motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2020.art35d
101
2020
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Wissen kompakt: Containing
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2020
Amara Renate Eckert
Containing und containen – diese Begriffe werden zunehmend in psychosozialen Professionskontexten verwendet, wenn eine besondere Qualität von Beziehungsarbeit benannt werden soll. Auch im psychomotorischen Fachdiskurs (Berg 2004; Eckert 2010; 2012; Blessing / Vetter 2020; Wolf 2019) ist containing / containen angekommen, zumeist jedoch ohne Einbettung in den ursprünglichen Kontext, dem psychoanalytischen Konzept von Bion (1992). [...]
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[ 202 ] 4 | 2020 motorik, 43. Jg., 202-204, DOI 10.2378 / mot2020.art35d © Ernst Reinhardt Verlag [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Wissen kompakt: Containing Amara Eckert Containing und containen- - diese Begriffe werden zunehmend in psychosozialen Professionskontexten verwendet, wenn eine besondere Qualität von Beziehungsarbeit benannt werden soll. Auch im psychomotorischen Fachdiskurs (Berg 2004; Eckert 2010; 2012; Blessing / Vetter 2020; Wolf 2019) ist containing / containen angekommen, zumeist jedoch ohne Einbettung in den ursprünglichen Kontext, dem psychoanalytischen Konzept von Bion (1992). Wilfred Rupert Bion (1897-1979) war ebenso wie D. W. Winnicott Schüler von Melanie Klein, einer Pionierin der Kinder-Psychoanalyse. Er studierte Geschichte und Medizin und wirkte an der bekannten Londoner Tavistock Clinic, deren Konzept er mit entwickelte. Seine Forschungs- und Entwicklungsarbeiten waren u. a. beeinflusst von seiner Erfahrung in zwei Weltkriegen sowie der Arbeit mit traumatisierten und psychotischen PatientInnen. Er ist darüber hinaus als Mitbegründer der Gruppenanalyse in England bekannt. Das durch ihn bekannt gewordene Konzept des Container-Contained (Bion 1992) beinhaltet die psychische Verdauung von überwältigenden Emotionen (Contained) durch einen anderen Menschen (Container). Diese Begriffe aktivieren Vorstellungen von einem Behältnis, das etwas hält, auffängt und aushält. Die Vorstellung legt nahe, dass der Container in einer passiven Haltung verharrt und als »Mülleimer« fungiert, was aber nur einen Teil des Containing-Prozesses beschreibt. Vielmehr ist der Container bei der Verdauung von Gefühlen eines anderen Menschen auch mit seinen eigenen Gefühlen konfrontiert. Wenn er sich als Hilfe zur Verfügung stellt, ist er aufgefordert, diese ebenfalls »vorzuverdauen«, um unerträgliche Selbstzustände eines anderen Menschen auszuhalten, zu modifizieren und zu »entgiften«, so dass diese in nunmehr erträglicher Form der gesunden seelischen Entwicklung dieses Menschen dienen können. Containing ist damit sowohl ein interpersonelles wie auch ein intrapersonelles psychisches Geschehen mit Lern- und Entwicklungspotential für alle Beteiligten. Um unerträgliche und überwältigende Gefühle von anderen containen zu können, ist für Fachkräfte die Bearbeitung und das Verstehen der eigenen Emotionen Voraussetzung. Eine Fachkraft, die nicht gelernt hat, die eigene Wut zu containen, wird auf ein wütendes Kind mit Aggression (auch in indirekter Form) reagieren und diese durch rationale Begründungen legitimieren. Auch die Absicht, den eigenen Überzeugungen gemäß Hilfe leisten zu wollen, z. B. ein ausrastendes Kind durch Gruppenausschluss zu schützen, kann als Abwehr der eigenen Angst vor starken Emotionen gewertet werden. Diese Formen der Gegenübertragung gehören für Bion zu den unbewussten Interaktionsblockaden, die Entwicklung verhindern. Containing trägt dazu bei, nicht bewusstseinsfähige Affektzustände zu transformieren, umzuwandeln und damit dem Bewusstsein zugänglich zu machen. Dieser Schritt ist bei Kindern der Beginn der Ich-Entwicklung und damit auch der Entwicklung des Denkens. Mit diesen Perspektiven wird deutlich, dass das Konzept des Containing über das des Haltens und Gehalten-werdens nach Winnicott (2008) hinausgeht (Eckert 2020). [ 203 ] Eckert • Wissen kompakt: Containing 4 | 2020 Mit den Begrifflichkeiten der Bindungstheorie kann Containing auch als interpersonelle Affektregulation, Affektverarbeitung und Affektmodulation verstanden werden. Parallelen zur Theorie des Mentalisierens werden an dieser Stelle sichtbar (Fonagy et al. 2002). Da Containing durch »innere Entgiftung« den Rahmen des Verarbeitbaren verändert, kann auch eine Nähe zur Methode des »Reframing« im Sinne systemischer Beratungsansätze hergestellt werden (Crepaldi 2018). Bions Ziel ist die Erforschung und Beschreibung der »Genese des Subjekts«, also nichts weniger als die einer Entwicklungstheorie, die seelisches Wachstum über die gesamte Lebensspanne ermöglicht (Crepaldi 2018). Im Unterschied zur kognitiven Entwicklungstheorie Piagets (Piaget/ Inhelder 1993) stellt Bion die emotionale Entwicklung durch Containing in den Vordergrund und sieht sie als Grundlage der Symbolisierung und des Denkens. Ein psychomotorischer Ansatz, der die Beziehungsorientierung in den Vordergrund stellt, findet in den Ausführungen Bions wichtige Anregungen zu seiner Theoriebildung und Praxisgestaltung. Containing kann auf verschiedene Weise und in verschiedener Form stattfinden: Leiblich, kreativ (»träumerisch«) und sprachlich. Die leibliche Kommunikation beginnt in der frühen Mutter-Kind-Interaktion und erfolgt über Tonus, Gestik, Mimik und Stimme. Die leibliche Kommunikation ist grundlegend für kreatives und sprachliches Containing. Kreatives Containing entsteht durch Narration, d. h. Geschichten (auch gespielte Geschichten) und Träume, womit sowohl Tagträume als auch nächtliche Träume gemeint sein können. In einer »Ko-Konstruktion werden gemeinsam bedeutungsvolle Zusammenhänge erschaffen, die beim »Entgiften« helfen (Bettighofer 1994). Das Containing geschieht auf einer symbolischen Ebene, in der Psychomotorik z. B. im bewegten Symbol- und Rollenspiel. Folgendes Beispiel aus der psychomotorischen Therapie soll Containing auf leiblicher, kreativer und sprachlicher Ebene veranschaulichen: Für Ben, einen siebenjährigen Jungen mit neonatalem Drogenentzug und frühkindlicher Vernachlässigung, waren seine lebensbedrohlichen frühen Erfahrungen zu beängstigend und emotional überwältigend, um sie ohne Hilfe leiblich und symbolisch im Spiel zu reinszenieren. Er brauchte dazu eine sichere Begleitung und einen Container für seine überwältigenden Gefühle. Sein Psychomotoriktherapeut (PT) erkannte dies in der Gegenübertragung durch seine tonisch-emotionale Resonanz. In einem von Ben vorgeschlagenen Bergsteiger-Spiel sollten Berge aus aufgetürmten Schaumstoffklötzen bestiegen werden. Auf seinen Wunsch hin bestieg auch der PT den gefährlichen Berg und sollte dabei abstürzen. »Ja, fall runter«, rief Ben mit lauter und aufgeregter Stimme. Der PT spürte Bens große Angst und Hilflosigkeit. Er spielte im Rollenspiel (Narration) für ihn den Absturz vom Berg und diese Angst in gemilderter (»entgifteter«) und verkraftbarer Form. Im Spiel zitterte und jammerte er, bis er schließlich abgestürzt zwischen den »Felsen« lag, aber überlebt hatte (leibliches, kreatives und sprachliches Containing). Da Ben durch das Miterleben und Mitfühlen dieser Szene innerlich sehr bewegt war, konnte er beim inszenierten Sturz nur kurz hinschauen. In der Sicherheit des psychomotorischen Settings hatte er seine Ängste (durch die Rollenzuweisung) an den PT übergeben. Durch das Containing des PT war es ihm möglich, seine aktivierten Gefühle von Angst und Hilflosigkeit in dieser Situation auszuhalten. Dies kann als erster Schritt für den selbstregulativen Umgang mit inneren Turbulenzen betrachtet werden. Weitere Entwicklungsschritte der emotionalen Verarbeitung und Stabilisierung durch leibliche Symbolisierung und durch Versprachlichung des Erlebten erfolgten im Verlauf der Therapie. Kommt im Prozess des Containing die Versprachlichung hinzu, werden gespürte und narrative psychische Inhalte dem Denken zugänglich. Dies kann im narrativen Spiel (z. B. von Ben) geschehen, beim Anschauen und Lesen eines Bilderbuchs, beim Erzählen einer Geschichte vom »traurigen Teddy« oder beim symbolischen Spiel mit Tieren oder anderen Figuren. Die Geschichte von Pu dem Bären (Milne 2006) kann als klassische Container-Geschichte betrachtet werden, die Kindern und ihren Erwachsenen hilft, die innere Objektwelt zu entschärfen und damit besser mit sich selbst zurecht zu kommen. [ 204 ] 4 | 2020 Auf den Punkt gebracht Resonanz, Empathie und Achtsamkeit sind Vorrausetzungen für Containing, das jedoch auch der liebevollen Hinwendung des Erwachsenen bedarf (Crepaldi 2018). In der psychomotorischen Fachliteratur sind Geschichten und Fallvignetten mit Kindern dokumentiert, die Containing auf leiblicher, narrativ kreativer und sprachlicher Ebene beschreiben (Aucouturier 1982; Berg 2004; Eckert 2010; Esser 2009; Hammer 2001 u. a.). Diese Prozesse detaillierter und fachtheoretisch fundierter darzulegen, könnte ein nächster Schritt, auch in der Reflexion psychomotorischer Praxis, sein. Literatur Aucouturier, B. (1982): Bruno. Ernst Reinhardt, München / Basel Berg, I. (2004): Aggressivität bei Kindern aus psychoanalytischer Sicht. Möglichkeiten sinnverstehender psychomotorischer Intervention. In: Eckert, A., Hammer, R. (Hrsg.): Der Mensch im Zentrum. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo Bettighofer, S. (1994): Übertragung und Gegenübertragung im therapeutischen Prozess. Kohlhammer, Stuttgart Bion, W. R. (1992): Lernen durch Erfahrung. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Blessing, F., Vetter, M. (2020): Bewegungsgetragene Traumaarbeit in Kindergarten und Schule. motorik, 43 (1), 26-34, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2020. art05d Crepaldi, G. (2018): Containing. Psychosozial, Gießen, https: / / doi.org/ 10.30820/ 9783837974096 Eckert, A. R. (2020): Aktuelles Stichwort: Halten (holding function). motorik 43 (3), 144-146, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2020.art25d Eckert, A. R. (2012): »Kinder, ihr seid mein Sonnenschein«. Alte Menschen psychomotorisch verstehen. In: Krus, A. (Hrsg.): Ein bewegtes Leben. Psychomotorisches Arbeiten mit älteren Menschen und Menschen mit Demenz. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo Eckert, A. R. (2010): Psychomotorik und Körperpsychotherapie- - Annäherungen, Verbindungen, eigene und getrennte Wege. motorik 33 (2), 65-70 Esser, M. (2009): Beziehung wagen-- Mit Körper und Bewegung (psycho-)therapeutisch arbeiten. proiecta, Bonn Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2002): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta Hammer, R. (2001): Bewegung allein genügt nicht. Borgmann, Dortmund Milne, A. A. (2006): Pu der Bär-- Pu baut ein Haus: Gesamtausgabe zum 80. Geburtstag. Dressler, Hamburg Piaget, J., Inhelder, B. (1993): Die Psychologie des Kindes. DTV, München Winnicott, D. W. (2008): Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Psychosozial, Gießen Wolf, B. (2019): Sinnverstehende Psychomotoriktherapie mit Erwachsenen. Ernst Reinhardt, München / Basel Die Autorin Prof.in Dr. Amara R. Eckert Dipl. Pädagogin; Arbeitsschwerpunkte: Psychomotorik, Soziale Arbeit, Körperpsychotherapie, Pränatale Psychologie, Supervision Anschrift Auf dem Leihen 21 D-72534 Hayingen amara.eckert@h-da.de
