motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2020.art16d
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Praxistipp: Geschlechtergerechtigkeit in der psychomotorischen Praxis
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2020
Anja Voss
Übergeordnetes Ziel einer geschlechtergerechten psychomotorischen Praxis sollte es sein, den teilnehmenden Kindern unabhängig von ihrem Geschlecht einen Rahmen anzubieten, in dem sie die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten haben, auch wenn sie unterschiedliche Zugänge brauchen. Geschlechtergerechtigkeit bedeutet gleiche Beteiligung, Sichtbarkeit und Förderung der Fähigkeiten, Förderung gleicher Interessen und Chancen der teilnehmenden Kinder sowie Abbau von Geschlechterstereotypen. Kinder sollten sowohl die Möglichkeit haben, vielfältige und auch widersprüchliche Geschlechtervorstellungen in ihr Selbstbild zu integrieren als auch die Möglichkeit »anders« zu sein. [...]
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[ 93 ] Praxistipp 2 | 2020 [ PRAXISTIPP ] Geschlechtergerechtigkeit in der psychomotorischen Praxis Übergeordnetes Ziel einer geschlechtergerechten psychomotorischen Praxis sollte es sein, den teilnehmenden Kindern unabhängig von ihrem Geschlecht einen Rahmen anzubieten, in dem sie die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten haben, auch wenn sie unterschiedliche Zugänge brauchen. Geschlechtergerechtigkeit bedeutet gleiche Beteiligung, Sichtbarkeit und Förderung der Fähigkeiten, Förderung gleicher Interessen und Chancen der teilnehmenden Kinder sowie Abbau von Geschlechterstereotypen. Kinder sollten sowohl die Möglichkeit haben, vielfältige und auch widersprüchliche Geschlechtervorstellungen in ihr Selbstbild zu integrieren als auch die Möglichkeit »anders« zu sein. Eine wesentliche Voraussetzung für eine geschlechtergerechte Psychomotorik ist eine Sensibilität für Geschlechterfragen (Rohrmann 2007), d. h. von den Psychomotoriker*innen wird ein gewisses Maß an Genderkompetenz verlangt. Genderkompetenz bedeutet in Anlehnung an Sobiech (2010), um Prozesse der Herstellung von Geschlecht im Sinne des Doing Gender zu wissen, geschlechtsbezogene Zuschreibungen in den Körper- und Bewegungspraxen sowohl bei sich als auch bei den Kindern zu erkennen, zu reflektieren und zu hinterfragen und beiden Geschlechtern vielfältige bewegungsbezogene Entwicklungsmöglichkeiten und Gestaltungsfreiräume zu eröffnen. Für die Praxis bieten sich folgende Gestaltungsaspekte an: ■ thematische Rahmung, ■ offene Gestaltung, ■ Bewegungsangebote. Thematische Rahmung In einem ersten Schritt geht es darum, Ziele für die Praxiseinheit zu formulieren und entsprechend thematisch zu rahmen. Mit Blick auf das intendierte Ziel geschlechtergerechter Bewegungserfahrungen kann eine thematische Rahmung gewählt werden, die eine Vielfalt an Bewegungsaktivitäten ermöglicht. Hierbei sollten die unterschiedlichen Interessen und motorischen Unterschiede der teilnehmenden Kinder ebenso berücksichtigt werden wie eine eher therapeutische oder eher pädagogische Ausrichtung. Klassische psychomotorische Schlüsselbegriffe wie Wahrnehmung, Selbstkonzept oder Körpererfahrungen korrespondieren mit Bewegungseinheiten, die auf Geschlechtergerechtigkeit abzielen (Abb. 1). Der Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung bietet sich im Sinne eines inklusiven Praxiskonzeptes als Rahmung an. Dabei geht es um eine Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Einseitigkeiten und deren Auswirkungen (Institut für den Situationsansatz / Fachstelle Kinderwelten 2018). Neben einer persönlich-fachlichen Ebene ist hier auch die Organisation des Trägers / Vereins der psychomotorischen Angebote angesprochen. Abb. 1: Geschlechtsgerechter Erfahrungsraum Offene Gestaltung Im Mittelpunkt der Psychomotorikeinheit sollten Bewegungsmöglichkeiten stehen, die zum einen durch die räumlichen Bedingungen und durch Verfügbarkeit von Materialien und Geräten von den Kindern selbst gestaltet, verändert und mit eigenem Sinn versehen werden können (Zimmer 2019). Zum anderen geht es um die Gestaltung von Interaktionen zwischen den psychomotorischen Fachkräften und den Kindern. Hier bietet sich ein partizipatives Vorgehen an, indem die Kinder nach ihren Ideen und Interessen zu dem genannten Thema gefragt werden und die Wahl von Spielen, Materialien und Geräten in Abstimmung und unter Beteiligung der Kinder erfolgt. Auch geschlechterbezogene Körper- und Bewegungsvorstellungen sowie Vorur- [ 94 ] 2 | 2020 Praxistipp teile der Kinder können aufgegriffen und Unterschiede auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten bewusst gemacht werden (Wagner 2013). Dabei sollte es weniger um eine Fokussierung geschlechterbezogener Interessen gehen, sondern um eine Orientierung an individuellen Interessen sowie um eine »Managing Diversity« im Sinne eines produktiven Umgangs mit Heterogenität (Fereidooni / Zeoli 2016). Auch mit Blick auf die Einteilung von Gruppen sollte eine Zuschreibung von »den Mädchen« und »den Jungen« vermieden werden (z. B. bei der Teambildung sollte es weniger heißen: »Die Mädchen spielen gegen die Jungen! « sondern z. B.: »Kinder in einfarbigen / hellen Shirts spielen gegen Kinder in bunten / grünen Shirts! «). Dies setzt auch eine Reflexion der anleitenden Psychomotoriker*innen darüber voraus, was denn für sie »typisch Mädchen« und »typisch Junge« ist und was »typisch Kind« (Abb. 2). Abb. 2: »Typisch Junge«, »typisch Mädchen«, »typisch Kind«? Bewegungsangebote Mit Blick auf die psychomotorische Praxis laufen »geschlechtstypisch« konnotierte Bewegungsangebote wie z. B. Fußball oder Tanz Gefahr, Geschlechterdifferenzen unter Umständen zu verfestigen (Voss 2011, 53). Allerdings spielen auch hier die psychomotorischen Fachkräfte eine große Rolle, da sie mit gängigen Bewegungsklischees brechen können. Es bieten sich solche Bewegungsangebote an, die den Kindern die Möglichkeit geben, vielfältige Bewegungsaktivitäten kennenzulernen. Konkret können das Spiele sein, die nicht stereotyp besetzt sind wie z. B. Ultimate Frisbee, aber auch der Einsatz von Rollbrettern oder Materialien wie Luftballons, Reissäckchen oder Wäscheklammern, die grob- und feinmotorische, koordinative und auch konzentrative sowie entspannende Bewegungserfahrungen ermöglichen. Daneben bieten sich auch solche expressiven und impressiven Bewegungsangebote an, in denen die Kinder in Bewegungsgeschichten eingebunden werden. Dabei können z. B. Tierrollen aufgegriffen werden, die nicht als männliche oder weibliche Tiere zu identifizieren sind. Es können auch Hauptfiguren von Geschichten oder (Märchen-) Figuren aus Kinderbüchern nachgespielt werden, die mit traditionellen Rollenzuschreibungen spielen wie z. B. die Hexe Zilly oder Prinzessin Pfiffigunde. Literatur Fereidooni, K., Zeoli, A. (2016): Managing Diversity. Die diversitätsbewusste Ausrichtung des Bildungs- und Kulturwesens, der Wirtschaft und Verwaltung. Springer VS, Wiesbaden Institut für den Situationsansatz / Fachstelle Kinderwelten (2018): Inklusion in der Praxis. Das Methodenhandbuch: Lernprozesse zur Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung begleiten. Wamiki-Verlag, Berlin Rohrmann, T. (2007): Brauchen Jungen eine geschlechtsbewusste Pädagogik? PÄD Forum: Unterrichten und erziehen 35 / 26 (3), 145-149 Sobiech, G. (2010): Gender als Schlüsselqualifikation von (Sport-)Lehrkräften. In: Fessler, N., Hummel, A., Stibbe, G. (Hrsg.): Handbuch Schulsport. Hofmann, Schorndorf, 554-568 Voss, A. (2011): Geschlechteralltag im Bewegungskindergarten. In: Voss, A. (Hrsg.): Geschlecht im Bildungsgang. Orte formellen und informellen Lernens von Geschlecht im Sport. Feldhaus Verlag, Hamburg, 45-56 Wagner, P. (2013): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Herder, Freiburg im Breisgau Zimmer, R. (2019): Bewegungserziehung-- pädagogische und didaktische Grundlagen. In: Voss, A. (Hrsg.): Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik. Ein Handbuch. Kohlhammer, Stuttgart, 27-48 DOI 10.2378 / mot2020.art16d Kontakt Anja Voss anja.voss@ash-berlin.eu
