervorrufen. Da die Eltern über die Teilnahme ihrer Kinder an Bewegungsangeboten entscheiden, gilt es, bei der Ausschreibung auch die Elternperspektive zu beachten. So stellt sich die Frage: Wie können bewegungsorientierte Angebote gendersensibel kommuniziert und praktisch gestaltet werden, um Kinder (und ihre Eltern) anzusprechen? Im Folgenden soll der Prozess einer bedarfsorientierten Angebotsentwicklung in der Offenen Kinder- und Jugendhilfe hinsichtlich der Gendersensibilisierung skizziert werden. [ 67 ] Schäfer • Gendersensibilisierung in psychomotorischen Angeboten 2 | 2020 Gendersensible Ausschreibung eines psychomotorischen Angebotes Die Koordinationsstelle der Offenen Kinder- und Jugendarbeit der Stadt Witten (D) und zwei Fachkräfte der gemeinnützigen Gesellschaft Ruhrbewegung entwickelten 2013 ein psychomotorisches Angebot für Mädchen*. Ruhrbewegung setzt sich als Träger der freien Jugendhilfe in Nordrhein-Westfalen für Inklusion und die Verbindung von Bewegung und Lernen ein und bietet unter anderem Psychomotorik-Projekte für Kinder, Jugendliche und Familien an. Ziel war es, die Offene Kinder- und Jugendarbeit der Kommune auszubauen und insbesondere während der Schulferien ein Freizeitangebot zur Stärkung der Themen von Mädchen* anzubieten. Über das Medium Bewegung stand das Erfahren des eigenen Körpers in der Natur im Vordergrund. Das Angebot wurde in die Geschichte von Ronja Räubertochter (Lindgren 1982) eingebettet, da sie von der Entwicklung und Emanzipation eines Mädchens* in der Natur handelt und sie, neben dem Rollenbild von beispielsweise Prinzessinnen, eine alternative Identifikationsfigur für Mädchen* bieten kann. Interessierte Kinder wurden über die Anlaufstellen der Offenen Kinder- und Jugendhilfe informiert und von ihren Eltern angemeldet. Zwei psychomotorische Fachkräfte leiteten das dreistündige Angebot für 12 Mädchen* im Alter von 6-10 Jahren im Stadtpark Witten und einem angrenzenden Wald. Der erste Ausschreibungstitel lautete »Stark wie Ronja Räubertochter-- nur für Mädchen«. Nach der Umsetzung waren es zwei Elternteile, die sich gezielt nach einem entsprechenden Angebot für die Brüder*, die auch gerne mitgemacht hätten, erkundigten. Hier war das Geschlecht zu einem exkludierenden Faktor geworden. Um dem entgegenzuwirken, wurde in einer zweiten Projektphase zusätzlich ein psychomotorisches Angebot für Jungen* entwickelt. Zudem zeigte ein Junge*, der sich nach eigenen Aussagen wie ein Mädchen* fühle, Interesse an dem Angebot zu Ronja Räubertochter. Seine Teilnahme konnte nach Absprache mit den anderen Gruppenmitgliedern ermöglicht werden. Dies gab- - gemeinsam mit der gesetzlichen Einführung des dritten Geschlechtes ab dem 01.01.2019 (§ 45b PStG)- - Anlass für die Vertreter*innen der Stadt Witten und Ruhrbewegung, den inklusiven Aspekt hinsichtlich der Genderthematik zu hinterfragen. Um in der Ausschreibung die Vielfalt der Identitäten, Rollen und Verhaltensweisen zu berücksichtigen, wurde zum einen ein Asterisk (*) im Titel und zum anderen folgender Hinweis ergänzt: »Du bist kein Mädchen* und fühlst dich durch das Angebot angesprochen? Melde dich gerne bei uns unter … (aktuelle Telefonnummer)«. Gendersensibles Handeln und Reflektieren Dass sich kooperierende Einrichtungen die Zeit nehmen, um eine gemeinsame Leitlinie bezüglich des Themas Gender und im speziellen Gender in psychomotorischen Angeboten zu besprechen und zu vereinbaren, erscheint nach dieser Erfahrung in der Praxis als sehr wichtig. So kann ein gemeinschaftliches Verständnis von Inklusion entwickelt und über verschiedene Kommunikationswege transportiert werden. In der Begleitung der Kindergruppen kann die psychomotorische Fachkraft durch eine wertschätzende und offene Haltung einen hohen Einfluss auf einen sensiblen Umgang mit den Themen Bewegung, Körper und Gender nehmen. Insbesondere das Prinzip der Bewertungsvermeidung kann den Kindern vielfältige Explorationsräume ermöglichen, indem sie verschiedene Rollen und damit verbundene Bewegungsqualitäten im Spiel erproben können. Die Prinzipien der Psychomotorik bieten hier eine Orientierung, das eigene Handeln zu beleuchten und im Sinne einer inklusiven Haltung auszurichten (Keßel/ Martzy 2019, 131 f ). Dazu erscheint es wichtig, die persönlichen Herstellungsmechanismen von Geschlecht zu reflektieren, indem sich die psychomotorische Fachkraft beispielsweise fragt: ■ Welche Vorstellung von Geschlecht habe ich? ■ Mit welchen Rollenbildern bin ich selbst aufgewachsen? [ 68 ] 2 | 2020 Forum Psychomotorik ■ In welchen Situationen und warum limitiere ich das (Bewegungs-)Verhalten von Mädchen* oder Jungen*? Die beschriebenen Angebote für Mädchen* und Jungen* werden aktuell fortgeführt und immer wieder im kollegialen Austausch weiterentwickelt. So kann beispielsweise mit den Kindern nach einer Bewegungsphase das Erlebte hinsichtlich der eigenen Genderidentität besprochen werden, etwa mit Reflexionsfragen wie: ■ Was bedeutet es für dich, dich wie ein Mädchen* / Junge* zu bewegen? ■ In welchen Situationen erlebst du dich richtig stark, in welchen sehr schwach? ■ Wie geht es dir dann? Fazit Eine (geschlechter-)differenzierende Beachtung von Lebenslagen und Interessen der Adressat*innen ist für eine gendersensible Gestaltung von psychomotorischen Angeboten relevant. Die Praxiserfahrungen in der Offenen Kinder- und Jugendhilfe zeigen, dass die Zugangsmöglichkeiten durch die Ausschreibung und den Titel aufgezeigt werden. Eine Geschichte (hier: Ronja Räubertochter) bietet gestalterisch einen Rahmen, in dem Kinder eine Identifikationsfigur wiederfinden können, die sie zu vielfältigen Bewegungserfahrungen anregen kann. Seitens der psychomotorischen Fachkraft erscheint eine bewertungsvermeidende Kommunikation und inklusive Haltung sowie die Reflexion der geschlechterbezogenen Einstellungen als zentrale Voraussetzung für gendersensibles Handeln in der Psychomotorik. Der hier skizzierte Prozess zeigt erste Suchbewegungen einer Gendersensibilisierung in psychomotorischen Angeboten auf. Daraus ergibt sich der Bedarf nach theoretischer Vertiefung. Literatur- Keßel, P., Martzy, F. (2019): Beziehungsgestaltung und Haltung in der Psychomotorik. Ist das schon Inklusion? In: NIFBE (Hrsg.): Inklusive Haltung und Beziehungsgestaltung. Kompetenter Umgang mit Vielfalt in der KiTa. Herder, Freiburg, 126-133 Lindgren, A. (1982): Ronja Räubertochter. Oetinger, Hamburg Wallner, C. (2019): www.meinTestgelaende.de-- deine Gender-Bühne im Netz. In: Offene Jugendarbeit 28 (1), 32-41 Die Autorin Dr. Caterina Schäfer Diplom Rehabilitationspädagogin, seit 2012 Geschäftsführerin Ruhrbewegung, Mitarbeiterin im Fachgebiet »Körperliche und Motorische Entwicklung in Rehabilitation und Pädagogik« an der TU Dortmund Anschrift Ruhrbewegung gemeinnützige UG (haft.) Brunnenstr. 11 D-45128 Essen c.schaefer@ruhrbewegung.de
