eJournals motorik 44/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Psychomotorische Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrung

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2021
Uschi Germer
Kinder, die nach Flucht und traumatisierenden Erlebnissen seit 2015 in Deutschland angekommen sind, leben oft weiterhin in belastenden Situationen mit unsicherer Lebensperspektive. Offene psychomotorische oder kreative Angebote können sie in ihrer speziellen Lebenslage wahrnehmen, Sicherheit vermitteln und helfen, Ressourcen zu erkennen und Resilienz zu fördern. Dieser Beitrag stellt theoretische Hintergründe für ressourcenorientiertes Arbeiten mit geflüchteten und traumatisierten Kindern vor sowie darauf basierende, in der Praxis durchgeführte niedrigschwellige Angebote mit psychomotorischen und kreativen Instrumenten. Schlüsselbegriffe: Trauma, Flucht, Sicherheit, Resilienz, Ressourcen, psychomotorische Prinzipien
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Zusammenfassung / Abstract Kinder, die nach Flucht und traumatisierenden Erlebnissen seit 2015 in Deutschland angekommen sind, leben oft weiterhin in belastenden Situationen mit unsicherer Lebensperspektive. Offene psychomotorische oder kreative Angebote können sie in ihrer speziellen Lebenslage wahrnehmen, Sicherheit vermitteln und helfen, Ressourcen zu erkennen und Resilienz zu fördern. Dieser Beitrag stellt theoretische Hintergründe für ressourcenorientiertes Arbeiten mit geflüchteten und traumatisierten Kindern vor sowie darauf basierende, in der Praxis durchgeführte niedrigschwellige Angebote mit psychomotorischen und kreativen Instrumenten. Schlüsselbegriffe: Trauma, Flucht, Sicherheit, Resilienz, Ressourcen, psychomotorische Prinzipien Psychomotor interventions for refugee children Children, who came to Germany as refugees and with a history of potentially traumatic experiences are often still living in challenging situations with an uncertain perspective. Easy-access psychomotor and creativity activities can help to acknowledge their special life situation, to support feelings of stability, to make resources visible and to strengthen resilience. This article provides theoretical principles of resourcefocused work with traumatized refugee children and possible psychomotor and creative low-threshold interventions, used in practice. Key words: trauma, flight, safety, resilience, resources, psychomotor principles [ 69 ] motorik, 44. Jg., 69-75, DOI 10.2378 / mot2021.art13d © Ernst Reinhardt Verlag 2 | 2021 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Psychomotorische Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrung Uschi Germer Die Lebenslagen von Kindern mit Fluchthintergrund haben sich in den letzten Jahren verändert. Es scheint in Deutschland der Eindruck entstanden zu sein, dass die meisten Integrationsaufgaben gelungen und abgeschlossen sind. Seit 2015 sind weltweit vermehrt Kinder geflüchtet und nach Deutschland gekommen, Asylgesuche gab es vorrangig aus Syrien, Irak, Afghanistan sowie aus den afrikanischen Ländern Nigeria, Eritrea und Somalia (BAMF 2020). Diese Kinder und Familien benötigen weiterhin gezielte und umfangreiche Unterstützung bei der Integration, denn Integration ist ein lebenslanger Prozess, der in Phasen verläuft, die u. a. mit Kulturschock und Furcht vor Identitätsverlust verbunden sind. Die Kinder treffen mit ihren geflüchteten Familien auf eine neu zu erfassende Umgebung. Sprachliche Barrieren, verwirrende Verhaltensweisen der hiesigen Bevölkerung und die eigene ethnische Zugehörigkeit prägen den Umgang mit dem Alltag (Wiesinger 2018). Sie bringen neben vielfältigen Erfahrungen aus der Heimat auch auf der Flucht erlebte traumatisierende Ereignisse als Belastung mit. Traumatisierung im Kontext von-Fluchterfahrungen »Nicht jedes Flüchtlingskind ist traumatisiert, aber geschätzt immerhin jedes vierte Kind, das mit Erwachsenen auf der Flucht ist. […] Erfahrungsgemäß sind jedoch viele Eltern von Flüchtlingskindern traumatisiert durch Ereignisse, die sich vor oder auf der Flucht ereignet haben« (Hendrich 2016, 33). Es ist zu vermuten, dass Kinder, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, vielfältigen Erfahrungen von Gewalt ausgesetzt waren. [ 70 ] 2 | 2021 Forum Psychomotorik Aus einem traumatischen Erlebnis wird nicht zwingend ein Trauma, viel hängt davon ab, wie ein Ereignis erlebt und verarbeitet wird. Wenn das Ereignis über längere Zeit nicht verarbeitet werden kann, dann entsteht ein Trauma (Hantke / Görges 2012, 53ff ). »Die Welt bleibt bei einer Traumatisierung in Teilen des Gefühls der betroffenen Menschen stillstehen« (Krüger 2017, 24). Das Gehirn schaltet auf ein Notfallprogramm um, das uns helfen soll, in lebensbedrohlichen Situationen zu überleben. Wenn ein Kind durch Trigger an das traumatisierende Ereignis erinnert wird, gelangt es quasi in diesen Schockzustand zurück (Krüger 2017, 25). Im Kleinkind- und Kita-Alter zeigen sich Traumata an Reaktionsmustern wie übermäßiger Angst vor Trennung von den Eltern oder ungehemmtem Bewegungsdrang; Kinder fallen in alte oder unreife Verhaltensmuster zurück; sie nässen wieder ein oder entwickeln Ängste im Dunkeln, schlafen schlecht, haben Albträume oder Konzentrationsprobleme. Möglicherweise sind Spielsequenzen mit Re- und Neuinszenierungen traumatischer Szenen zu beobachten. Vielfältige Verhaltensweisen oder körperliche Beschwerden können als Anzeichen interpretiert werden (Hendrich 2016, 38). Eine häufige Trauma-Reaktion ist die Dissoziation. Dabei werden als Überlebensstrategie in unerträglichen Situationen die Körperempfindungen abgespalten. Ereignisse können später nur fragmentiert oder gar nicht ins Bewusstsein gerufen werden, es kann keine zusammenhängende Geschichte über das Ereignis erzählt werden. Wenn dies als funktionierende Bewältigungsstrategie erkannt wird, kann es sich verfestigen (Volmer 2013, 14). Theoretisches Trauma-Wissen kann, nach Erfahrung der Verfasserin dieses Beitrages, Fachkräften helfen, verständnisvoll auf Verhaltensweisen der Kinder zu reagieren, die durch Traumatisierungen geprägt sein können. Dabei ist es für Fachkräfte wichtig, ihre Authentizität nicht zu verlieren und mit Offenheit und Neugier den möglichen Herausforderungen zu begegnen. Das Wissen um Traumata sollte niedrigschwellige Unterstützung der Kinder nicht verhindern, sondern vor allem sensibilisieren. Dabei können grundlegende Prinzipien der psychomotorischen Begleitung helfen, eine angemessene Haltung zu finden. Nach Zimmer steht im Zentrum der psychomotorischen Förderung das spielerisch-freudvolle Sich-Bewegen. Förderliche psychomotorische Prinzipien sind dabei u. a. die eigene Entscheidung zur Teilnahme, dass Handlungsimpulse von den Kindern kommen und diese auf die Gestaltung von Spielsituationen Einfluss ausüben können. »Das Kind sollte unabhängig von der Bewertung durch andere Befriedigung aus der eigenen Tätigkeit gewinnen« (Zimmer 2012, 142). Sicherheit und Ressourcen fördern Resilienz Nach eigener Erfahrung in der Arbeit mit der Zielgruppe können niedrigschwellige psychomotorische Angebote keine Traumatherapie ersetzen, aber auf Basis psychomotorischer Prinzipien Ressourcen aktivieren. Auf dem Weg zur inneren Sicherheit und Resilienz spielt das Erkennen der eigenen Ressourcen eine wichtige Rolle. Ressourcen können all das sein, woraus der Mensch Kraft ziehen kann: Biologische Ressour- Zur Einordnung des Begriffes Trauma hier folgende Definition: Für Fischer und Riedesser (2009, 74) bedeutet ein psychisches Trauma »ein vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt«. Resilienz bezeichnet »die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken« (Wustmann-Seiler 2016, 18). [ 71 ] Germer • Psychomotorische Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrung 2 | 2021 [ 71 ] Germer • Psychomotorische Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrung 2 | 2021 cen und Fähigkeiten unseres Körpers; Individualressourcen wie der Umgang mit Gefühlen, Leistungsfähigkeit, Autonomie und Lebensfreude; Systemressourcen wie stärkende Beziehungen durch Familie und Freunde, die Halt, Sicherheit und Geborgenheit geben (Imm-Bazlen / Schmieg 2017, 136). »Jedes Kind hat eigene, einmalige Fähigkeiten und Ressourcen, selbst wenn im Moment die Schwierigkeiten im Vordergrund stehen. Flüchtlingskinder haben schwere Zeiten erlebt- - und überstanden. Sie haben dabei ganz eigene Ressourcen entwickelt und Resilienz ausgebildet. Diese kraftvolle Seite der Kinder gilt es zu betonen, ohne dabei die Bedürfnisse außer Acht zu lassen« (Hendrich 2016, 53). Für geflüchtete Kinder kann die Verbundenheit in der (Groß-)Familie und ein enges Verhältnis zu in der Nähe lebenden Verwandten eine wichtige Ressource sein. Psychomotorische Förderangebote für geflüchtete Kinder können zusätzlich als Schutzfaktor dienen, indem diese Rituale, einen festen Rahmen und stabile Beziehungsangebote anbieten und das Gefühl von Sicherheit fördern. Bedeutung der vorhandenen Ressourcen sichtbar machen Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es wichtig, dass die geflüchteten Kinder in den psychomotorischen Angeboten Ressourcen wahrnehmen und erleben. Mit einer Haltung der Offenheit und Wertschätzung können die Kinder gestärkt werden, wenn der professionelle Fokus von Fragen und Gesprächen nicht so sehr auf den durchlittenen Situationen liegt, sondern darauf, mit welchen Ressourcen die Gefahren bewältigt wurden. Fragen können sein: Was hast du gemacht? Hat dir jemand geholfen? Was kannst du richtig gut, worauf bist du stolz? Gibt es Dinge, die dich besonders interessieren oder dich glücklich machen? (Hendrich 2016, 54). Ebenso stärkt es die Ressourcen der Kinder, wenn sie von der Familie berichten können, von dem Land, aus dem sie kommen, wenn sie ihre eigenen Kompetenzen würdigen können, weil sie auf ihrem Weg schon viel erlebt und geleistet haben, und wenn sie kleine Aufgaben und Verantwortung übernehmen können, besonders wenn sie im Spiel danach fragen (Hendrich 2016, 54). Kreativität kann hier Brücken der Kommunikation bilden, in dem die Kinder sich mit ihrer Lebenswelt auseinandersetzen und sich positiver Aspekte ihrer gegenwärtigen, neuen Situation bewusst werden. Wo wir den Kindern respektvoll und ohne Bewertung begegnen, erleben wir in der professionellen Arbeit zusätzlich auch Wertschätzung für das, was wir selbst als Fachkräfte an Ressourcen mitbringen. Settings der Förderung in der Praxis Um die Kinder erfolgreich fördern zu können, bietet es sich an, sie in außerschulischen Angeboten im Alltagskontext zu erreichen. Entscheidend für die Partizipation ist, dass die Kinder ohne aktives Engagement der Eltern teilnehmen können und Angebote sprachlich verständlich sind. Gleichzeitig ist wichtig, dass die Eltern die Teilnahme befürworten und für sie kein zeitlicher und finanzieller Aufwand entsteht und dass ihre Kinder diese als positiv erleben. Deshalb werden die hier beschriebenen Angebote in der schulischen Nachmittagsbetreuung durchgeführt oder in Flüchtlings-Unterkünften und Nachbarschaftstreffs, die in unmittelbarer Nähe der Kinder niedrigschwellig erreichbar sind. Niedrigschwelligkeit ist als voraussetzungslos im Zugang zu verstehen. Die Kinder nehmen freiwillig teil, Angebote sind an ihrer Lebenswelt orientiert und ohne besondere Anstrengungen für die Kinder erreichbar (Tietz et al. 2013, 8ff ). Derart zugängliche Bewegungsaktivitäten und Spielzeiten können die Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung stärken, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen fördern und durch Vorhersehbarkeit einen wertvollen Beitrag zu einem wachsenden Gefühl von Sicherheit leisten. Psychomotorische Förderangebote können in einem festen Rahmen das Gefühl von Sicherheit fördern. [ 72 ] 2 | 2021 Forum Psychomotorik Die beschriebene Förderung findet im Rahmen von Gruppenangeboten der offenen aufsuchenden Kinder- und Jugendarbeit statt, nicht in diagnostischen Settings, welche z. B. auch eine Traumatherapie ermöglichen würden. Rahmenbedingungen werden durch Schulen, Unterkunftsmanagement, Sportvereine oder andere Institutionen vorgegeben. Seitens dieser Institutionen besteht ein wahrnehmbares Interesse, Kinder in ihren Lebenswelten zu stärken und das eröffnet viel Gestaltungsspielraum, Akzeptanz und Fördermöglichkeiten für derartige Angebote. Ressourcen erleben und stärken »Oft geht es mit Kindern einfach darum, die Ressourcen direkt zu erleben. Kinder finden ihre Ressourcen in Spiel und Aktivität, dafür gilt es, Spiele zu finden. […] Wenn Kinder im Spiel oder beim Malen ihre traumatischen Erfahrungen inszenieren oder festhalten, können Sie sie darum bitten, dass sie spielen oder malen (Abb.-1), wie sie es gerne hätten oder wie sie es sich gewünscht hätten« (Hantke / Görges 2012, 379). Eine Ressourcen-Übung: Es kann Kindern mit traumatischen Erfahrungen helfen, ein ressourcenorientiertes Tagebuch zu führen. Dabei geht es nicht um Aufschreiben. Stattdessen werden kleine gesammelte Gegenstände aus der Natur in der einen Hosentasche aufbewahrt, die andere bleibt zunächst leer. Es können zwei kleine Beutel sein, einer gefüllt mit Nüssen, Steinen, Tannenzapfen. Bei jedem angenehmen guten Erlebnis am Tag wird ein Gegenstand von der einen Tasche in die andere verstaut und so sammeln sich auf einer Seite die guten Erlebnisse als Ressourcen in Form von fühlbaren kleinen Dingen, die im Jetzt und Hier konkret fühlbar sind (Hantke / Görges 2012, 393). Diese Übung kann auch allgemein zur Stärkung von Kindern in einem Gruppenspiel vorgestellt werden, in dem es einen Moment der Ruhe für die Kinder gibt, die dann individuell für sich selbst kleine Gegenstände- - am besten in der Natur oder im Garten-- sammeln und mit nach Hause nehmen. Gegenstände lassen sich in diesem Zusammenhang auch gezielt passend zu kulturellen Vorlieben finden, oder abhängig davon, was das Kind in seiner neuen Umgebung findet (gesammelt wie in Abb. 2). Sie geben dem Kind so die Möglichkeit, ein »neues Stück Heimat« zu finden und es in sein Leben zu integrieren und wertzuschätzen. Resilienz wahrnehmen und stärken Kinder mit Fluchthintergrund verfügen oft über eine erstaunlich erscheinende Resilienz, geprägt von den Bedingungen, unter denen sie aufwachsen. Sie bringen die Erfahrung mit, auf der Straße in altersgemischten Gruppen und mit ihren Geschwistern gemeinsam zu spielen. Spiele, die das gemeinsame Erleben mit den Geschwisterkindern ermöglichen, werden von den Kindern direkt und selbstverständlich angenommen. Ein Beispiel: Im Innenhof einer Unterkunft werden Biertische aufgebaut und eine lange Leinwand darübergelegt. Die Kinder beschäftigen sich zuerst am Schwungtuch thematisch mit Fischen und Pflanzen im Wasser und erleben sich dabei als Fische, die sich verschiedentlich auf oder unter dem Schwungtuch bewegen. Wichtig ist hierbei, das Spiel unter dem Schwungtuch genau zu beobachten und bei eventuell deutlich werdenden Ängsten sofort zu ändern. Die Kinder malen danach stehend an den Tischen und mit Fingerfarben ein gemeinsames Bild. Hier helfen sich die Geschwister und Freunde gegenseitig. Kooperationsmöglichkei- Abb. 1: Gemeinsam malen am Stehtisch im Hof [ 73 ] Germer • Psychomotorische Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrung 2 | 2021 [ 73 ] Germer • Psychomotorische Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrung 2 | 2021 ten und Bewegungsraum sind je nach Bedarf ausreichend vorhanden, einzelne Kinder vertiefen sich in ausgiebig gestaltete Motive, andere malen großflächig oder gemeinsam an einem Motiv (Abb. 3). Zum Abschluss wird das gemeinsame Bild gewürdigt und nach Möglichkeit aufgehängt, so dass es auch von den Familien gesehen werden kann. Kommunikation ohne Sprache ermöglichen Spiel beinhaltet Kommunikation durch Bewegung und auch in Kombination mit Malen oder Gestalten ergibt sich Dialog. »Ein Großteil dieses Dialogs findet unbewusst und vor jeder Sprache statt. Er wird vermittelt über Spannungszustände im Körper, über Berührungen, über Atmung, über die Körperhaltung, über Blickkontakt und über Stimme« (Jessel 2015, 118). Gemeinsame spielerische Bewegung und Phasen der kreativen Arbeit schaffen Gelegenheiten, Lebenssituationen zu üben. Kommunikation findet dabei auf Ebene verschiedener Sinneserfahrungen statt. Die Kinder können sich mit ihrem Körper, ihren Erfahrungen, ihren Ideen einbringen. Sprache dagegen entscheidet nicht, ob sie mitspielen können oder welche Rolle sie im Spiel einnehmen. Innerhalb einer Unterkunft kommt es so zu Kontakt zwischen Kindern verschiedener Nationen, die sonst eventuell Abstand halten und sich bei der Wahl ihrer SpielgefährtInnen an ethnischer Gruppenzugehörigkeit und den Vorlieben der Eltern orientieren würden. Raum geben für Bewegungsbedürfnisse Einfache Spiele, die wenig Erklärung benötigen, sind hilfreich, wenn unklar ist, wie gut die Kinder Deutsch sprechen. Gemeinsame Bewegung ist die Brücke, um zusammen zu spielen. Je einfacher ein Spiel oder Material zu Bewegung auffordert, desto mehr Aussicht auf Erfolg hat es, die ganze Gruppe in das Spiel zu integrieren. Verschiedene Bälle ermöglichen vielfältige Materialerfahrung für altersgemischte Gruppen. Unterschiedlich große, weiche oder harte Bälle laden zu verschiedenen Wurf- und Fangerfahrungen ein. Spannend sind auch Luftballons, die mit Fliegenklatschen geschlagen werden und unerwartet reagieren. Fangspiele mit einfachen bis steigend komplexeren Bedingungen eignen sich gerade zu Anfang einer Stunde, um gemeinsam ins Spielen zu kommen. Dabei haben die Kinder oft eigene Ideen für neue Regeln des Spiels. Raum geben für Aggression und Kraft-- und dann für Stille und Sich-spüren Bewegung im Spiel kann in Gruppen von geflüchteten Kindern aus verschiedenen Ländern, die in einer Unterkunft leben und ihre aktuelle Lebenssituation bzw. Spannungen in der Unterkunft in Spielsituationen hineintragen, schnell in Spiele mit erheblicher Entladung von Aggression umschlagen. Spiele mit Gewinnern und Ver- Abb. 2: Ein Korb voller gesammelter Gegenstände in einer Erstaufnahme Abb. 3: Bild mit Fischen im Hof einer Folgeunterkunft [ 74 ] 2 | 2021 Forum Psychomotorik lierern können so ungewollt eskalieren. Spiele, in denen Aggression eher durch Kraft und mit ungefährlichen Gegenständen ausgelebt werden kann, können dagegen auch spannend sein. Ein Beispiel: Das Laufen durch aufgespannte Zeitungsseiten. Die Zeitung scheint eine Mauer zu sein, die das Kind mit lautem Schreien oder großer Kraft überwinden muss. Dann aber ist es ganz leicht, die Freude groß und man will das immer wiederholen. Die Zeitung bietet keinen Kampf, kein Ausüben der Aggression »am Gegner«, und so richtet sich der Fokus automatisch auf das eigene Erleben, das Sich-spüren, das Sich-etwas-trauen. Das Spiel eignet sich auch für Kinder, die oft leise sind und jetzt erleben, wie mutig es sich anfühlen kann, einmal richtig laut zu werden. Auch Tauziehen eignet sich, um Kraft im Spiel einzusetzen. Die Regeln sind einfach zu vermitteln, wenn die Fachkräfte mitmachen. Die gegnerischen Mannschaften sind nicht im Körperkontakt, der Wettkampf findet in Bezug auf die Gruppe statt und ist mit dem Gefühl verbunden: »Wir gehören zusammen, wir ziehen an einem Strang«. Das Schwungtuch ermöglicht ebenfalls viel Bewegung und Spaß (Abb. 4). Es bietet danach zusätzlich Gelegenheit, als Gegensatz Stille zu erleben, z. B. wenn Kinder mit anderen Kindern im Gras auf dem Boden liegen, das Schwungtuch auf sie herabfällt und alle für einen Moment unter dem Tuch verschwunden sind. Der durch das Schwungtuch erzeugte Wind fließt über die Körper, die Ruhe ist leiblich zu spüren. Ein ganz leiser Moment des Innehaltens (Abb. 5) entsteht. Fazit Die Herausforderungen in der Arbeit mit geflüchteten Kindern sind im Kontext der Fluchterfahrungen komplex. Gerade die Psychomotorik bietet hier mit ihren Prinzipien vielfältige Fördermöglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung. Ressourcen zu erkennen und zu erleben, unterstützt die Entwicklung der Resilienz der Kinder. Ihrer individuellen Entwicklung und Bedürfnissen mit Offenheit und ohne Bewertung zu begegnen, öffnet im neuen Lebensumfeld Chancen für die Kinder. Fachkräfte können so eine entspannte, vertrauensfördernde Atmosphäre schaffen und den Kindern kreative und Bewegungsangebote machen, die sie in ihrer Entwicklung unterstützen. Eigene Ressourcen zu stärken, hilft allen Menschen, und besonders den geflüchteten Kindern. Entwicklung findet nicht von heute auf morgen statt, jedes Angebot an die Kinder kann nur ein Steinchen in einem Mosaik sein. Wenn die Kinder und ihre Familien in diesen Angeboten Vorhersehbarkeit und Sicherheit erleben und wenn Kommunikation in neuen Beziehungen und Bezugssystemen wiederholt im Spiel gelingt, dann wird auch Integration im Alltag gefördert. Kinder in herausfordernden Lebenssituationen nachhaltig zu stärken, ist eine Langzeitaufgabe, die wünschenswerterweise in der Verstetigung von bisher modellhaften Angeboten mündet, so dass die Kinder eine fortlaufende Unterstützung erhalten. Die Relevanz die- Abb. 4: Das Schwungtuch fordert zu Bewegung auf Abb. 5: Moment des Innehaltens unter dem Tuch [ 75 ] Germer • Psychomotorische Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrung 2 | 2021 [ 75 ] Germer • Psychomotorische Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrung 2 | 2021 ser niedrigschwelligen Angebote hat auch über 2020 hinaus nichts von ihrer Bedeutung verloren. Nur wenn die Kinder mit ihren Bedürfnissen und Ressourcen wahrgenommen und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig gestärkt werden, kann Integration gelingen. Literatur BAMF- - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2020): Aktuelle Zahlen (Juli 2020). In: https: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Statistik/ AsylinZahlen/ aktuelle-zahlen-juli-2020.html; jses sionid=34C9422631D55BF505B23CE052FBB401. internet551, 23.08.2020 Fischer G., Riedesser, P. (2009): Lehrbuch der Psychotraumatologie. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Hantke, L., Görges, H.-J. (2012): Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Junfermann, Paderborn Hendrich, A. (2016): Kinder mit Migrations- und Fluchterfahrungen in der Kita. Ernst Reinhardt, München / Basel Imm-Bazlen, U., Schmieg, A.-K. (2017): Begleitung von Flüchtlingen mit traumatischen Erfahrungen. Springer, Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978- 3-662-49561-2 Jessel, H. (2015): (Zwischen-)Leiblichkeit und Resonanz als Schlüssel gelingender Entwicklungsbedingungen. In: Hunger, I., Zimmer, R. (Hrsg.): Bewegungschancen bilden. Hofmann, Schorndorf, 116-119 Krüger, A. (2017): Erste Hilfe für traumatisierte Kinder. Patmos, Ostfildern Tietz, D., Gross, E., Häcker, J., Hörnig, J., Spielmann, R. (2013): ABC der Grundbegriffe Niedrigschwelliger Sozialer Arbeit. Berlin: Alice Salomon Hochschule. Reader Projektseminar (2011-13). In: https: / / www. ash-berlin.eu/ fileadmin/ Daten/ _userHome/ 65_ gerulls/ abc_grundbegriffe_niedrigschwellige_ soziale_arbeit.pdf, 23.08.2020 Volmer, J. (2013): Bewegt ins Gleichgewicht. Misshandelte und missbrauchte Jungen in psychomotorischer Therapie. Ernst Reinhardt, München / Basel Wiesinger (2019): Integration und Identitätsbildung junger Geflüchteter in der Jugendhilfe (2018). In: https: / / b-umf.de/ src/ wp-content/ uploads/ 2019/ 03/ wiesinger_jamt-2018_426.pdf, 23.08.2020 Wustmann-Seiler, C. (2016): Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Beltz, Weinheim Zimmer, R. (2012): Handbuch Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Herder, Freiburg i. B. Die Autorin Uschi Germer Heilpraktikerin für Psychotherapie (HeilprG), kultursensitive Gesprächstherapie/ systemisches Coaching, Qigong Trainerin, Psychomotorikerin und Dozentin dakp, Leitung KRASS vor Ort Hamburg (kreative Bewegungsangebote für geflüchtete/ sozial benachteiligte Kinder) Anschrift KRASS vor Ort Hamburg, KRASS e. V. Beselerplatz 11 D-22607 Hamburg u.germer@krass-ev.de