eJournals motorik 43/4

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2020
434

Forum Psychomotorik: Lern- und Bildungsprozesse im Kontext psychomotorischer Weiterbildung

101
2020
Holger Jessel
Der Beitrag verfolgt insgesamt drei Ziele. Erstens werden Suchbewegungen im Hinblick auf die Frage angeboten, wie sich Lern- bzw. Bildungsprozesse im Kontext psychomotorischer Weiterbildung theoretisch fassen lassen, zweitens wird die Frage bearbeitet, welche Bedeutung implizites Wissen und implizites Lernen für die Entwicklung von Könnerschaft haben, und drittens werden Konsequenzen diskutiert, die sich aus diesen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen für die Begleitung von Lern-, Bildungs- bzw. Professionalisierungsprozessen ableiten lassen. Exemplarisch werden diese Überlegungen auf die Gestaltung der Lehrqualifikation der Deutschen Akademie – Aktionskreis Psychomotorik e.V. (dakp) bezogen.
7_043_2020_004_0169
Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag verfolgt insgesamt drei Ziele. Erstens werden Suchbewegungen im Hinblick auf die Frage angeboten, wie sich Lernbzw. Bildungsprozesse im Kontext psychomotorischer Weiterbildung theoretisch fassen lassen, zweitens wird die Frage bearbeitet, welche Bedeutung implizites Wissen und implizites Lernen für die Entwicklung von Könnerschaft haben, und drittens werden Konsequenzen diskutiert, die sich aus diesen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen für die Begleitung von Lern-, Bildungsbzw. Professionalisierungsprozessen ableiten lassen. Exemplarisch werden diese Überlegungen auf die Gestaltung der Lehrqualifikation der Deutschen Akademie-- Aktionskreis Psychomotorik e. V. (dakp) bezogen. Schlüsselbegriffe: Lernen, Bildung, implizites Wissen, implizites Lernen, Könnerschaft, Psychomotorik, Weiterbildung Processes of learning and education within professional psychomotor trainings. The significance of implicit knowledge and learning for the development of expertise The article pursues three objectives. First, I will ask how processes of learning and education within professional psychomotor trainings can be conceived theoretically. Second, I will examine the significance of implicit knowledge and learning for the development of expertise. Third, I will discuss conclusions for the facilitation of learning, education and professionalisation. These considerations are related to the teaching qualification of the »Deutsche Akademie-- Aktionskreis Psychomotorik e. V. (dakp)«. Key words: Learning, education, implicit knowledge, implicit learning, expertise, psychomotricity, training [ 169 ] motorik, 43. Jg., 169-175, DOI 10.2378 / mot2020.art31d © Ernst Reinhardt Verlag 4 | 2020 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Lern- und Bildungsprozesse im Kontext psychomotorischer Weiterbildung Die Bedeutung impliziten Wissens und Lernens für die Entwicklung von Könnerschaft Holger Jessel »Wissen ist weder eine notwendige, noch auch eine jemals hinreichende Voraussetzung für Könnerschaft. Können ist nicht die Magd des Wissens« (Neuweg 2015a, 38). Was bedeutet die Aussage von Neuweg für die Untersuchung von Lern- und Bildungsprozessen sowie für die Entwicklung von Könnerschaft? Zunächst werden grundsätzliche Überlegungen zum Phänomen des menschlichen Lernens dargestellt. Darauf aufbauend wird ein Bildungsbegriff skizziert, der diese Überlegungen aufnimmt und mit wesentlichen Herausforderungen psychomotorischer Weiterbildung verbunden werden kann. Im Anschluss erfolgt eine Fokussierung auf das »schweigende« Wissen (Kraus et al. 2017), das auch als implizites, praktisches oder unbewusstes Wissen (u. a. Neuweg 2020) bzw. als »tacit knowledge« (Polanyi 1985) bezeichnet wird, sowie auf Prozesse des impliziten Lernens. Implizites Wissen und implizites Lernen besitzen- - neben explizitem Wissen und explizitem Lernen- - für die Entwicklung von Könnerschaft im Kontext psychomotorischer Weiterbildung eine außerordentliche Relevanz. Konzeptionell wurden diese Phänomene im psychomotorischen Fachdiskurs bislang allerdings kaum be- [ 170 ] 4 | 2020 Forum Psychomotorik arbeitet. Der Beitrag schließt mit der Darstellung von Konsequenzen für die Begleitung von Lern-, Bildungsbzw. Professionalisierungsprozessen im Kontext psychomotorischer Weiterbildung. Menschliches Lernen Lernen wird in der Regel angetrieben von Fragen anstelle von fertigen Antworten, von Problemen anstelle von Resultaten (Faulstich 2013). Lernen benötigt Differenzerfahrungen, Irritationen und Diskrepanzen, es ist angewiesen auf das Erleben von etwas Neuem (Breuer 2019, 81), auf Konfrontation und auf Herausforderungen. Mit Faulstich (2014) lässt sich übergeordnet argumentieren: »Lernen findet statt, wenn der Kreislauf des Handelns durch neue Erfahrungen geöffnet wird. Erwartungen brechen auf und Vorstellungen verschieben sich. Die Welt-, Gesellschafts- und Menschenbilder, die wir uns zurechtgelegt haben, werden durcheinander gebracht. Lernen rettet uns vor dem Erstarren« (Faulstich 2014, 50). Man kann auch sagen, dass an der Bruchstelle des Erfahrungskontinuums, »wo sich im Erleben etwas als ›anderes‹ erweist, […] ein Prozess der neuen Sinnbildung bzw. -umformung« (Breuer 2019, 81) stattfindet. Peter Faulstich (2013, 2014) formuliert in seiner kritisch-pragmatistischen Lerntheorie eine Idee menschlichen Lernens, die auf zwei grundlegenden Annahmen basiert. Die erste Besonderheit menschlichen Lernens besteht darin, dass Menschen ihrem Handeln Sinn zuweisen (Faulstich 2013, 10). Zugespitzt lässt sich argumentieren: »Wo keine Sinnhaftigkeit erfahren werden kann, wird Lernen lästig« (Faulstich 2013, 17). Daraus ergibt sich die zentrale Frage nach der Bedeutung, die Lernende einer Thematik für sich und ihre erweiterte Handlungsfähigkeit zusprechen. Maurice Merleau-Ponty (1966) ist der Überzeugung, dass menschliches Leben insgesamt außerhalb von Sinnbezügen unmöglich ist: »Zur Welt seiend, sind wir verurteilt zum Sinn« (Merleau-Ponty 1966, 16). Leibphänomenologisch betrachtet kann man »den Lernvollzug als leiblichen Prozess der Sinnbildung« (Breuer 2019, 83) verstehen. Die weitere Annahme Faulstichs bezieht sich auf Menschlichkeit als moralische Kategorie. Zentral ist hierbei, »dass individuelle wie kulturelle Entfaltung nur möglich ist in Gemeinschaft, im Horizont der Verständigung über ein ›gutes Leben‹. Dies setzt Grenzen der Anpassbarkeit und begründet Widerständigkeit« (Faulstich 2013, 10f ). In diesen Annahmen wird deutlich, dass es beim Thema Lernen nicht um die Funktionalisierbarkeit und Verwertbarkeit von Lernprozessen bzw. -ergebnissen geht, sondern um die Entfaltung der Persönlichkeit, um die Entwicklung von Identität (Faulstich 2013, 11) sowie um das Aushandeln von Gestaltungsmöglichkeiten (Faulstich 2013, 213). Um zu einem angemessenen Lernbegriff zu gelangen, ist es nach Faulstich (2013, 213f ) erstens notwendig, die mentale Aktivität des Denkens um die praktische Tätigkeit zu erweitern, zweitens Lernen nicht isoliert, sondern kontextualisiert zu betrachten und drittens keine vereinzelten Subjekte, sondern die Priorität des Sozialen in den Blick zu nehmen. Diese drei Aspekte spielen auch im Kontext psychomotorischer Weiterbildung eine wesentliche Rolle. Zusammengefasst lässt sich Folgendes festhalten: Menschliches Lernen orientiert sich an subjektiven Sinnzuweisungen, die innerhalb gesellschaftlicher Strukturen vorgenommen werden. Lernen ist »in Entwürfe des Möglichen in der Zukunft einbezogen« (Faulstich 2013, 80). Lernen zielt auf die Erweiterung von Handlungsspielräumen »in bedingter Freiheit« (Faulstich 2013, 91). Beim Thema Lernen sind also stets auch die Möglichkeiten und Grenzen der Erweiterung der Weltverfügung mitzudenken. Menschliches Lernen und Bildung Die vorangegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass die Thematisierung menschlichen Lernens unmittelbar zu Fragen der Bildung führen. Die folgende Aussage mag diese Argumentation unterstützen: »Lernen bedeutet deshalb auch, sich selbst der Welt anzuverwandeln. Für jemanden, der lernt und dem dabei etwas Tiefgreifendes aufgeht, verändert sich die Welt, wenn er oder sie sich das Wissen einverleibt, sich zu eigen macht. Erlebtes wird [ 171 ] Jessel • Lern- und Bildungsprozesse im Kontext 4 | 2020 [ 171 ] Jessel • Lern- und Bildungsprozesse im Kontext 4 | 2020 dann mit den neuen Konzepten und Begriffen ausgedeutet, zur Erfahrung gemacht. Manchmal bedeutet dieser Wandel in der Perspektive eine Zäsur für das eigene Leben« (Jahn / Kenner 2019, 11). Durch Lernen kann der Mensch eigene Sichtweisen, Standpunkte, Deutungsweisen und Sinngebungen verändern. Hier wird ersichtlich, dass ein solches Lernen nicht nur sachliches Wissen schafft, »sondern den Lernenden insgesamt berührt und bewegt, dass also aus Erfahrung zu lernen immer auch eine Wendung, zumindest eine Episode in der Geschichte des Lernenden ist« (Göhlich 2014, 199). Im Rahmen psychomotorischer Weiterbildung haben die Akteure demnach zu berücksichtigen, dass Lernen auch Identitätsarbeit sein und individuelle Sinnfragen berühren kann. Für Faulstich (2013) bedeutet Bildung »diejenigen Kompetenzen zu erwerben, um konkrete gesellschaftliche Probleme zu verstehen, die eigene Position dazu zu finden, entsprechende Entscheidungen zu treffen und handelnd einwirken zu können. Das zentrale Bildungsproblem, die Perspektive der Sicherung von Identität und der Entfaltung von Persönlichkeit, ist demnach gebunden an die Gewinnung von Souveränität für das eigene Leben, von erweiterter Handlungsfähigkeit, das heißt auch von Lernchancen« (Faulstich 2013, 214). Für eine humane Bildung bedeutet dies, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen: »Die menschliche Praxis verlangt nach einer Kohärenz emotiver und kognitiver, ästhetischer und ethischer Erfahrungen und Einstellungen« (Nida- Rümelin 2013, 230f ). Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Annahme, dass wir nur lernen können, »weil wir leiblich leben, sowohl denken als auch körperlich, raum-zeitlich vorhanden sind. Wir schweben nicht als Geister über dem dunklen Wasser und spiegeln seine Oberfläche. Menschen sind nicht nur sinnsuchende, vernünftige Geistwesen, sondern auch sinnliche und zugleich herausragende, empfindsame und somit auch verletzliche Körper in Raum und Zeit. Unhintergehbare Voraussetzung menschlichen Lernens ist seine Leiblichkeit« (Faulstich 2013, 143). Die Begleitung von Lern- und Bildungsprozessen im Kontext der Psychomotorik-- verstanden als pädagogisches Handeln-- ist vor diesem Hintergrund »ein den ganzen Menschen betreffendes, mehrdimensionales sinnliches, emotionales und ethisches Handeln« (Wulf 2020, 11). Damit sind wir einerseits bei einem Kernaspekt psychomotorischer Weiterbildung angelangt und andererseits bei Fragen des impliziten Wissens und des impliziten Lernens, die für die Entwicklung von Könnerschaft von zentraler Bedeutung sind. Implizites Wissen und implizites Lernen Seit einigen Jahren gewinnt in den Geistes- und Sozialwissenschaften die Überzeugung an Bedeutung, dass der Bereich des »schweigenden Wissens« (Kraus et al. 2017) bzw. impliziten Wissens (u. a. Neuweg 2015a; 2015b; 2020) und damit auch Prozesse des impliziten Lernens stärker in den Fokus gelangen müssen, möchte man die Phänomene Lernen und Bildung sowie die Professionalisierungsherausforderungen in der reflexiven Moderne angemessen begreifen (u. a. Budde et al. 2017; Kraus et al. 2017; Neuweg 2015b; 2020; Wulf 2020). Der Begriff des impliziten Wissens ist »ausgesprochen unscharf« (Neuweg 2020, 24) und mit den Momenten des Intuitiven (tacit knowing), der Nichtverbalisierbarkeit, der Nichtformalisierbarkeit und der Erfahrungsgebundenheit assoziiert (Neuweg 2020, 24f ). Festhalten lässt sich jedoch, dass implizitem Wissen ein Kernmerkmal dessen fehlt, was wir alltagssprachlich als Wissen bezeichnen: »Wir haben keinen direkten Zugang zu ihm, können es insbesondere durch Regeln oder Verallgemeinerungen nicht oder nicht adäquat ausdrücken« (Neuweg 2020, 35). Die zentralen Annahmen im Hinblick auf implizites Wissen lassen sich wie folgt zusammenfassen (Neuweg 2020, 24f ): (a) Menschliches Können (Wahrnehmen, Beurteilen, Denken, Entscheiden, Handeln) lässt sich nicht bzw. nicht ausschließlich als Wissens- Implizites Wissen und Lernen sind die Basis von Könnerschaft. [ 172 ] 4 | 2020 Forum Psychomotorik anwendung begreifen. Beim impliziten Wissen als »tacit knowing« denkt das Subjekt während des Wahrnehmens, Urteilens oder Handelns nicht diskursiv, d. h. es gibt sich keine Selbstinstruktionen, sondern handelt »intuitiv«, d. h. die mentalen Prozesse gelangen nicht bzw. nur als Zwischenergebnisse zum Bewusstsein (Neuweg 2020, 25). Der Einsatz dieses Könnens kann als nicht-deliberativ (d. h. nicht überlegend, nicht erwägend) bezeichnet werden; er ist abhängig vom Grad der »Kompetenz-Anforderungs-Passung« (Neuweg 2020, 26). Wird diese Passung durch unvorhergesehene Herausforderungen oder Irritationen gestört, dann wird das quasi-reflexive Handeln reflexiv, allerdings im Sinne von »reflection-in-action« (Schön 1983) auf der Basis inkorporierten Wissens. (b) KönnerInnen können die »Wissensbasis« ihres Handelns nicht oder nicht angemessen verbalisieren. Polanyi (1985) hat hierfür die viel zitierte Formulierung verwendet, »daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen« (Polanyi 1985, 14; kursiv im Orig.). Implizites Wissen im Sinne eines »tacit knowledge« beinhaltet »jenes sprachlich ausformulierbare Regelwissen, dessen ›Kenntnis‹ der Könner demonstriert« (Neuweg 2020, 27f ). Implizites Handlungswissen ist ein Wissen darüber, »wie man eine Tätigkeit ausführt oder welche Handlungen unter welchen situativen Bedingungen angemessen sind« (Neuweg 2020, 28), allerdings nicht als exakte Verfahrensbeschreibungen oder explizite Erwägungen. (c) Für die beobachtende Person ist die kompetent realisierte Praxis nur begrenzt auf Regeln zurückführbar. Der starke Begriff impliziten Wissens geht sogar davon aus, dass menschliches Können aufgrund seiner hohen Flexibilität und Kontextsensitivität grundsätzlich nicht adäquat mit Hilfe von Regeln oder Regelsystemen abgebildet werden kann (Neuweg 2015c, 154). Auf Subjektseite wird dies mit den sinnlich-leiblichen Fundamenten menschlichen Wahrnehmens und Könnens begründet (Neuweg 2020, 29). Kraus (2017, 836) argumentiert hier wie folgt: »Der Körper kann als der originäre Zugang zur Wirklichkeit durch nichts vertreten werden. Seine Bestimmungen lassen sich nicht umgehen.« Auf der Seite der Situationsanforderungen erfolgt die Begründung im Verweis auf »Komplexität, Unsicherheit, Instabilität, Einzelfallbezogenheit und Zielkonflikte« (Neuweg 2020, 30). (d) Die wesentlichen Dispositionen können nicht durch Mitteilung hergestellt werden, sondern müssen »durch Sozialisation in Praktikergemeinschaften, durch Erfahrung, Modell und Beispiel erworben werden« (Neuweg 2020, 24). Beim impliziten Lernen geht es demnach um ein Lernen im »Funktionsfeld oder in funktionsfeldähnlichen Lernumgebungen« (Neuweg 2020, 31), in Expertenkulturen, im »face-to-face-Kontakt zwischen Experten und Novizen« (Neuweg 2020, 31) sowie »durch komplexe, lebensnahe Aufgabenstellungen und paradigmatische Fälle« (Neuweg 2020, 31). Konsequenzen für die Begleitung von Lern-, Bildungs- und Professionalisierungsprozessen Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass es einerseits von elementarer Bedeutung ist, sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden in ihrer Subjektposition anzuerkennen, andererseits wurde deutlich, dass Lern-, Bildungs- und Professionalisierungsprozesse grundsätzlich leibgebunden sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Lehrsituationen in mehrfacher Hinsicht paradox und widersprüchlich sind. Grundsätzlich geht es immer darum, »jemanden als jemanden anzuerkennen, der er schon ist, und ihn zugleich als jemanden zu adressieren, der er noch nicht ist« (Klepacki / Köstler-Kilian 2019, 212). Weitere Spannungsfelder bestehen darin, dass Menschen durch soziale Beziehungen zur Selbstständigkeit befähigt werden sollen, dass Formen der Selbstmit solchen der Fremdbestimmung vermittelt werden müssen und dass es eine Lücke gibt »zwischen der Implizites Lernen findet in Expertenkulturen statt und benötigt lebensnahe Aufgabenstellungen. [ 173 ] Jessel • Lern- und Bildungsprozesse im Kontext 4 | 2020 [ 173 ] Jessel • Lern- und Bildungsprozesse im Kontext 4 | 2020 semantisch-symbolischen und der praktischen Bewältigung von Herausforderungen im pädagogischen Feld« (Kraus 2017, 833). Können lernen findet offensichtlich in einem Spannungsfeld von impliziten und expliziten Prozessen statt. Trotz einer unübersichtlichen und zum Teil widersprüchlichen Befundlage begreift Neuweg (2020) implizites Wissen »als bedeutsamen Aggregatzustand professionellen Wissens und die implizite Integration als bedeutsamen Modus intelligenten beruflichen Könnens« (Neuweg 2020, 346). Entscheidend ist hierbei, dass implizites Wissen keinen abgeschlossenen Wissenskorpus darstellt, Ziel von Lehre ist es vielmehr zu vermitteln, wie an neuen Fällen weitergelernt werden kann. Es geht gerade darum, »nicht starr regelgeleitet zu handeln, sondern sich auf die Besonderheit der jeweiligen Situation einzulassen« (Neuweg 2020, 346). Dies ist für die Begleitung von Lernprozessen im Kontext der Psychomotorik und insbesondere im Rahmen der Lehrqualifikation der dakp von zentraler Bedeutung, da Erstmaligkeit und eine hohe Komplexität der einzelnen Situationen den Normalfall darstellen. Das übergeordnete Ziel kann mit Neuweg (2020, 347) als »praktische Kompetenz zum ganzheitlichen, kontextsensitiven Urteilen und Handeln« bezeichnet werden, sie ist eng verbunden mit der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Eine darauf zielende Didaktik ist am Können ausgerichtet und betont dementsprechend »die Bekanntschaft mit dem Tun, nicht seine Beschreibung« (Neuweg 2020, 347). Zugleich geht es jedoch immer auch um die Reflexion der Wirkungen eigenen Handelns jenseits des unmittelbaren Erfahrungshorizontes und damit auch um wissenschaftliches Denken sowie um rationales Argumentieren und Begründen (Neuweg 2020, 353). Im Rahmen der Lehrqualifikation werden die TeilnehmerInnen hierzu u. a. systematisch an die Herausforderung herangeführt, eigene Lehrsequenzen durchzuführen und zu reflektieren sowie einen psychomotorischen Fachtag unter Realbedingungen zu konzipieren, zu planen, durchzuführen und auszuwerten. Neuweg (2020, 32f ) unterscheidet insgesamt fünf Relationen zwischen Lernmodus und Lernergebnis. Die ersten vier sind für die Begleitung von Lern- und Wissensbildungsprozessen im Kontext der Psychomotorik von zentraler Relevanz; sie werden exemplarisch auf die Lehrqualifikation der dakp bezogen. (1) Implizite, d. h. das Lernen nicht thematisierende Prozesse führen zu implizitem Wissen, dessen Korrelat hochgradig verkörperte Wissensformen sind, die Bourdieu (1982) als Habitus fasst und von denen bekannt ist, dass sie für pädagogisches Handeln von wesentlicher Bedeutung sind (Kraus et al. 2017). »Mit dem Körper und den Sinnen verwoben spielt das inkorporierte erfahrungsbasierte Wissen im pädagogischen Handeln in Lernarrangements, Interaktionsstrukturen, Beziehungskonstellationen, Normalisierungen etc. eine zentrale Rolle« (Kraus et al. 2017, 12). Auch im Rahmen der Lehrqualifikation der dakp ist demnach davon auszugehen, dass sämtliche Lernenden und Lehrenden ihren Lehr-Lern-Prozess auf der Grundlage ihres biografisch erworbenen, inkorporierten Wissens erleben und gestalten. Mit Audehm (2017) kann davon ausgegangen werden, »dass der lebendige, agierende, fühlende Körper die Grundlage aller Bildungsprozesse ist« (Audehm 2017, 175). Bedeutsam ist nun, dass dieses implizite Wissen ohne explizite Reflexions- und Explikationsangebote letztlich unzugänglich bleibt. Daraus resultiert u. a. die Konsequenz, die Lehrqualifikation in dualer Leitung durchzuführen, was differenzierte Möglichkeiten der Einsozialisation in eine Expertenkultur sowie Prozesse des mimetischen Lernens (Wulf 2020, 15) inklusive dessen Explikation (u. a. anhand der Methode des Reflecting Team) eröffnet. (2) Als explizite Lernformen, die zu implizitem Wissen führen, werden hingegen diejenigen Prozesse aufgefasst, in denen ausgewiesener Maßen gelernt wird, deren Ziel aber dazu führt, dass nach absolviertem Lernen Wissen nicht mehr beständig bewusst aktualisiert wird (Neuweg 2020, 32). Beispiele hierfür sind Prozesse der Routinisierung komplexer Tätigkeiten, im Rahmen der Lehrqualifikation beispielsweise das didaktisch versierte Zeigen und Erläutern von Prozessen, Lernsituationen und Methoden. Eine wichtige Lernform stellt hierbei die Deliberate Practice dar, die nach Weinhardt (2018, 59) zwei wesentliche Elemente beinhaltet. Zum [ 174 ] 4 | 2020 Forum Psychomotorik einen eine ausgeprägte motivationale Grundorientierung bezüglich des eigenen Lern- und Bildungsweges und zum anderen die Verzahnung der drei Bildungsbestandteile Wissenserwerb, Erfahrung und Reflexion. Beide Elemente sind wichtige Bestandteile der Lehrqualifikation und dementsprechend werden durchgängig Möglichkeiten des Wissenserwerbs, des praktischen Übens und der Reflexion angeboten (Gestaltung von Ankommenssituationen; Planung, Durchführung und Auswertung von Lehrsequenzen; Methoden der Erschließung und Vermittlung psychomotorischen Wissens; Feedbackmethoden etc.). (3) Daneben gibt es Lernformen, in denen implizite Lernwege so bearbeitet werden, dass explizierbares Wissen entsteht. Diese sogenannten Ex-Post-Rationalisierungen sind einerseits aufgrund der Entstehung dieses Wissens oft zwingend unvollständig und verzerrt (Neuweg 2015b; 2020), andererseits aber die einzige Möglichkeit, bisher unreflektierte berufsbiographische Hintergründe von Fachkräften der Professionalisierung zugänglich zu machen. Im Kontext der Lehrqualifikation ist dies auf die eigene Person zielendes Reflexionswissen, konkret beispielsweise Wissen um die eigene Bewegungs-, Lern- und Lehrbiografie (Afflerbach et al. 2016, 130), aber auch über die Reflexion von Lehrsequenzen, Fällen und Entwicklungsaufgaben erzeugtes Wissen. (4) Darüber hinaus existieren Prozesse, die vom expliziten Lernen zum expliziten Wissen führen. Ein Beispiel hierfür ist Orientierungswissen aus dem curricular bestimmten Kanon der Psychomotorik, also u. a. Fachwissen zu Ansätzen und Anwendungsfeldern, zu Kernbegriffen, Prinzipien und Haltungen (Afflerbach et al. 2016, 129), aber auch methodisch-didaktisches und lerntheoretisches Wissen. Es wurde deutlich, dass implizites und explizites Wissen und Lernen auf vielfältige Art und Weise miteinander verwoben sind. Ein Erfahrungslernen in Expertenkulturen, das zu einer ganzheitlichen Bildung und zur Entwicklung von Könnerschaft beiträgt, ist dabei auf zweierlei angewiesen: Der bzw. die an Erfahrung Lernende muss sich selbst begleiten können und von Lehrenden professionell begleitet werden (Neuweg 2015a, 41). Diese Prozesse basieren in ihrem Kern auf gelingender Zwischenleiblichkeit und auf psychomotorischen Dialogen, sie sind »an das performative und kundige Agieren von Körpern gebunden. Der Körper (und nicht etwa das zweckdienlich-kluge Denken) ist der allererste Adressat von Pädagogik« (Kraus 2017, 834). Hier deutet sich abschließend das große Potenzial der Psychomotorik an: Sie stellt nicht nur differenziertes Orientierungswissen zur Verfügung, sondern kann durch ihre Körper-, Leib-, Bewegungs- und Dialogorientierung zugleich dazu beitragen, Lern- und Bildungsprozesse theoretisch konsistent zu begründen und professionell zu begleiten. Literatur Afflerbach, H., Bender, S., Haas, R., Nickel, F. (2016): Auf dem Weg zur psychomotorischen Lehre. Die Lehrqualifikation Psychomotorik der Deutschen Akademie für Psychomotorik. motorik 39 (3), 127- 135, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2016.art24d Audehm, K. (2017): Habitus. In: Kraus, A., Budde, J., Hietzge, M., Wulf, C. (Hrsg.): Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen. Beltz Juventa, Weinheim / Basel, 167-178 Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Breuer, I. (2019): Lernen als vorreflexiver Erfahrungsprozess: die ontologische Praxis der Sinnkonstitution von Leib und Welt. In: Brinkmann, M., Türstig, J., Weber-Spankneben, M. (Hrsg.): Leib- - Leiblichkeit- - Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Springer, Wiesbaden, 77-91, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978- 3-658-25517-6_5 Budde, J., Hietzge, M., Kraus, A., Wulf, C. (2017): »Schweigendes« Wissen in Lernen und Erziehung, Bildung und Sozialisation. In: Kraus, A., Budde, J., Hietzge, M., Wulf, C. (Hrsg.): Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen. Beltz Juventa, Weinheim / Basel, 11-15 Faulstich, P. (2014): Lernen: Erfahrung-- Wahrnehmen und Handeln. In: Faulstich, P. (Hrsg.): Lerndebatten. Phänomenologische, pragmatistische und kritische Lerntheorien in der Diskussion. transcript, Bielefeld, 35-59, https: / / doi.org/ 10.14361/ transcript. 9783839427897.35 Faulstich, P. (2013): Menschliches Lernen. Eine kritischpragmatistische Lerntheorie. transcript, Bielefeld, https: / / doi.org/ 10.14361/ transcript.9783839424 254 Göhlich, M. (2014): Aus Erfahrung lernen. In: Göhlich, M., Wulf, C., Zirfas, J. (Hrsg.): Pädagogische Theorien des Lernens. 2. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim / Basel, 191-202 [ 175 ] Jessel • Lern- und Bildungsprozesse im Kontext 4 | 2020 [ 175 ] Jessel • Lern- und Bildungsprozesse im Kontext 4 | 2020 Jahn, D., Kenner, A. (2019): Über die angebliche Vertreibung des kritischen Geistes aus einer bildungsvergessenen Hochschullehre und über das Anliegen einer kritischen Hochschullehre. In: Jahn, D., Kenner, A., Kergel, D., Heidkamp-Kergel, D. (Hrsg.): Kritische Hochschullehre. Impulse für eine innovative Lehr- und Lernkultur. Springer, Wiesbaden, 3-15, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-25740-8_1 Klepacki, L., Köstler-Kilian, S. (2019): Impulse für eine kritisch-reflexive Lehr-Lern-Kultur aus performativitätstheoretischer Perspektive. In: Jahn, D., Kenner, A., Kergel, D., Heidkamp-Kergel, D. (Hrsg.): Kritische Hochschullehre. Impulse für eine innovative Lehr- und Lernkultur. Springer, Wiesbaden, 205-222, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-25740-8_11 Kraus, A. (2017): Können lernen. In: Kraus, A., Budde, J., Hietzge, M., Wulf, C. (Hrsg.): Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen. Beltz Juventa, Weinheim / Basel, 826- 838 Kraus, A., Budde, J., Hietzge, M., Wulf, C. (Hrsg.) (2017): Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen. Beltz Juventa, Weinheim / Basel Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. de Gruyter, Berlin, https: / / doi. org/ 10.1515/ 9783110871470 Neuweg, G. H. (2020): Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis. 4. Aufl. Waxmann, Münster Neuweg, G. H. (2015a): Das Schweigen der Könner. In: Neuweg, G. H. (Hrsg.): Das Schweigen der Könner. Gesammelte Schriften zum impliziten Wissen. Waxmann, Münster / New York, 19-42 Neuweg, G. H. (2015b): Das Schweigen der Könner. Gesammelte Schriften zum impliziten Wissen. Waxmann, Münster / New York Neuweg, G. H. (2015c): Mehr lernen, als man sagen kann: Konzepte und didaktische Perspektiven impliziten Lernens. In: Neuweg, G. H. (Hrsg.): Das Schweigen der Könner. Gesammelte Schriften zum impliziten Wissen. Waxmann, Münster / New York, 153-173 Nida-Rümelin, J. (2013): Philosophie einer humanen Bildung. edition Körber-Stiftung, Hamburg Polanyi, M. (1985): Implizites Wissen. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Schön, D. A. (1983): The Reflective Practitioner. How Professionals think in Action. Basic Books, New York Weinhardt, M. (2018): Kompetenzorientiert systemisch beraten lernen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, https: / / doi.org/ 10.13109/ 9783666452901 Wulf, C. (2020): Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän. Beltz Juventa, Weinheim / Basel Der Autor Prof. Dr. phil. Holger Jessel Dipl.-Motologe, Professor für Psychomotorik in sozialpädagogischen Handlungsfeldern an der Hochschule Darmstadt Anschrift Prof. Dr. phil. Holger Jessel Hochschule Darmstadt Fachbereich Soziale Arbeit Adelungstr. 53 D-64287 Darmstadt holger.jessel@h-da.de