eJournals motorik 44/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2021
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Eine psychomotorische Annäherung an das Thema »Stress«

41
2021
Ruth Haas
Dieser Beitrag gibt eine Einführung in das Thema Stress und Stressbewältigung und entwirft eine Skizze für eine psychomotorische Annäherung an das Thema. Der Stressbegriff wird aus historischer und aktueller Perspektive geklärt. Biologische Mechanismen in Stresssituationen und deren mögliche Auswirkungen werden aufgezeigt. Körperliche Aktivität als Stresspuffer wird kritisch beleuchtet und ein Entwurf einer psychomotorischen Herangehensweise beschrieben. Schlüsselbegriffe: Stress, Stressbewältigung, körperliche Aktivität, Gesundheit, Psychomotorik
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Zusammenfassung / Abstract Dieser Beitrag gibt eine Einführung in das Thema Stress und Stressbewältigung und entwirft eine Skizze für eine psychomotorische Annäherung an das Thema. Der Stressbegriff wird aus historischer und aktueller Perspektive geklärt. Biologische Mechanismen in Stresssituationen und deren mögliche Auswirkungen werden aufgezeigt. Körperliche Aktivität als Stresspuffer wird kritisch beleuchtet und ein Entwurf einer psychomotorischen Herangehensweise beschrieben. Schlüsselbegriffe: Stress, Stressbewältigung, körperliche Aktivität, Gesundheit, Psychomotorik Coping with Stress-- a subject for psychomotricity? This article gives an introduction into the subject stress and coping with stress and outlines a psychomotor approach. An actual and historical definition of the term stress is introduced. Biological stress reactions are described and the effect of physical activity on stress is discussed. An idea of psychomotor approach for coping with stress is designed. Key words: stress, coping with stress, physical activity, psychomotricity [ 56 ] 2 | 2021 motorik, 44. Jg., 56-61, DOI 10.2378 / mot2021.art11d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Eine psychomotorische Annäherung an-das Thema »Stress« Ruth Haas neurose oder -erschöpfung und nach dem Vietnamkrieg »Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)« genannt (Lazarus 1999, 27). Selye (1976), der Begründer der Stressforschung, definiert den Begriff »Stress« aus einer biologischen Perspektive als unspezifische Antwort des Körpers auf jede Art der Anforderung. Starke körperliche oder physische Anstrengung, andauernder beruflicher Druck, Unfälle sowie Traumata oder Sterbebegleitung naher Angehöriger können Stressreaktionen herbeiführen. Der menschliche Organismus beantwortet auf Basis seines evolutionären Erbes soziale, emotionale und körperliche Belastungsfaktoren mit denselben biologischen Reaktionen (Selye 1976). Im Kontext der Nachwirkungen des 2. Weltkriegs wurde der Begriff Stress erweitert und auf die Allgemeinbevölkerung bezogen (Lazarus 1999, 27). Unter dem Begriff »Stress« wurden Probleme, Ursachen und emotionale Auswirkungen der Anpassung an schwierige Lebensbedingungen zusammengefasst (Lazarus 1999, 30). Das transaktionale Stressmodell von Lazarus stellt den Prozess der individuellen Bewertung von Ereignissen, deren Auswirkung auf das Wohlbefinden sowie die Bewältigungsmöglichkeiten einer Person in den Mittelpunkt (Lazarus 1999, 9). Die enge Wechselwirkung von Stress und Emotionalität wird betont. Das bedeutet, dass sich Menschen aktiv zu den Anforderungen des Lebens durch deren subjektive Bewertung in Bezug setzen. Lazarus spricht vom Stressstimulus oder Stressor als dem externen Die Untersuchung von Auswirkungen der Erfahrungen im 1. und 2. Weltkrieg auf das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit der Soldaten gab den Anstoß zur Stressforschung (Lazarus 1999, 27). Ein großer Anteil der ehemaligen Soldaten entwickelte kräfteraubende Stresssymptome, wie z. B. leichte bis schwere Angststörungen oder schwere psychische Störungen. Die Stärke der Stresssymptome variierte in Abhängigkeit von den Kampfbedingungen, denen die Soldaten ausgesetzt waren, sowie von der Anzahl der Gefallenen. Diese Erscheinungen wurden Kriegs- [ 57 ] Haas • Eine psychomotorische Annäherung an-das Thema »Stress« 2 | 2021 Einwirken und der Stressantwort oder -reaktion als deren Auswirkung auf den Menschen. Stress kann nur angemessen betrachtet werden, wenn physiologische Prozesse (körperliche bzw. hormonelle Reaktionen und Prozesse im Gehirn), soziologische Zusammenhänge und psychologische Aspekte Berücksichtigung finden (Lazarus 1999, 32). Es wird zwischen primärer und sekundärer Bewertung unterschieden. Erstere überprüft einerseits, ob bereits ein Schaden bzw. Verlust vorliegt und demnach eine Bedrohung vorhanden ist. Andererseits wird eingeschätzt, ob es sich um positive Herausforderungen handelt, die mit positiven Emotionen einhergehen (Kaluza 2018, 42). Die sekundäre Bewertung betrachtet die vorhandenen Kompetenzen oder externe Hilfsmöglichkeiten hinsichtlich ihres Coping-Potentials. Stressreaktionen werden dann aktiviert, wenn die zur Verfügung stehenden Kompetenzen als ungenügend für die Schadensverhinderung bzw. das Abwenden der Bedrohung eingeordnet werden. Vorerfahrungen in der Bewältigung von Anforderungen erweisen sich dabei als bedeutsam (Kaluza 2018, 45). Stress wird demnach definiert als »[…] ein subjektiv intensiv unangenehmer Spannungszustand, der aus der Befürchtung entsteht, dass eine stark aversive, zeitlich nahe (oder bereits eingetretene) und lang andauernde Situation sehr wahrscheinlich nicht vollständig kontrollierbar ist, deren Vermeidung aber subjektiv wichtig erscheint« (Schaper 2019, 575). In der Weiterführung des Modells von Lazarus unterscheidet Kaluza (2018) zwischen Stressoren, Stressreaktionen und individuellen Stressverstärkern. Unter Stressoren werden äußere Bedingungen und Situationen erfasst, die das Funktionieren eines Systems gefährden (Kaluza 2018). Diese Bedingungen und Situationen können aufgrund ihrer Dauer ein System so beeinträchtigen, dass körperliche und psychische Stressreaktionen die Folge sind (Tab. 1). Auf der Verhaltensebene zeigen sich Stressreaktionen, z. B. durch hastiges, ungeduldiges Verhalten, Betäubungsstrategien, unkoordiniertes Arbeiten, Vergessen, Planungslosigkeit oder durch konfliktreichen Umgang mit Menschen (Kaluza 2018). Kognitiv-emotionale Stressreaktionen zeigen sich u. a. in Gefühlen der Unruhe, des Ärgers, der Angst vor Blamage und der Hilflosigkeit. Selbstvorwürfe, Grübeln, Denkblockaden oder Tunnelblick können auch eine Reaktion auf Stresserleben darstellen (Kaluza 2018). Persönliche Stressverstärker, wie z. B. Persönlichkeitseigenschaften, persönliche Einstellungen und Werte, sind in der Lage, Stressreaktionen auszulösen und zu intensivieren. Dazu gehören z. B. auch Perfektionsstreben und mangelnde Akzeptanz der eigenen Leistungsgrenzen. Die Einstellung, Aufgaben besser allein und eigenständig zu bewältigen, und ein Gefühl der Unersetzlichkeit können die Wirkung von Stressoren verstärken (Tab. 1). Die biologische Perspektive Aus evolutionsbiologischer Perspektive aktiviert die Stressreaktion den Organismus und ermöglicht die Bewältigung verschiedenster Gefahrensituationen. Die biologischen Reaktionen auf Stressoren beinhalten komplexe neurohumorale und vegetativ-physiologische Vorgänge mit dem Ziel einer Mobilisierung von Energie und einer Aktivierung (Kaluza 2018, 27; Krohne 2017, 14). »Die Wahrnehmung neuartiger und durch assoziative Verarbeitung als bedrohlich eingestufter Reizkonstellationen geht mit der Generierung eines unspezifischen Aktivitätsmusters in assoziativen kortikalen und subkortikalen Strukturen einher« (Hüther 2018, 35). Die körperlichen Reaktionen auf Stress lassen sich unterteilen in Reaktionen, die zu einer Steigerung der Handlungsfähigkeit beitragen und solchen, die nicht aktuell notwendige Prozesse vermindern. Diese basieren auf zwei unterschiedlichen Reaktionswegen des Organismus, der sog. Sympathikus-Nebennieren- (1) und der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (2) (Abb. 1). Auf Grundlage der Achse (1) nimmt bei physischen und seelischen Reizen, wie körperlichen Schmerzen oder Wut, die Konzentration des Hormons Adrenalin im Blut zu. Dies hat zur Folge, dass Herzschlag, Blutdruck und Blutzuckerspiegel ansteigen und die Durchblutung von Herz, Gehirn und Muskulatur verbessert werden (Hüther 2018, 35). Bleibt die erlebte Bedrohung bestehen, geschieht eine Reaktion über [ 58 ] 2 | 2021 Forum Psychomotorik die Achse (2), die bei länger andauernden Belastungen aktiviert wird. Sie sorgt dafür, dass Kortisol ins Blut gelangt und eine weitere Energiebereitstellung angeregt wird (Kaluza 2018; Krohne 2017, 15). Noradrenalin und Kortisol wirken sich auf die Funktionsweise des Gehirns, insbesondere auf neuronale Verschaltungen aus. Noradrenalin führt zu einer Bahnung und Stabilisierung vorhandener neuronaler Schaltkreise, während ein stark erhöhter Kortisolspiegel neuronale Strukturen destabilisiert (Hüther 2018). Diese Prozesse bewirken im Gehirn- - in Abhängigkeit von Dosis und Dauer der Einwirkung- - Veränderungen der Nervenzellen. Unter chronischem Stress vermindert sich die Anzahl der Rezeptoren für die Neurotransmitter Serotonin, Dopamin, Noradrenalin. Dies stört die Kommunikation zwischen den Nervenzellen und neuronale Schaltkreise mit dem Ziel, in der Stresssituation erfolgreiche Verhaltensmuster zu stabilisieren und nicht hilfreiche zu löschen (Hüther 2018; Bauer 2015). Stress führt zu vermehrter Energiebereitstellung durch Fett und Zucker, die in der Blutbahn verbleiben und somit das Risiko für Arteriosklerose erhöhen (Kaluza 2018, 30). Private und berufliche Stressoren bleiben nicht selten über längere Zeiträume bestehen oder treten wiederholt auf. Bei chronischem Stress bleibt der Kortisolspiegel im Blut erhöht und wirkt sich auf unterschiedliche Weise negativ auf den Organismus aus. Das Immunsystem wird nachhaltig geschwächt und die Anfälligkeit für Erkrankungen steigt (Kaluza 2018, 31). Bewegung allein genügt nicht Durch körperliche Aktivität können Stressreaktionen im Sinne eines »Stresspuffers« reduziert werden (Gerber / Fuchs 2018, 7; Klaperski 2018). Der Begriff »Körperliche Aktivität« umfasst alle körperlichen Bewegungen, bei denen die Nutzung großer Muskelgruppen den Energieverbrauch erhöht (USDHHS 1996, 16). Dazu gehören sportliche Betätigung, aber auch Bewegungsaktivitäten in Beruf und Freizeit (Gerber / Fuchs 2018, 5). Die Frage der Dosierung und Art der körperlichen Aktivität, die stressreduzierend wirkt, ist jedoch nicht hinreichend geklärt, insbesondere wenn es sich um psychosoziale Belastungen handelt (Gerber / Fuchs 2018, 7). Es wird empfohlen, eine individualisierte Auswahl der körperlichen Aktivität in Abhängigkeit von der Art der Stressoren zu treffen. Eindeutige Befunde zur Wirkung von körperlicher Aktivität als »Stresspuffer« auf das Gehirn konnten bislang nur in Tierexperimenten nachgewiesen werden (Ludyga 2018, 287). Nachweislich führt jedoch körperliche Aktivität zu einer Verbesserung des Schlafes (Brand 2018, 306) und zu einer Verminderung arteriosklerotischer Prozesse (Deiseroth / Hanssen 2018, 338). Fuchs / Klaperski (2018) postulieren präventive Wirkungen der Stressreduktion durch eine mögliche Verminderung der Stressoren und Stärkung der Ressourcen (Selbstwirksamkeit und soziale Unterstützung) durch körperliche Aktivität in Verbindung mit einer Einflussnahme auf Bewertungsprozesse (Abb. 2). Stressreaktionen sollen auf bio-psycho-sozialer Ebene vermindert werden. Zudem soll körperliche Aktivität kompensatorisch im Sinne von Ausgleich wirken (Gerber / Fuchs 2020, 7). Die Befunde zu den Auswirkungen von körperlicher Aktivität auf das Stressgeschehen sind jedoch nicht eindeutig. Abb. 1: Die zwei Wege der körperlichen Stressreaktion (nach Kaluza 2018, 24) Sympathikus (Noradrenalin) Nebennierenmark (Adrenalin) Hypothalamus (Kortiko-releasinghormon CRH) Hypophyse (Corticotropin ACTHA) Nebennierenrinde (Kortisol) Abb. 1: Die zwei Wege der körperlichen Stressreaktion (nach Kaluza 2018, 24) [ 59 ] Haas • Eine psychomotorische Annäherung an-das Thema »Stress« 2 | 2021 [ 59 ] Haas • Eine psychomotorische Annäherung an-das Thema »Stress« 2 | 2021 Abb. 2: Modell der stressregulativen Wirkweisen der körperlichen Aktivität (nach Fuchs/ Klaperski 2018, 6) Körperliche Aktivität als Stressreduzierung (1) Stressor Körperliche Aktivität als Ressourcenstärkung (2) Ressourcen (z.B. Selbstwirksamkeit) Kognitive Bewertung Körperliche Aktivität als Reaktionsverringerung (3) Kognitive Stressreaktionen Affektive Stressreaktionen Behaviorale Stressreaktionen Biologische Stressreaktionen Körperliche Aktivität als Kompensation (4) Stärkung der Gesundheit Abb. 2: Modell der stressregulativen Wirkweisen der körperlichen Aktivität (nach Fuchs/ Klaperski 2018, 6) Die Individualität von Stresserleben Die Einschätzung, ob eine Lebenssituation als bedrohlich erlebt wird, unterliegt der individuellen Bewertung in Abhängigkeit von Vorerfahrungen. Die Ähnlichkeit mit Erfahrungen, die von der Person selbst oder einer wichtigen Bezugsperson nicht bewältigt werden konnten oder bei denen keine Hilfeleistung erfolgte, können dazu führen, dass Situationen als bedrohlich erlebt werden (Bauer 2015, 454). Veränderungen in sozialen Beziehungen erweisen sich als besonders angstbesetzt und damit stressrelevant, unabhängig davon, ob es sich um Verlust, ständige Präsenz, Annäherung oder Entfernung, Vertrauen oder Misstrauen handelt (Hüther 2018, 41). Erinnerungen an emotional bedeutsame soziale Erfahrungen, wie starke Beschämung, körperliche Übergriffe oder erlebte Gewalt, können auf belastende Weise reaktiviert werden und erneut Stressreaktionen auslösen. Auch die Infragestellung des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses kann als Bedrohung erfahren werden (Hüther 2018, 42). Frühkindliche Bindungserfahrungen spielen eine wichtige Rolle bei der Individualisierung von Stresserleben. Die reale Gegenwart von fürsorglichen Bezugspersonen wirkt sich auf Stressreaktionen bei Kindern beruhigend aus. Bei Kindern mit einer sicheren Bindung zur Bezugsperson konnte ein deutlich niedriger Kortisolspiegel als bei Kindern mit einer beeinträchtigten Bindung gemessen werden (Hüther 2018). Bindungserfahrungen beeinflussen die Sensibilität des Stress-Systems über die Lebensspanne (Bauer 2015, 568). Ein psychomotorischer Erfahrungsraum zur Stressbewältigung Zur Erfassung des Stressgeschehens wird auf das oben genannte triadische Modell von Stressoren, Stressreaktionen und persönlichen Stressverstärkern Bezug genommen (Kaluza 2018). Im o. g. Konzept wird zur Verminderung der identifizierten Stressoren nach »Instrumenten« gesucht, welche die Stressoren vermindern oder aktiv bewältigen helfen (»instrumentelle Stresskompetenz«). Stressreaktionen soll durch Maßnahmen der Regeneration entgegengewirkt werden (»regenerative Stresskompetenz«) (Kaluza 2018, 88). Einstellungen, Bewertungen und Handlungsmotive, die Stresserleben und -reaktionen verstärken können, werden durch die Bewusstwerdung und kognitiv-emotionale Umdeutung in den Blick genommen (»mentale Stresskompetenz«) (Kaluza 2018, 88.). Der Ansatz der Stressbewältigung von Kaluza (2018) orientiert sich an einem kognitiv-behavioralen Denkmodell. In diesem Beitrag wird ein Transfer auf eine erfahrungs- und handlungsorientierte, psychomotorische Vorgehensweise entworfen, da Stresserleben ein psychomotorisches Phänomen darstellt, das dem einzelnen Menschen nicht im- [ 60 ] 2 | 2021 Forum Psychomotorik mer bewusst ist. Psychomotorische Vorgehensweisen stellen die Stärken der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Arbeitsweise. Die Auseinandersetzung mit individuellen Grenzen und Defiziten kann jedoch in der Praxis und insbesondere bei der Auseinandersetzung mit dem Thema »Stress« nicht ausgeklammert werden. Es ist von zentraler Bedeutung für die Bewältigung von belastenden Lebenssituationen, die vorhandenen und nur z. T. bewusst verfügbaren Kompetenzen wahrzunehmen und nutzbar zu machen. Ein psychomotorisches Setting beinhaltet das Potential, Erfahrungsräume zu gestalten, um Stärken aber auch Belastungen spürbar werden zu lassen. Auf diese Weise können die persönlichen Besonderheiten in der Erfahrung von Stress bewusst werden. Ein psychomotorischer Zugang erlaubt es, mögliche Stressoren, Stressreaktionen und individuell stressverstärkende Einstellungen und Bewertungen bewusst zu erleben und zu reflektieren (Tab. 1). Folgende Fragen können geklärt werden: ■ Was wird individuell als Stressor erlebt? ■ Welche Stärken und Strategien stehen zur Verfügung, um mit Stressoren, wie z. B. Zeitbzw. Leistungsdruck, Überforderungssituationen oder Konkurrenz, umzugehen? ■ Mit welchem Verhalten reagieren die Einzelnen auf Stresssituationen? Welche Möglichkeiten der Reaktion existieren darüber hinaus und können genutzt werden? ■ Welche Einstellungen, Verhaltensnormen oder Handlungsmotive verschärfen die Stresssituation und erschweren deren Bewältigung? Welche Vor- und Nachteile beinhalten diese für die einzelne Ebenen des Stressgeschehens (nach Kaluza 2018) Psychomotorischer Erfahrungsraum Ebene-- Stressoren: Physiologische Stressoren: Lärm, Raumklima, Nässe, Vibration etc. Körperliche Stressoren: Sensomotorische Einschränkungen, Verletzungen, Schmerzen, Behinderung, Erkrankung Leistungsstressoren: Zeitdruck, Überforderung (qualitativ/ quantitativ), Prüfungen Soziale Stressoren: Konkurrenz, Isolation, Konflikte, Trennung, Verlust, (mangelnde) Anerkennung und Wertschätzung etc. Ebene-- Stressreaktionen: Körperliche Stressreaktionen: Schwitzen, Tonuserhöhung, Steigerung der Herzfrequenz, Beschleunigung der Atmung, Erhöhung der Schmerztoleranz etc. Behaviorale Stressreaktionen: Hastiges und unkoordiniertes Verhalten, Betäubungsverhalten, Arbeitssucht, konfliktreicher Umgang mit Menschen, etc. Emotional-kognitive Stressreaktionen: Gefühle der Unruhe, der Nervosität, des Ärgers oder-der Hilflosigkeit, Versagensängste, Selbstvorwürfe, kreisende Gedanken, Denkblockaden, Tunnelblick, etc. Ebene-- Stressverstärker: Individuelle Sollwerte, Verhaltensnormen, Handlungsmotive, Einstellungen, wie z. B. Einzelkämpfertum, Perfektionismus etc. Zielperspektive: ■ Identifikation von persönlichen Ressourcen und Stressoren ■ Bewusstwerden und Umdeutung von stressverstärkenden Einstellungen, Motiven, Bewertungen ■ Wahrnehmung von persönlichen Stressreaktionen und Entwickeln von Möglichkeiten zur Einflussnahme ■ Entwicklung von Handlungsstrategien im Umgang mit Belastungen ■ Erkennen von Ressourcen bei der Bewältigung von Belastungen Umsetzung: Gestaltung von psychomotorischen Erfahrungsräumen zur … ■ … Bewusstwerdung von physiologisch-körperlichen, sozialen Ressourcen und Stressoren ■ … Bewusstwerdung von individuellen Stressreaktionen und Entwicklung von Möglichkeiten zur Beeinflussung ■ … Bewusstwerdung und Umdeutung von Einstellungen, Motiven, Bewertungen in Belastungssituationen ■ Gestaltung von persönlichen, konkreten Stresssituationen zur Erfahrung, Bewusstwerdung und Bewältigung individueller Stressoren, Stressreaktionen und stressverstärkenden Einstellungen Mögliche Bewegungsthemen: ■ Erfahren von Stärken und Schwächen der Handlungskompetenzen im-Umgang mit Belastungen ■ Erfahren von Möglichkeiten im Umgang mit Zeitdruck, hohen quantitativen oder qualitativen Herausforderungen ■ Handlungsorientierte Auseinandersetzung mit sozialen Ressourcen und Stressoren, z. B. Konkurrenz, Anerkennung, Wertschätzung, Nähe, Geborgenheit ■ Wahrnehmung von psychomotorischen Stressreaktionen und Entwicklung von Strategien zur Beeinflussung, z. B. individuelle Wege-zum Spannungsabbau, zur Beruhigung der Atmung ■ Wahrnehmung und Reflexion stressverschärfender Denkmuster und-Erprobung neuer Handlungsmöglichkeiten und Denkmuster Tab. 1: Psychomotorischer Erfahrungsraum zum Umgang mit Stress [ 61 ] Haas • Eine psychomotorische Annäherung an-das Thema »Stress« 2 | 2021 [ 61 ] Haas • Eine psychomotorische Annäherung an-das Thema »Stress« 2 | 2021 Person? Können Einstellungen gewonnen werden, die als stärkend erlebt werden? ■ Welche internen oder externen Ressourcen unterstützen im Umgang mit Stressoren und Stressreaktionen? ■ Welche psychomotorischen Strategien können zu Distanzierung beitragen und Erholung fördern? Aufgrund der Individualität von Stresserleben kann es sinnvoll sein, im psychomotorischen Setting Situationen, die von Einzelnen als stressbesetzt und konflikthaft erlebt wurden, erfahrungs- und handlungsorientiert zu rekonstruieren, mit dem Ziel, diese neu gestalten zu können. Die Reflexion der Erfahrungen erweist sich als sehr bedeutsam, um neue oder alternative Handlungsmöglichkeiten mit Stressoren, Stressreaktionen und stressverstärkenden Einstellungen, Motiven und Bewertungen entwickeln zu können. Die psychomotorische Vorgehensweise sollte erfahrungs- und handlungsorientiert gestaltet und reflektiert werden (Haas 2014, 36). Bei tiefer liegenden Problemkonstellationen, wie z. B. Traumaerfahrungen in der Vorgeschichte, muss abgeklärt werden, ob ein psychotherapeutischer Zugang zu empfehlen ist (siehe Beitrag von Bernd Glauninger in diesem Heft). Der Respekt vor dem individuellen Erleben des einzelnen Menschen in Belastungssituationen und die Stärkung der persönlichen Ressourcen sollte handlungsleitend sein. Literatur Bauer, J. (2015): Das Gedächtnis des Körpers: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Piper, München Brand, S. (2018): Schlaf, körperliche Aktivität und Stress. In: Fuchs, R., Gerber, M. (Hrsg.): Handbuch Stressregulation und Sport. Springer, Berlin / Heidelberg, 293-310, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 662-49322-9_12 Deiseroth, A., Hanssen, H. (2018): Körperliche Aktivität, Stress und arterielle Gefäßsteifigkeit. In: Fuchs, R., Gerber, M. (Hrsg.): Handbuch Stressregulation und Sport. Springer, Berlin / Heidelberg, 325-342, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-49322-9_14 Fuchs, R., Klaperski, S. (2018): Stressregulation durch Sport. In: Fuchs, R., Gerber, M. (Hrsg.): Handbuch Stressregulation und Sport. Springer, Berlin / Heidelberg, 205-226, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 662-49322-9_9 Gerber, M., Fuchs, R. (2020): Stressregulation durch Sport und Bewegung. Springer, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-29680-3 Gerber M., Fuchs R. (2018): Stressregulation und Sport: Ein Überblick zum Stand der Forschung. In: Fuchs R., Gerber M. (Hrgs.): Handbuch Stressregulation und Sport. Springer, Berlin/ Heidelberg, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-662-49322-9_26 Haas, R. (2014): Methodische Hinweise. In: Haas, R., Golmert, C., Kühn, C.: Psychomotorische Gesundheitsförderung in der Praxis. Spiel- und Dialogräume für Erwachsene. Hofmann, Schorndorf, 35-54 Hüther, G. (2018): Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Kaluza, G. (2018): Stressbewältigung. Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung. 4. Aufl. Springer, Berlin / Heidelberg, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-662-55638-2 Klaperski, S. (2018): Exercise, stress, and health: The stress-buffering effect of exercise. In: Fuchs, R., Gerber, H. (Hrsg.): Handbuch Stressregulation und Sport. Springer, Berlin / Heidelberg, 227-249, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-49322-9_8 Krohne, H. W. (2017): Stress und Stressbewältigung bei Operationen. Springer, Berlin / Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-53000-9 Lazarus, R. S. (1999): Stress and Emotion. Springer, Wiesbaden Ludyga, S. (2018): Sportaktivität, Stress und das Gehirn. In: Fuchs, R., Gerber, M. (Hrsg.): Handbuch Stressregulation und Sport. Springer, Berlin / Heidelberg, 275-292, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 662-49322-9_11 Schaper, N. (2019): Wirkungen der Arbeit. In: Nerdinger, F. W., Blickle, G., Schaper, N. (Hrsg.): Arbeits- und Organisationspsychologie. 4. Aufl. Springer, Berlin, 574-598, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 662-56666-4_28 Selye, H. (1976): Stress in Health and Disease. Butterworth, Boston / Massachusetts USDHHS-- U. S. Department of Health and Human Services (1996): Physical activity and health. Centers for Disease Control, Washington Die Autorin Prof.in Dr. Ruth Haas Professur für Körper- und Bewegungstherapie an der Hochschule Emden-Leer im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Studiengangsentwicklung und -leitung des Bachelorstudiengangs »Interdisziplinäre Physiotherapie-Motologie-Ergotherapie« Anschrift Hochschule Emden-Leer Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit Constantiaplatz 4 D-26725 Emden ruth.haas@hs-emden-leer.de