motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2020.art07d
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2020
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Praxistipp: Die Erlebnisstadt
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2020
Ulrich Pammer
Die Erlebnisstadt ist ein Spiel, welches basierend auf einer Ferienaktion der »Oberösterreich Kinderfreunde« entstanden ist. Es wurde vom Autor über mehrere Jahre mit unterschiedlichen Klassen ausprobiert und für den Schulkontext adaptiert. Auf den Wert des Spieles für psychomotorische Lehr- und Lernmethoden wird im Anschluss an die Spielbeschreibung eingegangen. [...]
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[ 37 ] Blessing • Bewegungsgetragene Traumaarbeit in-Kindergarten und Schule 1 | 2020 [ 37 ] Praxistipps 1 | 2020 Die Erlebnisstadt Selbstbestimmung als Motivationsfaktor Die Erlebnisstadt ist ein Spiel, welches basierend auf einer Ferienaktion der »Oberösterreich Kinderfreunde« entstanden ist. Es wurde vom Autor über mehrere Jahre mit unterschiedlichen Klassen ausprobiert und für den Schulkontext adaptiert. Auf den Wert des Spieles für psychomotorische Lehr- und Lernmethoden wird im Anschluss an die Spielbeschreibung eingegangen. Spielbeschreibung Im Turnsaal soll eine Erlebnisstadt mit unterschiedlichen Attraktionen entstehen. Alles, was in der Erlebnisstadt- - ähnlich einem Rummelplatz- - an Erlebnis- und Bewegungsstationen oder Dienstleistungen angeboten wird, soll von den SchülerInnen selbst ausgedacht sein. Die selbständige Umsetzung von eigenen Ideen bildet das Kernelement dieser Spielaktion. Nach einer ersten Befragung der Gruppe, welche Ideen für die Erlebnisstadt auftauchen, bilden die SchülerInnen Arbeitsgruppen zu jeweils drei bis fünf Personen. Die Gruppen beginnen nun konkret zu überlegen, mit welchem Angebot sie Spielgeld verdienen könnten. Diese Planungsphase kann schon Tage vor dem eigentlichen Spiel eingeleitet werden. Die PädagogInnen sollten in dieser Phase abwarten, welche Einfälle von den Kindern kommen. Nur falls einmal tatsächlich zu wenige Ideen auftauchen sollten, kann mit Beispielen nachgeholfen werden. Hier seien einige aus der Praxis aufgelistet: Massagesalon, Fitnessstudio, Dosenwurf, Beautysalon, Haarstudio, Geschicklichkeitsparcours, Basketballwurf, Fußballverein, Kleingeräteverleih, Bibliothek, Spielothek, Tattoo- Studio, Geisterbahn, Taxistand mit Rollbrett, Waschstraße, Quizshow, Wahrnehmungsparcours mit Augenbinden, Kletterparcours auf der Sprossenwand, StraßenkünstlerIn. Bevor die Kleingruppen aufbauen, holen sie sich bei der Spielleitung einen »Gewerbeschein«. Bei dieser Gelegenheit kann dieser, falls notwendig, Fragen zur Sicherheit sowie Fragen zur Platzwahl besprechen. Die Kinder basteln nun Firmenschilder, auf denen Angebot und Preis ersichtlich sind. Sie bekommen jeweils ein Startkapital von zehn Bohnen. Materialien, welche für die Stationen gebraucht werden, dürfen-- wenn nötig-- von zu Hause mitgebracht werden. Ansonsten müssen z.B. Langbänke, Bälle und Matten gekauft werden. Dazu empfiehlt es sich als Spielleitung, eine kleine Preisliste anzulegen. Nachdem aufgebaut ist, beginnt das Spiel automatisch. Die Kleingruppen betreiben ihre Station, gleichzeitig gehen sie aber auch herum und geben Spielgeld bei anderen Stationen aus. Dafür teilen sie sich auf oder schließen das eigene Geschäft vorübergehend. In Nachbesprechungen können abstrakte Begriffe, wie Dienstleistung, Gewerbe, Geschäftsidee, Wirtschaftlichkeit, Einnahmen, Ausgaben usw., mit konkret gemachten Spielerfahrungen in Zusammenhang gebracht werden und gewinnen somit an Bedeutung. Zum Sinn offener Spielstrukturen Auf Grund des hohen Grades der Selbstbestimmung (ohne Druck von Vorgaben) liegt in diesem Setting ein großes Entspannungspotential für das Gruppengefüge. Es stellt sich erfahrungsgemäß ein konstruktives Miteinander ein, in welchem viele Themen der Psychomotorik umgesetzt werden. Im Folgenden soll auf einige eingegangen werden. Motivation Beruhend auf Selbstbestimmung, Kompetenzgefühl und dem Gefühl sozialer Eingebundenheit (Deci / Ryan 2008) bringt bei der Erlebnisstadt jedes Kind automatisch das ein, was es kann und / oder gerne tut. Die Quelle der Motivation liegt dabei in den Kindern selbst (intrinsische Motivation). Sie werden extrinsisch nur insofern motiviert, als Rahmenbedingungen mit hohem Aufforderungscharakter geschaffen werden. Im Zentrum der Entstehung von Gesundheit (Salutogenese) steht das Kohärenzgefühl (Antonovsky 1997). Um dieses zu entwickeln, braucht es Rahmenbedingungen, in denen das Kind selbst (und nicht eine zu erlernende Fertigkeit) im Mittelpunkt seiner Lernschritte steht. Dem Ausprobieren eigener Strategien und der Selbsteinschätzung wird bei offenen Spielsettings ein hoher Wert beigemessen. Auf diese Weise erlebt sich das Kind als »bedeutsam« und seine Handlungen als sinnvoll. Insofern entsteht auf Grund einer positiven emotionalen Basis ein ide- [ 38 ] 1 | 2020 Praxistipps aler Boden für die Förderung und Entwicklung psychischer Funktionen, wie vor allem der Aufmerksamkeitsfokussierung, der räumlich-zeitlichen Wahrnehmungsfähigkeiten und Kompetenzen im sozial-emotionalen Handeln (Garnitschnig 1997; Voglsinger 2006; siehe auch Beitrag Weiß et al. in diesem Heft). Der Psychiater und Kognitionsforscher Luc Ciompi (1997) hat die emotionalen Grundlagen des Denkens untersucht. Er zeigt, dass sich das menschliche Denken ständig in komplexen Wechselwirkungen zwischen Emotionen und Erkenntnissen organisiert und dass in lustvoller, entspannter Atmosphäre, frei von Druck und Leistungsstress, kreative Ideen und Handlungskompetenzen sehr gut entwickelt werden können. Selbstbestimmtes Lernen Ein übergeordnetes, sehr offenes Ziel ist bei der Erlebnisstadt zwar vorgegeben, die Wege zu dessen Verwirklichung sind allerdings genauso vielfältig, wie die Kinder selbst. Dieser Umstand lädt zu Kreativität und Selbstverantwortung ein. Von selbstbestimmtem Lernen kann man hier insofern sprechen, weil Handlungspläne und deren Umsetzung von den Kleingruppen tatsächlich autonom gehandhabt werden. Motivierte Kinder sind imstande, ihre Arbeit selbst zu organisieren. Hier seien einige Arbeitsschritte aufgezählt: erste Ideenfindung, Planungs- und Entscheidungsprozesse im Team, Organisation und verantwortungsvolle Handhabung von Materialien (Handlungskompetenz), Gestaltungsarbeit, Umsetzung von Handlungsplänen, Risikomanagement, Umgang mit Kapital, Ausprobieren unterschiedlicher Erlebnisangebote. Mit jedem Erfolg steigt die »Selbstwirksamkeitserwartung« (Bandura 1977). Gruppendynamische Prozesse Dies alles geschieht in Kleingruppen. Es finden ständig gruppendynamische Prozesse statt, an denen die Kinder wachsen können. Nach einer idealtypischen Gründungsphase (»Forming«), in welcher Ziele abgeklärt werden, folgt eine Aushandlungsphase (»Storming«), wo möglicherweise unterschiedliche Perspektiven im Team aufeinanderstoßen, welche dann in eine Einigungs- (»Norming«) und Leistungsphase (»Performing«) mündet (Stahl 2012, 67). Bei Problemen kehrt die Gruppe in die Gründungsphase zurück und die Schleife startet von Neuem. Ein solcher Prozess wird, wenn auch unbewusst, von den Kindern mehrfach durchlaufen. Oft ist ein Zusammenwachsen der Kleingruppen sowie der Großgruppe nicht nur spürbar, sondern kann konkret beobachtet werden. Nach anfänglichen Meinungsverschiedenheiten, die manchmal von distanzierten Körperhaltungen und Diskussionen begleitet werden, wird die Gruppe ruhiger, kommt sich näher und arbeitet zunehmend konstruktiv zusammen. Entspannung des Gruppenklimas Größere Spannungen treten auf Grund der kindzentrierten Methodik erfahrungsgemäß kaum auf. Sollte es doch einmal Schwierigkeiten geben, sind anwesende PädagogInnen auf Grund der hohen Selbsttätigkeit (Montessori 1913) der Gruppe freigespielt, sich eben dort einzusetzen, wo dies notwendig ist. Das Spielsetting ist auch für sogenannte »schwierige Klassen« geeignet. Der Spielverlauf bietet einen Rahmen, in dem sich »auffällige« Kinder auf Grund der Spieldynamik selbst als bedeutsam, selbstverantwortlich und kompetent erleben und auch von außen (z.B. von Lehrkräften, Spielleitung) so wahrgenommen werden. Somit leisten »offene« Spiele, wie dieses, einen wichtigen sozial-emotionalen Beitrag, um der Verfestigung von Auffälligkeiten sowie der damit oft einhergehenden Frustrationen (auf beiden Seiten) entgegenzuwirken. Anstatt auf Schwächen oder Auffälligkeiten zu fokussieren, können die kindlichen Kompetenzen von anderen wahrgenommen und von der Erwachsenenseite als wirksame Ressourcen artikuliert werden. Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. dgvt-Verlag, Tübingen Bandura, A. (1977): Self-Efficacy: Toward a Unifying Theory of Behavioral Change. Psychological Review 84 (2), 191-215, https: / / doi.org/ 10.1037/ 0033-295X. 84.2.191 Ciompi, L. (1997): Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Deci, E., Ryan, R. (2008): Self-Determination Theory: A Macrotheory of Human Motivation, Development, and Health. Canadian Psychology 49 (3), 182-185, https: / / doi.org/ 10.1037/ a0012801 Garnitschnig, K. (1997): Eine Theorie, innovative Ideen praktisch werden zu lassen. Orientierungen und Kriterien guter Schulen. Erziehung und Unterricht 147, 4-22 Montessori, M. (1913): Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter.- Nach den Grundsätzen der wissenschaftlichen Pädagogik methodisch dargelegt. Hoffmann, Stuttgart Stahl, E. (2012): Dynamik in Gruppen. Handbuch der Gruppenleitung. Beltz, Weinheim / Basel Voglsinger, J. (2006): Bewegte Klasse- - Eine Initiative zur Anregung gesundheitsfördernder Maßnahmen an niederösterreichischen Grundschulen. In: Fischer, K., Knab, E., Behrens, M. (Hrsg.): Bewegung in Bildung und Gesundheit. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo DOI 10.2378 / mot2020.art07d Kontakt Ulrich Pammer info@ulrichpammer.at
