motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2020.art11d
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Forum Psychomotorik: Kinder in Bewegung zwischen Doing und Undoing Gender
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Ina-Marie Abeck
Der Beitrag befragt geschlechterbewusste Ansätze aus der (Früh-)Pädagogik auf deren Bedeutung für die Bewegungspraxis der Psychomotorik. Nach einer theoretischen Einführung in die Thematik stehen die Rolle der psychomotorischen Fachkraft, deren Dialog mit den Kindern sowie psychomotorische Erfahrungsräume der Kinder im Fokus. Es wird für die Integration einer geschlechterbewussten Haltung in psychomotorische Prinzipien plädiert. Das Ziel der geschlechterbewussten Haltung ist es, eine (Selbst-)Bildung in Bewegung zu ermöglichen, in der Einschränkungen der Persönlichkeitsentwicklung aufgrund des Geschlechts abgebaut werden oder sich ganz auflösen.
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Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag befragt geschlechterbewusste Ansätze aus der (Früh-) Pädagogik auf deren Bedeutung für die Bewegungspraxis der Psychomotorik. Nach einer theoretischen Einführung in die Thematik stehen die Rolle der psychomotorischen Fachkraft, deren Dialog mit den Kindern sowie psychomotorische Erfahrungsräume der Kinder im Fokus. Es wird für die Integration einer geschlechterbewussten Haltung in psychomotorische Prinzipien plädiert. Das Ziel der geschlechterbewussten Haltung ist es, eine (Selbst-)Bildung in Bewegung zu ermöglichen, in der Einschränkungen der Persönlichkeitsentwicklung aufgrund des Geschlechts abgebaut werden oder sich ganz auflösen. Schlüsselbegriffe: Geschlecht, Gender, geschlechterbewusste Haltung, psychomotorische Praxis, Persönlichkeitsentwicklung Children in movement between gender and undoing gender. Observations about gender awareness in psychomotor practice This article examines the gender-specific aspects of psychomotor practice. Following a theoretical introduction to the topic, focus is placed on the role of the psychomotor specialist, their dialogue with children, and children’s psychomotor experiences. There is a call for integration of gender awareness in psychomotor principles. The aim of gender awareness in this context is to enable (self-)education through motion in a way that reduces or even completely removes the genderspecific limitations placed on personal development. Key words: sex, gender, gender awareness, psychomotor practice, personal development [ 60 ] [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] 2 | 2020 motorik, 43. Jg., 60-65, DOI 10.2378 / mot2020.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Kinder in Bewegung zwischen Doing-und Undoing Gender Überlegungen zu einer geschlechterbewussten Haltung in der psychomotorischen Praxis Ina-Marie Abeck »Wenn ausschließlich die Mädchen an der Bewegungsstunde teilnehmen, spielen sie viel wilder und benutzen auch die Sprossenwände. Wenn die Jungen dabei sind, turnen sie hauptsächlich auf den Geräten.« Diese Beobachtung einer pädagogischen Fachkraft zeigt, dass Bewegung nicht zwingend in einem geschlechtsneutralen Raum stattfindet, sondern Geschlecht auch Auswirkungen auf das Bewegungsverhalten haben kann. Die Notwendigkeit einer geschlechterbewussten Pädagogik in der frühen Kindheit wird immer wieder betont (BMFSFJ 2015; Focks 2011; Rohrmann 2012) und es liegt nahe, dass die Fachkräfte der Psychomotorik, die sich der Persönlichkeitsförderung von Kindern durch Bewegung widmet, ebenfalls in diesem Bereich Kompetenzen mitbringen sollten. Eine geschlechterbewusste Haltung will geschlechterbezogene Zusammenhänge und Unterschiede im Alltag gezielt wahrnehmen. Dadurch unterstützt sie die Kinder, sich mit Geschlechtstypisierungen auseinanderzusetzen und bestehende Grenzen aufzuweichen und auf diese Weise Einschränkungen auf Grund des Geschlechts entgegenzuwirken, ohne die unterschiedlichen (Spiel-)Bedürfnisse und die Entwicklung der Geschlechtsidentität zu vernachlässigen (Focks 2011; Rohrmann 2012). Der folgende Beitrag stellt die wichtigsten Parallelen zwischen der Psychomotorik und geschlechterbewussten Ansätzen der (Früh-)Pädagogik her und nimmt die Rolle der Bewegung bei der Konstruktion von Geschlecht unter die Lupe. Dabei wird zunächst der theoretische Hin- [ 61 ] Abeck • Kinder in Bewegung zwischen Doing-und Undoing Gender 2 | 2020 tergrund beleuchtet und auf relevante Begrifflichkeiten eingegangen. Im Anschluss werden verschiedene Aspekte psychomotorischer Förderung beleuchtet, in denen Geschlecht einen Einfluss haben kann. Abschließend werden die Überlegungen zu einer geschlechterbewussten Haltung in der psychomotorischen Praxis und die damit einhergehenden Kompetenzen zusammengefasst. Theoretischer Hintergrund Bei der Frage danach, wie eine geschlechterbewusste Haltung in der Psychomotorik aussehen kann, ist eine Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden theoretischen Annahmen hilfreich: Während Geschlecht im Deutschen sowohl das biologische und das soziale Geschlecht bezeichnet, wird in der englischen Sprache zwischen dem biologischen (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender) unterschieden. Während wir mit ersterem geboren werden, wird gender maßgeblich durch die soziale und kulturelle Umwelt hergestellt und entwickelt. Insbesondere gängige Geschlechtsstereotypen beeinflussen dabei unser Bild von Mädchen und Jungen und unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung (Focks 2011, 74 f ). Mit dem Begriff gender wird in der deutschen Sprache gezielt über das kulturell-gesellschaftlich konstruierte Geschlecht gesprochen. Dabei geht es nicht nur um Zweigeschlechtlichkeit-- auch Kinder setzen sich bereits mit Fragen von Transsexualität oder Intersexualität auseinander. Dies setzt auch in diesem Bereich ein Fachwissen der Fachkräfte und eine sensible Haltung voraus (Nordt / Kugler 2018; Hechtl 2019). Letztendlich sind sowohl sex als auch gender Teile der eigenen Identität (Wollasch 2018). Da Geschlecht eine omnipräsente Kategorie ist, spielt es gerade im Identitätsprozess für Kinder eine große Rolle und bietet ihnen Anhaltspunkte, um hieraus Verhalten, Konzepte und Präferenzen für die eigene (Geschlechts-)Identität abzuleiten (Trautner 2008). Der Spagat zwischen Geschlechts- und Identitätsentwicklung und Abbau von Geschlechtsstereotypen ist die Herausforderung einer geschlechterbewussten Erziehung und Bildung. Deren Ziel wiederum ist eine Chancengleichheit der Geschlechter (Kubandt 2017; Rohrmann 2012). Entwicklungspsychologische Studien zeigen, dass Kinder bereits im Laufe des ersten Lebensjahres zwischen männlichen und weiblichen Merkmalen, z. B. anhand von Gesichtern und Stimmen, unterscheiden können (Ruble / Martin 1998, 944; Trautner 2008, 633). Ab einem Alter von etwa 2,5 bis 3 Jahren verstehen sie, dass sie entweder ein Mädchen oder ein Junge sind und können zwischen männlich und weiblich (verbal) unterscheiden (Trautner 2008). Da insbesondere das Geschlecht für Kinder eine der wichtigsten Quellen zur Identitätsentwicklung ist, entstehen gerade zwischen dem 3. und 7. Lebensjahr starke Geschlechtstypisierungen, die sich an der Umwelt der Kinder orientieren und unter anderem auf Spielsachen, Aussehen, Aktivitäten, Emotionen und Verhalten beziehen. Abweichungen werden zunächst nur als Ausnahme von der Regel wahrgenommen. Im Laufe der Grundschulzeit können Kinder stärker differenzieren und ziehen vielfältigere Informationsquellen in den Prozess mit ein, so dass die Geschlechtertypisierungen aufgeweicht werden Geschlechtstypisierungen und Geschlechtsspezifizierungen Geschlechtstypisierungen sind Eigenschaften, Verhaltensweisen und Sachverhalte,-die hauptsächlich einem Geschlecht gesellschaftlich zugeordnet werden (Geschlechtsstereotypen) oder empirisch belegt öfter bei dem Geschlecht auftreten (Rohrmann 2012; Trautner 2008). Im Unterschied dazu kommen Geschlechtsspezifizierungen ausschließlich bei einem Geschlecht vor. Gerade im Kindergartenalter neigen Kinder dazu, Eigenschaften nur einem Geschlecht zuzuordnen. Das macht es ihnen auf der einen Seite leichter, zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden und sich mit einem Geschlecht zu identifizieren (Trautner 2008), auf der anderen Seite birgt es unreflektiert auch die Gefahr, dass sich Geschlechterstereotypen manifestieren. [ 62 ] 2 | 2020 Forum Psychomotorik können, aber nicht müssen (Ruble / Martin 1998; Trautner 2008). So zeigen Kinder bereits in der (frühen) Kindheit auch in Bezug auf ihr Bewegungsverhalten geschlechtstypische Präferenzen, obwohl die motorische Entwicklung bei Jungen und Mädchen weitestgehend gleich verläuft (Graf / Ferrari 2019; Hunger 2009; Voss / Gramespacher 2019). Gerade im (früh-)kindlichen Bereich ist es daher sinnvoll, auch in Bewegungsangeboten eine genderbewusste Brille aufzusetzen. Dass Geschlecht, Identität, Körper und Bewegung zusammenhängen, ist dabei kein neuer Aspekt in der Psychomotorik (Fischer 2019; Zimmer 2012). In Prozessen des doing gender wird dem Kind ein geschlechterangemessenes (Bewegungs-)Verhalten vermittelt. Akteur*innen in dem Konstruktionsprozess von Geschlecht können z. B. die pädagogischen Fachkräfte, die Eltern oder die Erziehungsberichtigen, aber auch die anderen Kinder sein, indem sie Geschlechterzuschreibungen vornehmen oder Geschlecht in Spiel und Bewegung darstellen. In Prozessen des undoing gender (Hirschauer 2013) hingegen, tritt Geschlecht in den Hintergrund und beeinflusst die Bewegungssituation nicht maßgeblich. Psychomotorische Erfahrungsräume sind demnach keine geschlechtsneutralen Räume. Darstellungen und Zuschreibungen von Geschlecht, z. B. über klassische Geschlechterstereotypen und eine unterschiedliche Behandlung von Mädchen und Jungen, müssen erkannt und gegebenenfalls verändert werden können (Rohrmann 2013, 96 f ). Dies erfordert von Psychomotoriker*innen eine Genderkompetenz im Sinne einer Reflexionskompetenz (Budde 2011), durch welche diese Prozesse bewusst wahrgenommen werden. Voraussetzung dafür ist das formulierte Ziel der Geschlechtergerechtigkeit sowie das Wissen über die Entwicklung von Identität und Geschlecht und der Identifizierung der Herstellungsmechanismen von Geschlecht. Aufbauend auf der Reflexion der psychomotorischen Praxis, ermöglichen dann methodische und didaktische Kenntnisse, Geschlechtsvorurteile abzubauen und neue Erfahrungsräume zu schaffen. Genderbewusste Praxis- und Selbstkompetenz Der Anfang liegt bei der psychomotorischen Fachkraft Zentral für die psychomotorische Fachkraft sind die Reflexion der eigenen Geschlechtsbiografie und geschlechterbezogener Darstellungen und Zuschreibungen-- auch in der psychomotorischen Praxis, da der biografische Hintergrund unser Verhalten und unsere Haltung in und gegenüber Bewegung beeinflusst (Böcker-Giannini 2017; Schierz 2019). Zum anderen gehört zur Ausbildung einer geschlechterbewussten Haltung die kritische Reflexion einer heteronormativen Geschlechtsordnung (Rohrmann 2012, 12). Dadurch kann die psychomotorische Stunde zum Ort des Modelllernens auch für geschlechter (-un-)typisches Verhalten werden (Focks 2011). Gerade in der Psychomotorik, mit ihren unterschiedlichen Handlungsmethoden in Form des Beobachtens, des Begleitens, des Mitspielens oder des Spiegelns, kann die Fachkraft die Kinder unterstützen, sich vielfältig zu erleben-- unabhängig von ihrem und dem Geschlecht der Kinder (Gieß-Stüber et al. 2003). Vielfältige Materialien-- Tücher, Rollbretter und Seile aus Genderperspektive Ein weiterer Punkt einer geschlechterbewussten Pädagogik ist nach Rohrmann (2013) die Auswahl des Materials. Danach ist es wichtig zu beachten, dass sowohl Kleinals auch Großmaterial zur Verfügung stehen und beide Geschlechter dazu Zugang haben. Angeleitete Spielsituationen können dabei die Entdramatisierung geschlechtertypischen Materials unterstützen. Materialien und Spielgeräte wie Rollbretter oder Seile, die weder von den Kindern noch den Erwachsenen einem Geschlecht vorrangig zugeordnet werden, können auch zur Entdramatisierung der Geschlechter führen. Das heißt, die Kinder benutzen die Geräte unabhängig vom jeweiligen Geschlecht. Dies wird gefördert, wenn die Kinder zudem frei wählen können, ob sie in heterogenen oder homogenen Gruppen bzw. allein oder zusammen spielen (Voss 2011). Praxiseinblick: Das Tuch im Ringen, Rangeln und Raufen In einem psychomotorischen AG-Angebot zum Thema Ringen, Rangeln und Raufen in einer Grundschule schlug meine Kollegin vor, die Bewegungsstunde mit Tüchern und Übungen zur Körperwahrnehmung zu beginnen. Die Gruppe bestand zum größten Teil aus Jungen. Wir waren sehr gespannt darauf, ob die Jungen gegenüber diesem eher »typisch weiblichen« Angebot Vorbehalte zeigen würden. Das Ergebnis war mehr als überraschend. Die Kinder experimentierten nach zwei angeleiteten Spielen noch weiter selbstständig mit den Tüchern. Ein Junge zeigte den anderen stolz, wie man ein Tuch langsam als Blume in der Hand aufgehen lassen konnte. Das Beispiel verdeutlicht aus meiner Perspektive anschaulich, wie wichtig es ist, sich selbst von Geschlechterstereotypen zu lösen und vielfältige Erfahrungsräume zuzulassen. [ 63 ] Abeck • Kinder in Bewegung zwischen Doing-und Undoing Gender 2 | 2020 [ 63 ] Abeck • Kinder in Bewegung zwischen Doing-und Undoing Gender 2 | 2020 Vielfältige Erfahrungsräume---von geschlechtergetrennten Bewegungsräumen bis zu Bewegungsräumen des undoing gender Geschlechtergetrennte Angebote heben oft die vermeintliche Dualität auf und die Kinder erleben deutlicher, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern teilweise größer sind als zwischen Mädchen und Jungen (Budde 2011). So treten Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern deutlicher hervor und es hilft den Fachkräften, eigene Vorurteile in Hinblickauf geschlechtertypisches Verhalten einzelner Kinder abzubauen. Die meisten Bewegungsangebote, sowohl in Kindertageseinrichtungen, in der Grundschule als auch in Freizeitangeboten, sind in der Regel allerdings koedukativ gestaltet. Bewegung als emotional-körperliche Erfahrung trägt dabei grundsätzlich zur Identitätsentwicklung bei (Fischer 2019, 136). Welches Geschlecht zu meiner Identität gehört, schwingt dabei auch in der Bewegung mit und sollte in der Psychomotorik thematisiert werden. In der gemeinsamen Bewegung erfahren sich die Kinder als Teil einer heterogenen Gruppe, in der sie mit Kindern mit unterschiedlichen Geschlechtern, Fähigkeiten und Eigenschaften spielen. Durch Spielimpulse kann die psychomotorische Fachkraft die Kinder dabei zu neuen Erfahrungsmöglichkeiten einladen, z. B. zum gemeinsamen Spiel von Jungen und Mädchen oder zu wilden Spielen für eher zurückhaltende Kinder. Die Kinder können nach dem psychomotorischen Prinzip der Freiwilligkeit diese Impulse annehmen oder nicht. Dabei bietet sich einerseits die Möglichkeit zur Selbstreflexion, inwieweit die pädagogische Fachkraft durch die Spielimpulse geschlechtstypische Spiele anbietet, vermeidet oder von Seiten der Kinder zulässt. Anderseits sollte auch in die Reflexion die Frage einbezogen werden, ob hinter Kindern, die eher geschlechtstypische Angebote wählen, vorrangig andere geschlechtsunabhängige Bedürfnisse stehen wie z. B. das Bedürfnis nach Erholung und Ruhe in entspannenden Spielen (Kuhr / Keßler 2016). Es ergeben sich in Bewegungsspielen zudem immer wieder Situationen, in denen die Kategorie Geschlecht in den Hintergrund rückt (Hirschauer 2013). Wenn z. B. zwei gleich starke Teams für den Staffellauf gebildet werden müssen, steht die Gruppenbildung auf Grund der Kräfte der Kinder im Vordergrund und nicht das Geschlecht. Auch im freien Bewegungsspiel kann es zu einem undoing gender kommen, also z. B. zu sozialen Interaktionen, in denen genderspezifisches Verhalten in den Hintergrund tritt und nicht relevant ist (Voss 2011). Rollenspiele-- Teile von Geschlechter (-de-)konstruktionen Rollenspiele sind oft Teil psychomotorischer Förderung. Kinder nutzen den Bewegungsraum, um jemand anderes sein zu können und schlüpfen in unterschiedliche Rollen mit verschiedenen Fähigkeiten. Rollenspiele bieten daher auch eine Möglichkeit, mit Kindern gender zu thematisieren. Dabei kann unter anderem gefragt werden, mit welchen Rollen die Kinder sich identifizieren bzw. sie ausprobieren, wo sie vielleicht andere ausgrenzen oder bewusst einbeziehen (Hunger Genderbewusste Praxis- und Selbstkompetenz Der Anfang liegt bei der psychomotorischen Fachkraft Zentral für die psychomotorische Fachkraft sind die Reflexion der eigenen Geschlechtsbiografie und geschlechterbezogener Darstellungen und Zuschreibungen-- auch in der psychomotorischen Praxis, da der biografische Hintergrund unser Verhalten und unsere Haltung in und gegenüber Bewegung beeinflusst (Böcker-Giannini 2017; Schierz 2019). Zum anderen gehört zur Ausbildung einer geschlechterbewussten Haltung die kritische Reflexion einer heteronormativen Geschlechtsordnung (Rohrmann 2012, 12). Dadurch kann die psychomotorische Stunde zum Ort des Modelllernens auch für geschlechter (-un-)typisches Verhalten werden (Focks 2011). Gerade in der Psychomotorik, mit ihren unterschiedlichen Handlungsmethoden in Form des Beobachtens, des Begleitens, des Mitspielens oder des Spiegelns, kann die Fachkraft die Kinder unterstützen, sich vielfältig zu erleben-- unabhängig von ihrem und dem Geschlecht der Kinder (Gieß-Stüber et al. 2003). Vielfältige Materialien-- Tücher, Rollbretter und Seile aus Genderperspektive Ein weiterer Punkt einer geschlechterbewussten Pädagogik ist nach Rohrmann (2013) die Auswahl des Materials. Danach ist es wichtig zu beachten, dass sowohl Kleinals auch Großmaterial zur Verfügung stehen und beide Geschlechter dazu Zugang haben. Angeleitete Spielsituationen können dabei die Entdramatisierung geschlechtertypischen Materials unterstützen. Materialien und Spielgeräte wie Rollbretter oder Seile, die weder von den Kindern noch den Erwachsenen einem Geschlecht vorrangig zugeordnet werden, können auch zur Entdramatisierung der Geschlechter führen. Das heißt, die Kinder benutzen die Geräte unabhängig vom jeweiligen Geschlecht. Dies wird gefördert, wenn die Kinder zudem frei wählen können, ob sie in heterogenen oder homogenen Gruppen bzw. allein oder zusammen spielen (Voss 2011). Praxiseinblick: Das Tuch im Ringen, Rangeln und Raufen In einem psychomotorischen AG-Angebot zum Thema Ringen, Rangeln und Raufen in einer Grundschule schlug meine Kollegin vor, die Bewegungsstunde mit Tüchern und Übungen zur Körperwahrnehmung zu beginnen. Die Gruppe bestand zum größten Teil aus Jungen. Wir waren sehr gespannt darauf, ob die Jungen gegenüber diesem eher »typisch weiblichen« Angebot Vorbehalte zeigen würden. Das Ergebnis war mehr als überraschend. Die Kinder experimentierten nach zwei angeleiteten Spielen noch weiter selbstständig mit den Tüchern. Ein Junge zeigte den anderen stolz, wie man ein Tuch langsam als Blume in der Hand aufgehen lassen konnte. Das Beispiel verdeutlicht aus meiner Perspektive anschaulich, wie wichtig es ist, sich selbst von Geschlechterstereotypen zu lösen und vielfältige Erfahrungsräume zuzulassen. [ 64 ] 2 | 2020 Forum Psychomotorik 2007). Es ist hier wichtig, im Austausch nicht in der Zweigeschlechtlichkeit zu verharren oder diese noch zu verstärken, indem z. B. hervorgehoben wird, dass Mädchen-- als kontrastierende Gruppe zu Jungen-- auch das Recht haben, Feuerwehrfrauen oder Monster sein zu können. Der Blick im Austausch sollte stattdessen auf individuelle Erfahrungen und Bedürfnisse der einzelnen Kinder gerichtet werden. Eine geschlechterbewusste Haltung in der Psychomotorik Der Einblick in die psychomotorische Praxis zeigt, dass auch Bewegung nicht geschlechtsneutral ist und sowohl Kinder als auch Fachkräfte an den Herstellungsprozessen von Geschlecht beteiligt sind. Eine geschlechterbewusste Haltung bedeutet zunächst einmal, dass gender als Kategorie bewusst wahrgenommen wird und beruht in Anlehnung an Budde (2011), Focks (2011) und Sobiech (2010, 564) auf folgenden Aspekten: ■ Wissen der Psychomotoriker*innen über Geschlechtsidentität und Prozesse der Geschlechter(-de-)konstruktionen über und in Bewegung, ■ Berücksichtigung geschlechterrelevanter Aspekte bei der Gestaltung psychomotorischer Stunden und mit Blick auf Spiele, Gruppenkonstellationen und Materialien, ■ Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechter- und Bewegungsbiografie, um die eigenen Vorstellungen von Geschlecht bewusst wahrzunehmen und zu hinterfragen und so ein geschlechter(-un-)typisches Modelllernen in Bewegung zu ermöglichen, ■ Reflexion der Bewegungspraxis vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und kultureller Rahmungen, um die Konstruktionsmechanismen von Geschlecht in Bewegung und Spiel zu erkennen und sensibel mit den Kindern in einen Dialog zu treten. Dabei geht es, wie unter anderem Focks (2011), Rohrmann (2013), Kuhr und Keßler (2016) verdeutlichen, in der Praxis nicht nur darum, Kindern auf der Grundlage einer geschlechterbewussten Haltung Erfahrungsräume zu ermöglichen, in denen Geschlecht eine untergeordnete Rolle spielt, sondern gleichzeitig sensibel für ihre Bedürfnisse zu sein und Möglichkeiten zur Entwicklung einer (Geschlechts-)Identität zu geben. Hier zeigt sich eine Schnittstelle der psychomotorischen Orientierung an der Individualität des Kindes mit einem wichtigen Aspekt einer geschlechterbewussten Pädagogik insofern, dass das individuelle Kind mit seinen Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit im Vordergrund steht und das von ihm gezeigte Verhalten immer im sozialen Kontext gesehen wird (Dräger 2008, 94). Anerkennung und Wertschätzung (Czollek et al. 2009; Nordt/ Kugler 2018) des Kindes bilden auch hier die Ausgangslage für eine entwicklungsoffene, geschlechterbewusste und geschlechtergerechte Begleitung. Resümee Der Beitrag hat die psychomotorische Praxis auf geschlechtsrelevante Aspekte untersucht und gezeigt, dass das kulturell-gesellschaftliche Geschlecht in Bewegung auf vielfältige Weise konstruiert und dekonstruiert werden kann. Um diese Prozesse bewusst wahrzunehmen und zu beeinflussen, wurde anschließend eine geschlechterbewusste Haltung konkretisiert, die auf dem Wissen um (De-)Konstruktionsprozesse von Geschlecht über Bewegung, der Reflexion der eigenen Bewegungsbiografie ebenso wie der Anerkennung und Wertschätzung von individuellen Identitäts- und Geschlechtsentwürfen beruht. Eine geschlechterbewusste Haltung eröffnet die Möglichkeit einer Reflexion der Bewegungspraxis mit dem Ziel, dass psychomotorische Fachkräfte für und insbesondere mit den Kindern vielfältige psychomotorische Erfahrungsräume zur Entwicklung und freien Gestaltung schaffen können, in denen Einschränkungen der Entfaltung aufgrund des Geschlechts abgebaut werden oder sich ganz auflösen. Auf diese Weise ergänzt eine geschlechterbewusste Haltung psychomotorische Prinzipien und trägt ihren Teil zur Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbildung in Bewegung bei. [ 65 ] Abeck • Kinder in Bewegung zwischen Doing-und Undoing Gender 2 | 2020 [ 65 ] Abeck • Kinder in Bewegung zwischen Doing-und Undoing Gender 2 | 2020 Literatur BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendliche) (2015): Männliche Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Publikationsversand der Bundesregierung, Berlin Böcker-Giannini, N. (2017): Bewegungserfahrungen und Doing Gender / Undoing Gender. Inauguraldissertation. Universität zu Köln. In: https: / / kups.ub. unikoeln.de/ 7731/ 1/ dissertation_nicola_boecker_ giannini_publikation.pdf, 26.06.2019 Budde, J. (2011): Geschlechtergerechtigkeit im Bildungssystem- - Problemlagen und Lösungsstrategien. In: Voss, A. (Hrsg.): Geschlecht im Bildungsgang. Orte formellen und informellen Lernens von Geschlecht im Sport. 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In: https: / / www.kitafachtexte.de/ fileadmin/ Redaktion/ Publikationen/ KiTaFT_Kubandt_2017_Geschlechtergerechtigkeit. pdf, 26.06.2019 Kuhr, M., Keßler, P. (2016): Geschlechtsbewusst Bewegungsangebote im Dialog entwickeln und begleiten. Praxis der Psychomotorik 41 (3), 130-135 Nordt, S., Kugler, T. (2018): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik. In: Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg, Bildungsinitiative Queerformat (Hrsg.): Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik. 2. Aufl. Berlin, 16-25 Rohrmann, T. (2013): Geschlechtsbewusste Pädagogik- - eine Gratwanderung. In: Wagner, P. (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Herder, Freiburg im Breisgau, 93-106 Rohrmann, T. (2012): Starke Mädchen- - starke Jungen! Geschlechterbewusste Pädagogik als Schlüssel für Bildungsprozesse in der Kita. 5. Aufl. (SFBB), Berlin Ruble, D., Martin, C. (1998): Gender development. In: Damon, W. (Hrsg.): Handbook of child psychology-- 5. Aufl. John Wiley & Sons, New York, 933-1016 Schierz, M. (2019): Körper, Bewegung und Sport im biografischen Kontext. In: Voss, A. (Hrsg.): Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik. Ein Handbuch. Kohlhammer, Stuttgart Sobiech, G. (2010): Gender als Schlüsselqualifikation von (Sport-)Lehrkräften. In: Fessler, N., Hummel, A., Stibbe, G. (Hrsg.): Handbuch Schulsport. Hofmann, Schorndorf, 554-568 Trautner, H. (2008): Entwicklung der Geschlechtsidentität. In: Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. 6. Aufl. Beltz, Weinheim / Basel, 625-651 Voss, A. (2011): Geschlechteralltag im Bewegungskindergarten. In: Voss, A. (Hrsg.): Geschlecht im Bildungsgang. Orte formellen und informellen Lernens von Geschlecht im Sport. Czewalina Feldhaus, Hamburg, 45-66 Voss, A., Gramespacher, E. (2019): Geschlecht-- eine relevante Kategorie in der frühkindlichen Bewegungsbildung. In: Voss, A. (Hrsg.): Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik. Ein Handbuch. Kohlhammer, Stuttgart, 138-151 Wollasch, U. (2018): Gender-Mainstreaming. Der Unterschied von biologischem und sozialem Geschlecht. Betrifft Kinder 18 (01-02), 10-12 Zimmer, R. (2012): Handbuch Psychomotorik. 13. Aufl. Herder, Freiburg im Breisgau Die Autorin Ina-Marie Abeck Kindheitspädagogin (B.A.), Fachkraft für Psychomotorik, Pädagogische Projektmitarbeiterin bei NeNa e. V. (Netzwerk Nachsorge), Lehrbeauftragte an der Alice Salomon Hochschule Berlin Anschrift Kietz 7 D-12257 Berlin ina.abeck@nena-verein.de
