motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2020.art14d
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2020
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Fachbeitrag: Zur Bedeutung von Geschlecht im Bewegungshandeln pädagogischer Fachkräfte
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2020
Nicola Böcker-Giannini
In dem Beitrag geht es um die Bedeutung bewegungsbiografischer Erfahrungen pädagogischer Fachkräfte für ihr professionelles Handeln in der Kita. Im Mittelpunkt stehen die Aufdeckung impliziter Geschlechterkonzeptionen der Erzählpersonen sowie die Rekonstruktion geschlechtergebundener Deutungsmuster. Auf Grundlage der dargestellten Forschungsergebnisse werden in diesem Beitrag abschließend Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung angehender Psychomotoriker*innen und Kitafachkräfte dargestellt.
7_043_2020_2_0005
Zusammenfassung / Abstract In dem Beitrag geht es um die Bedeutung bewegungsbiografischer Erfahrungen pädagogischer Fachkräfte für ihr professionelles Handeln in der Kita. Im Mittelpunkt stehen die Aufdeckung impliziter Geschlechterkonzeptionen der Erzählpersonen sowie die Rekonstruktion geschlechtergebundener Deutungsmuster. Auf Grundlage der dargestellten Forschungsergebnisse werden in diesem Beitrag abschließend Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung angehender Psychomotoriker*innen und Kitafachkräfte dargestellt. Schlüsselbegriffe: Bewegungsbiografie, pädagogische Fachkräfte, Geschlecht, Doing Gender, Kita, Bewegungsangebote The significance of gender for the physical movement of educational professionals This article discusses the impact of biographical experiences of movement on the professional behaviour of educational specialists in nursuries. Its primary aim is to shed light on the implicit gender conceptions of narration and to undertake a reconstruction of gender-specific patterns of interpretation. Based on the presented research findings, the article will conclude by describing the consequences of gender bias for the training and advanced education of psychomotor therapists and nursery professionals. Key words: biography of movement, educational professionals, gender, Doing Gender, nursery, opportunities for physical activity [ 78 ] 2 | 2020 motorik, 43. Jg., 78-84, DOI 10.2378 / mot2020.art14d © Ernst Reinhardt Verlag [ FACHBEITRAG ] Bewegungsbiografische Erfahrungen von pädagogischen Fachkräften stehen bislang kaum im Fokus, wenn es um Bewegung in Kitas geht. Dieser Fragestellung hat sich das Verbundforschungsprojekt »Bewegung in der frühen Kindheit« (BiK) angenommen und u. a. ein Quali- Zur Bedeutung von Geschlecht im-Bewegungshandeln pädagogischer-Fachkräfte Nicola Böcker-Giannini fikationsprofil für den Fachbereich Bewegung entwickelt (Fischer et al. 2016). Das BiK-Projekt generiert dabei mittels der Grounded Theory Methodologie (Glaser / Strauss 2010) in Kombination mit teilnarrativen Leitfadeninterviews »Motive zur Bewegung« der befragten Fachkräfte. Die Relevanz der Kategorie Geschlecht im Bewegungshandeln der Erzählpersonen bleibt jedoch auch in diesem Projekt außen vor. Der vorliegende Beitrag nimmt den Aspekt auf und stellt ihn in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei geht es um eine Zusammenfassung der »Motive zur Bewegung«, die wiedergibt, was frühpädagogische Fachkräfte zu ihrer Bewegungsbiografie und zur Bedeutung von Bewegung in den Interviews benannt haben. Es wird dargestellt, wie die »Motive zur Bewegung« einen Spannungsraum determinieren, der die beiden zentralen Motive »Bewegung ist Begrenzung« und »Bewegung ist Freiheit« beschreibt. Darüber hinaus wird dargestellt, wie der Spannungsraum durch die Motive zum Doing Gender erweitert wird und seinerseits einen neuen Spannungsraum zwischen den zentralen Motiven »Bewegung und Geschlecht sind Freiheit« und »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung« darstellt. Abschließend werden die Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung frühpädagogischer Fachkräfte sowie für Übungsleiter*innen im psychomotorischen Kontext aufgezeigt. [ 79 ] Böcker-Giannini • Zur Bedeutung von Geschlecht 2 | 2020 »Motive zur Bewegung« von pädagogischen Fachkräften in Kitas Die in der Analyse des BiK-Projektes (Fischer et al. 2016) ermittelten »Motive zur Bewegung« wie beispielsweise »Bewegung ist Mittelzum Zweck«, »Bewegung ist Leistung«, »Bewegung ist Struktur«, »Bewegung ist Spaß / Freude«, »Bewegung ist Sinnlichkeit« und »Bewegung ist soziale Interaktion« beschreiben einen Spannungsraum zwischen den durch die Motive ausdifferenzierten zentralen Motiven »Bewegung ist Begrenzung« und »Bewegung ist Freiheit« (Abb. 1). Dabei determinieren die Motive »Bewegung ist Mittel zum Zweck«, »Bewegung ist Leistung« und »Bewegung ist Struktur« den Spannungsraum und damit das zentrale Motiv eher in Richtung »Bewegung ist Begrenzung«, während Motive wie z. B. »Bewegung ist Spaß / Freude«, »Bewegung ist Sinnlichkeit« und »Bewegung ist soziale Interaktion« im Spannungsraum eher in Richtung »Bewegung ist Freiheit« verortet werden können (Koch / Böcker 2014). Das Motiv »Bewegung ist Freiheit« wird in den Aussagen der Erzählpersonen immer dann benannt, wenn diese darüber sprechen, wo und wie sie sich in ihrer Kindheit bewegt haben. Bewegung draußen, in der freien Natur, im sozialen Kontakt mit anderen Kindern und ohne erwachsene Begleitpersonen stehen dabei im Mittelpunkt der Aussagen. Sie werden in der Regel mit Angaben kombiniert, die Spaß/ Freude an der Bewegung vermitteln und somit das Motiv »Bewegung ist Spaß/ Freude« determinieren. Auch die Kontaktaufnahme zu anderen Personen über Bewegung-- dargestellt im Motiv »Bewegung ist soziale Interaktion«-- sowie das Erspüren des eigenen Körpers, verbunden mit positiven Erfahrungen- - beschrieben im Motiv »Bewegung ist Sinnlichkeit«- - determinieren den Spannungsraum eher in Richtung »Freiheit« (Koch / Böcker 2014). In Aussagen zur Bewegung im Erwachsenenalter finden sich hingegen eher Motive, die den Spannungsraum in Richtung »Bewegung ist Begrenzung« darstellen. So wird Bewegung beispielsweise im Motiv »Bewegung ist Struktur« durch zeitliche Faktoren oder durch räumliche Gegebenheiten eingeschränkt. Auch die Vulnerabilität des eigenen Körpers spiegelt sich im Motiv »Bewegung ist Leistung« wider und beschreibt den Spannungsraum eher in Richtung »Begrenzung«. Die zeitliche und räumliche Begrenzung von Bewegung findet sich auch in Aussagen zum Thema Struktur im Kindergarten wieder (Böcker et al. 2014, 32 f ). Beschreibungen zum Sport, in denen Leistung im Mittelpunkt steht bzw. Ziele erreicht werden müssen, die durch andere festgelegt werden, determinieren die Motive »Bewegung ist Zwang« und »Bewegung ist Mittel zum Zweck« und sind im Spannungsraum ebenfalls eher in Richtung »Begrenzung« zu verorten. Ebenfalls auf Grundlage der Grounded Theory Methodologie (Glaser / Strauss 2010), in Verbindung mit der Erhebungsmethode biografischer Leitfadeninterviews und Gruppendiskussionen, können »Motive zum Doing Gender« generiert werden (Böcker-Giannini 2017), die den zuvor beschriebenen Spannungsraum zwischen den Motiven »Bewegung ist Freiheit« und »Bewegung ist Begrenzung« erweitern und somit die zentralen Motive »Bewegung und Geschlecht sind Freiheit« und »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung« beschreiben. Das methodische Vorgehen kann dabei in drei Schritte unterteilt werden. Zunächst wurden zehn, im Rahmen des BiK-Projektes bereits ausgewertete, Interviews mit frühpädagogischen Fachkräften vor dem Hintergrund der veränderten Forschungsfragestellung erneut analysiert. In einem weiteren Schritt konnten acht der bereits interviewten Fachkräfte in Leitfadeninterviews zum Schwerpunkt Gender noch einmal befragt werden. In einem dritten Schritt wurden drei Gruppendiskussionen in die Untersuchung einbezogen. Zur Auswertung sprachlich-kommunikativer Phänomene wurde das »Integrative Basisverfahren« nach Kruse (2014) angewendet. In der Feinanalyse des Datenmaterials konnte so eine Kombination verschiedener Analyseperspektiven, wie Agency-, Metaphern- und Positio- Abb. 1: Motive zur Bewegung im Spannungsraum zwischen den Zentralen Motiven »Bewegung ist Freiheit« und »Bewegung ist Begrenzung« (Koch / Böcker 2014, 229) Spannungsraum Zwang Struktur Leistung Spaß/ Freude soziale Interaktion FREIHEIT Mittel zum Zweck Sinnlichkeit extrinsisch motivierte Bewegung intrinsisch motivierte Bewegung BEGRENZUNG FUNDAMENT [ 80 ] 2 | 2020 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis ninganalsye (Kruse 2011; Helfferich / Kruse 2007; Kruse 2011), genutzt werden. Ziel war es dabei, zentrale Motive und Thematisierungsregeln aus den Interviews zu generieren und herauszuarbeiten, was (Motive) die Interviewten wie (Thematisierungsregeln) ausgesprochen oder eben nicht ausgesprochen haben (Kruse 2014, 558; 562 f ). Die in der Analyse generierten Motive zum Doing Gender im zuvor beschriebenen Spannungsraum zwischen den zentralen Motiven »Bewegung und Geschlecht sind Freiheit« und »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung« werden im Folgenden dargestellt. Doing Gender wird dabei im sozialkonstruktivistischen Sinne verstanden als ein Prozess, bei dem in ständiger Interaktion Geschlecht hergestellt wird. Motive zum Doing Gender im Spannungsraum zwischen den zentralen Motiven »Bewegung und Geschlecht sind Freiheit« und »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung« Der Spannungsraum zwischen den zentralen Motiven »Bewegung und Geschlecht sind Freiheit« und »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung« wird durch die im folgenden dargestellten Motive zum Doing Gender »Geschlecht wird gespielt«, »Geschlecht wird verortet« und »Geschlecht wird materialisiert« sowie durch die bereits dargestellten »Motive zur Bewegung« gefüllt (Abb. 2). In den Aussagen der interviewten Fachkräfte wird der Spannungsraum sowohl im Rahmen biografischer Erlebnisse als auch aufgrund von Aussagen zur alltäglichen Bewegung beschrieben. Es wird deutlich, dass Bewegung von Mädchen / Frauen eher durch kleinräumigere Bewegung drinnen dargestellt wird, die durch verschiedene Faktoren, wie Raum, Material, Kleidung oder den eigenen Körper, eingeschränkt ist. Die Begrenzung von Bewegung spiegelt sich hier im Motiv »Bewegung ist Struktur« wider und beschreibt somit für weiblich konnotierte Personen eher das zentrale Motiv »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung«. Auch Aussagen zur Verletzbarkeit des Körpers in Bezug zum weiblichen Geschlecht sowie in Korrelation zum Motiv »Bewegung ist Leistung« beschreiben den Spannungsraum eher in Richtung »Begrenzung«. Demgegenüber zeichnet sich das Bewegungsverhalten von Jungen / Männern in den Aussagen der Fachkräfte eher durch raumgreifende Bewegung aus, die nicht eingeschränkt wird. Verbunden beispielsweise mit den Motiven »Bewegung ist Spaß / Freude« und »Bewegung ist soziale Interaktion«, wird das zentrale Motiv »Bewegung und Geschlecht sind Freiheit« eher über den männlich konnotierten Körper beschrieben (Böcker-Giannini 2017, 129). Im Folgenden werden die Motive zum Doing Gender im Spannungsraum zwischen den zentralen Motiven »Geschlecht wird verortet«, »Geschlecht wird gespielt« und »Geschlecht wird materialisiert« dargestellt. Geschlecht wird verortet In den Interviews werden verschiedene »Orte« benannt, an denen Geschlecht konstruiert wird. Aussagen zum Thema Toiletten lassen sich dabei für beide Geschlechter in Richtung Begrenzung verorten, da die Toilettenräume immer für das jeweils andere Geschlecht nicht zugänglich scheinen. Alle weiteren benannten »Orte« können in der Re- Abb. 2: Motive zur Bewegung und Motive zum Doing Gender im Spannungsraum zwischen den zentralen Motiven »Bewegung und Geschlecht sind Freiheit« und »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung« (Böcker-Giannini 2017, 118) [ 81 ] Böcker-Giannini • Zur Bedeutung von Geschlecht 2 | 2020 [ 81 ] Böcker-Giannini • Zur Bedeutung von Geschlecht 2 | 2020 gel einem Geschlecht zusortiert werden. So existieren in den Aussagen der Erzählpersonen beispielsweise der »Fußballkäfig« und das »Draußen sein« eher als Orte für männlich konnotierte Personen, während das »Drinnen sein« und der »Rollenspielbereich« eher weiblich konnotierten Personen zugewiesen wird. Über die in den Aussagen enthaltenen Thematisierungsregeln der Raum- und Gefäßmetaphorik werden Jungen eher mit den Raumrichtungen »oben« und »vorne« verbunden. Mädchen hingegen wird das »am Boden« sein und »stehen bleiben« zugeschrieben (Abb. 3). Der Fußballkäfig steht dabei symbolisch für einen Ort, an dem der Zugang für das weibliche Geschlecht beschränkt ist, wie die folgende Aussage einer Erzählperson nahelegt: »[…] Wenn der Fußballkäfig offen ist, Bälle haben immer die Jungs mit zum Beispiel, das stimmt schon, und die wollen Fußball spielen. Also das fordern die auch. Das ist eigentlich bei den Mädchen / Die gehen dann zwar manchmal mit, aber die kommen auch ganz schnell wieder zurück, weil, das passt denen irgendwie nicht […] (GFK8 / 47)« (Böcker-Giannini 2017, 135). Während das Spiel für die Jungs als intrinsisch motiviert dargestellt wird und damit das entsprechende Motiv auch den Spannungsraum in Richtung »Freiheit« beschreibt, bleibt für Mädchen der Zugang beschränkt. Sie werden als »Mitläuferinnen« beschrieben, die keine Handlungsmacht besitzen und stattdessen nach kurzer Erkundung des Fußballkäfigs wieder zu ihrer Ausgangsposition zurückkehren. Der Fußballkäfig dient in der Aussage als Gefäßmetapher und wird so zum Synonym für das exklusive Spiel der Jungen und damit auch zu einem geschlechtsspezifischen Segregationselement, das Frauen nur einen begrenzten Zugang zur entsprechenden Ressource zubilligt (Böcker-Giannini 2017, 134). Wie im Beispiel des Fußballkäfigs beschrieben, gibt es in den Aussagen der Erzählpersonen weitere »Zulassungskriterien«, die die verschiedenen Räume für das jeweils andere Geschlecht »verschließen« bzw. »eröffnen« (Böcker-Giannini 2017, 140 f ). Geschlecht wird gespielt Das Motiv »Geschlecht wird gespielt« wird in der Erinnerung an eigene Bewegungserfahrungen sowie in Bezug zur Bedeutung von Bewegung im Kitaalltag beschrieben. In beiden Fällen findet Bewegung draußen statt und beschreibt, beispielsweise über die Motive »Bewegung ist Spaß / Freude« und »Bewegung ist soziale Interaktion«, das zentrale Motiv »Bewegung ist Freiheit« (Böcker et al. 2014, 22 ff; Koch et al. 2016, 163 ff ). Wie bereits zur »Verortung« des Abb. 3: Motiv »Geschlecht wird verortet« im Spannungsraum zwischen den zentralen Motiven »Bewegung und Geschlecht sind Freiheit« und »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung« (Böcker-Giannini 2017, 129) Abb. 4: Motiv »Geschlecht wird gespielt« im Spannungsraum zwischen den zentralen Motiven »Bewegung und Geschlecht sind Freiheit« und »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung« (Böcker-Giannini 2017, 141) [ 82 ] 2 | 2020 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Geschlechts im Raum angedeutet, findet in den Antworten der Fachkräfte vorwiegend das Spiel des männlich konnotierten Geschlechts draußen statt und wird über das Motiv »Bewegung ist intrinsisch motiviert« beschrieben. Dagegen stehen Mädchen / Frauen eher Räume drinnen zur Verfügung, die beispielsweise durch das Spielen am Tisch begrenzt sind (Abb. 4). Weiterhin wird das Motiv »Geschlecht wird gespielt« über die Zuordnung von Sportarten sowie über die Zuschreibung körperlicher Merkmale, die teilweise in den Sportarten immanent enthalten sind, konstruiert. So werden Jungen / Männer in den Aussagen der Fachkräfte eher Eigen- Abb. 5: Motiv »Geschlecht wird materialisiert«-- Dichotome Gegenüberstellung von Gegenständen beziehungsweise Materialien (Böcker-Giannini 2017, 176) schaften wie »kämpfen«, »wild sein« oder »aktiv sein« zugeschrieben, während Mädchen / Frauen eher mit der Zuschreibung »grazil« attribuiert werden. Die sie beschreibenden Sportarten sind körperkontaktlos und werden eher mit Tanzen und Musik verbunden. Jungen / Männern hingegen werden Fußball- und Kampfspiele zugeordnet (Böcker-Giannini 2017, 175). Ihnen wird damit in den Aussagen der Erzählpersonen eine körperliche Ressource zugeschrieben, die weiblich konnotierten Personen verwehrt zu sein scheint. Bieten Fachkräfte Fußball als Angebot in der Kita an, so scheinen die Angebote durch ihre Struktur eher Jungen vorbehalten zu sein und damit die Geschlechtsspezifik der Sportart zu untermauern (Böcker-Giannini 2017, 152). Motive wie »Bewegung braucht Struktur« und »Bewegung ist extrinsisch motiviert« werden eher Mädchen zugeschrieben und stellen den Spannungsraum damit in Richtung »Bewegung und Geschlecht sind Begrenzung« dar. Mit dem Motiv »Bewegung ist Spaß / Freude« in Bezug zum Fußballspiel wird für Jungen / Männer hingegen das Motiv im Spannungsraum eher in Richtung »Freiheit« verortet. Geschlecht wird materialisiert In Abbildung 5 werden verschiedene Materialien gegenübergestellt und beschreiben somit das Motiv »Geschlecht wird materialisiert«. Weiblich konnotierten Personen werden in den Interviews eher Gegenstände wie Handtaschen, Damenschuhe und Pferdeleinen zugeschrieben, während männlich konnotierten Personen eher Arbeitstaschen, Anzüge und Autos zugedacht werden. Gegenstände, die eigentlich kein Geschlecht »besitzen«, erhalten durch die sprachliche Markierung eine geschlechtsspezifische Bedeutung, die als »Sexuierung« (Hirschauer 1989, 103; Degele 2008, 80) bezeichnet wird. Im Spannungsraum können die benannten Gegenstände / Materialien nicht eindeutig in Richtung »Freiheit« oder »Begrenzung« verortet werden. Es ist jedoch festzustellen, dass Erzählpersonen in den Antworten, die das Motiv »Geschlecht wird materialisiert« beschreiben, auch ihr eigenes professionelles Handeln darstellen. Über die Motive »Bewegung ist Struktur«, »Bewegung ist Mittel zum Zweck« und »Bewegung ist extrinsisch motiviert« wird dabei der Spannungsraum eher in Richtung »Begrenzung« determiniert (Böcker-Giannini 2017, 181). Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung pädagogischer Fachkräfte und die psychomotorische Praxis in Kita und Verein Psychomotorische Praxis findet nicht in einem geschlechtsneutralen Raum statt, denn auch das Spiel der Kinder ist bereits geschlechtsspezifisch strukturiert (Largo 2009; Freeman 2007). Für die psychomotorische Praxis bietet sich deshalb an, die zur Verfügung gestellten Bewegungs- [ 83 ] Böcker-Giannini • Zur Bedeutung von Geschlecht 2 | 2020 [ 83 ] Böcker-Giannini • Zur Bedeutung von Geschlecht 2 | 2020 angebote darauf hin zu hinterfragen, ob und wie durch die Angebote Geschlecht konstruiert wird. Dafür können Fachkräfte Kinder regelmäßig in ihren Spiel- und Bewegungshandlungen beobachten und die Bewegungsangebote vor dem Hintergrund des Doing Gender reflektieren (siehe Beitrag Abeck in diesem Heft). In der Analyse der Interviews wurde deutlich, dass auch die Form des Angebotes eine Rolle spielt: »Je strukturierter und vorgegebener die Angebote, desto eher werden sozial erwünschte geschlechtsspezifische Ansichten in den Aussagen der Erzählpersonen und damit mutmaßlich auch im professionellen Handeln transportiert. Es liegt somit nahe, in der Aus- und Fortbildung methodisch-didaktische Konzepte in ihrer Relevanz für die Konstruktion von Geschlecht zu beleuchten und entsprechende Konsequenzen für das professionelle Handeln zu diskutieren« (Böcker-Giannini 2017, 222). Weiterhin ist im Rahmen der Angebote auf eine gendersensible Sprache zu achten. Denn wenn Kinder immer wieder mit den dargestellten Konstruktionsmechanismen von Geschlecht konfrontiert werden, ist davon auszugehen, dass sie die Aussagen der Fachkräfte und ihrer Peer Group für sich adaptieren. Die Reflexion des sprachlichen sowie des professionellen Handelns muss deshalb verstärkt auch in der Aus- und Fortbildung implementiert werden. Ähnliches dürfte für das professionelle Handeln von pädagogischen Fachkräften in der Kita und von Übungsleiter*innen in der Psychomotorik gelten. Vor dem Aspekt der Konstruktion von Geschlecht müssten sich beide Zielgruppen in ihrer Aus- und Fortbildung verstärkt mit der eigenen Bewegungsbiografie auseinandersetzen, zusätzlich intensive Körpererfahrung sammeln und diese Erfahrungen reflektieren. »Fehlen beispielsweise Erfahrungen mit Körperkontakt, so sind Angebote zum »ringen, rangeln und raufen« denkbar, um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Doing Gender in der Bewegung anzuregen. Ähnliches gilt auch für das Fußballspiel und Tanzen sowie bestimmte körperliche Aktivitäten wie wild sein, aktiv sein, etc., die […] in den Aussagen der Erzählpersonen eher weiblich oder männlich konnotiert werden« (Böcker-Giannini 2017, 224). Die Reflexion des Erlebten vor dem Hintergrund eines Doing Genders ist dabei ebenso relevant wie die Auseinandersetzung mit dem eigenen professionellen Handeln als Fachkraft und dem Erlernen fachlicher Kompetenzen. Als Ziel müsste eine veränderte Haltung initiiert werden, die Kindern, unabhängig von ihrem Geschlecht, einen gleichwertigen beziehungsweise gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen und Bildungschancen eröffnet. Auch das Fachwissen zum Thema Doing Gender sollte in der Aus- und Fortbildung der Fachkräfte sowie von Psychomotorikübungsleiter*innen verankert werden. »Neben klassischen Themen […] wie die motorische und sprachliche Entwicklung von Kindern im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter sowie die Verbindung von Sprache und Bewegung, müssten die Curricula um die Verknüpfung der Themen mit Doing Gender […] erweitert werden. Dabeikann der Zusammenhangvon Bewegung und Doing Gender […] über die Motive/ zentralen Motive und die Spannungsräume […] vermittelt werden« (Böcker-Giannini 2017, 222). Im pädagogischen Alltag sollte Kindern Geschlecht in seiner Vielfältigkeit dargestellt und die beschriebenen Geschlechterstereotype vermieden bzw. mit den Kindern besprochen werden. Dies gilt für Sport- und Bewegungsangebote ebenso wie beispielsweise auch für die Raumgestaltung in unterschiedlichen Bildungsbereichen in der Kita. »Es wäre dabei zu diskutieren, welche Materialien angeschafft werden könnten und welchen Wert beispielsweise Alltags- und Wertlosmaterial haben, die in ihrer Funktion nicht vordefiniert und somit auch nicht geschlechtsspezifisch konnotiert sind. In der Raumgestaltung könnten Bereiche in den Fokus genommen werden, die tendenziell einem bestimmten Geschlecht zugeschrieben werden. Ziel sollte es auch hier sein, über Materialien die Attraktivität der Bereiche für alle Kinder, unabhängig von ihrem Geschlecht, zu erhöhen« (Böcker-Giannini 2017, 223). Abschließend sollte auch die Rolle und damit das historisch gewachsene Rollenbild der frühpädagogischen Fachkraft in der Aus- und Fortbildung reflektiert werden. Dazu gehört auch die vorherrschende Dominanz weiblich konnotierter Personen im Berufsbild. Neben der Forderung nach mehr Männern in der Kita wäre hier vielmehr eine Diskussion über die immer noch vorherrschende vermeintliche Dualität der Ge- [ 84 ] 2 | 2020 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis schlechter angezeigt. In diesem Kontext könnte unabhängig vom angenommenen Geschlecht der Fachkräfte die Frage diskutiert werden, welche Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten Fachkräfte in Kitas und im Sportverein mitbringen müssen, um Kinder gut auf ihrem Weg in die Selbständigkeit zu begleiten. Die Frage nach dem Geschlecht der jeweiligen Fachkraft würde dann in den Hintergrund rücken. Fazit Damit alle Kinder unabhängig von ihrem Geschlecht die gleichen Chancen bekommen, müssen sich im Bildungsbereich Bewegung Fachkräfte in der Kita und Übungsleiter*innen im psychomotorischen Kontext mit dem Thema Doing Gender kritisch auseinandersetzen, ihre Haltung hinterfragen und ihr Handeln ständig reflektieren. Dafür ist eine Implementierung des Themenkomplexes Doing Gender mit den beschriebenen Konsequenzen auch in der jeweiligen Aus- und Fortbildung unabdingbar. Dieser Beitrag durchlief das Peer Review. Quellennachweis: Abb. 1 mit freundlicher Genehmigung des Verlags Forschung - Entwicklung - Lehre. Literatur Böcker-Giannini, N. (2017): Bewegungserfahrungen und Doing Gender / Undoing Gender-- Einfluss bewegungsbiografischer Erfahrungen und subjektiver Sichtweisen zur Bewegung und zum Doing Gender / Undoing Gender auf das professionelle Handeln frühpädagogischer Fachkräfte in der Kindertagesstätte, Dissertation. Universität zu Köln, Köln Böcker, N., Koch, M., Graul-Mayr, P., Bremser, S., Kuhlenkamp, S. (2014): Bewegungsbiografie und Reflexion als zentrale Einflussgrößen von Professionalisierungsprozessen. Ergebnisse der qualitativen Untersuchung des Forschungsprojektes »Bewegung in der frühen Kindheit« (BiK). Köln Degele, N. (2008): Gender / Queer Studies. Eine Einführung. Wilhelm Fink, Paderborn Fischer, K., Hölter, G., Beudels, W., Jasmund, C., Krus, A., Kuhlenkamp, S. (2016): Bewegung in der frühen Kindheit. Fachanalyse und Ergebnisse zur Aus- und Weiterbildung von Fach- und Lehrkräften. Springer, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 658-05116-7 Freeman, N. K. 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Zeitschrift für Soziologie 18 (2), 100-118, https: / / doi.org/ 10.1515/ zfsoz-1989-0202 Koch, M., Böcker, N. (2014): Bewegungspädagogische Fachpraxis im Spannungsraum von Freiheit und Begrenzung. In: Fröhlich-Gildhof, K., Nentwig- Gesemann, I., Neuß, N. (Hrsg.): Forschung in der Frühpädagogik VII. Schwerpunkt: Profession Professionalisierung. Materialien zur Frühpädagogik Bd. 15. FEL Verlag, Freiburg, 219-242 Koch, M., Böcker-Giannini, N., Bremser, S., Graul-Mayr, P., Kuhlenkamp, S. (2016): Motive zur Bewegung im Elementarbereich. Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung mit Expertinnen und Experten der Frühpädagogik. In: Fischer, K., Hölter, G., Beudels, W., Jasmund, C., Krus, A., Kuhlenkamp, S. (Hrsg.): Bewegung in der frühen Kindheit. Fachanalyse und Ergebnisse zur Aus- und Weiterbildung von Fach- und Lehrkräften. Springer, Wiesbaden, 151-188, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-05116-7_12 Kruse, J. (2014): Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz. Juventa, Weinheim Kruse, J. (2011): Reader »Einführung in die Qualitative Interviewforschung«. Freiburg Largo, R. H. (2009): Babyjahre. Die frühkindliche Entwicklung aus biologischer Sicht. 19. Aufl. Piper, München Die Autorin Dr. Nicola Böcker-Giannini Geschäftsführerin Giocando UG (haftungsbeschränkt), Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin Anschrift Giocando UG (haftungsbeschränkt) Luisenweg 12 D-13407 Berlin www.giocando.de boecker@giocando.de
