motorik
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelles Stichwort: Aktionsraumqualität
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Christiane Richard-Elsner
Kinder, die draußen spielen, erforschen ihre Umgebung, verhandeln mit anderen Kindern über Spielverläufe, probieren sich aus und schieben die Grenzen dessen, was sie können und was sie sich trauen, ständig hinaus. Viele Kinder haben nur sehr wenig Gelegenheit dazu, draußen zu spielen (Richard-Elsner 2017). Das trägt entscheidend dazu bei, dass die meisten Kinder in westlichen Ländern, so auch in Deutschland, sich viel zu wenig bewegen (Finger et al. 2018). Ein wesentlicher Grund dafür sind fehlende oder ungeeignete Freiräume. Geeignete Freiräume bezeichnete Blinkert (1996, 8) als Aktionsräume und definierte folgende vier Kriterien: der Raum muss für Kinder zugänglich sein, der Raum muss frei von Gefahren sein, es muss sich um ein gefahrloses Territorium handeln, der Raum muss gestaltbar sein, für diesen Raum muss eine Chance bestehen, Spielkameraden anzutreffen.
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[ 182 ] 4 | 2021 motorik, 44. Jg., 182-184, DOI 10.2378 / mot2021.art33d © Ernst Reinhardt Verlag [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Aktuelles Stichwort: Aktionsraumqualität Christiane Richard-Elsner oder verkehrstechnische Barrieren können die Zugänglichkeit eines Spielraums beschränken. So können Verbote, eine zu große Entfernung oder eine verkehrsreiche Straße den Zugang zu einem Territorium verstellen, das somit als Aktionsraum wegfällt. Die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können, trägt wesentlich dazu bei, die Angebote, die der Raum machen kann, auch zu realisieren. Ein entscheidender Einflussfaktor ist das Ausmaß an Verkehr beziehungsweise verkehrsberuhigenden Maßnahmen im Wohnviertel. Weiterhin spielt es eine Rolle, welche Sicht Eltern und die Nachbarschaft auf unabhängige Mobilität von Kindern haben (Blinkert 1996, 10ff ). Gefahrlosigkeit Als Gefahr für kindliches Spiel gilt zum einen der Autoverkehr. Zum anderen können Konflikte mit anderen Personengruppen das Kinderspiel einschränken. So können Grünflächen durch Personen mit problematischem Suchtverhalten oder durch Hundehalter okkupiert werden. Kinderspiel kann aber auch als inakzeptabel aufgefasst werden, wenn die Schädigung von Bepflanzungen oder von parkenden Autos befürchtet wird oder aufgrund von Unwillen, Kinderlärm zu akzeptieren. Wann eine Fläche als gefahrlos an- Kinder, die draußen spielen, erforschen ihre Umgebung, verhandeln mit anderen Kindern über Spielverläufe, probieren sich aus und schieben die Grenzen dessen, was sie können und was sie sich trauen, ständig hinaus. Viele Kinder haben nur sehr wenig Gelegenheit dazu, draußen zu spielen (Richard-Elsner 2017). Das trägt entscheidend dazu bei, dass die meisten Kinder in westlichen Ländern, so auch in Deutschland, sich viel zu wenig bewegen (Finger et al. 2018). Ein wesentlicher Grund dafür sind fehlende oder ungeeignete Freiräume. Geeignete Freiräume bezeichnete Blinkert (1996, 8) als Aktionsräume und definierte folgende vier Kriterien: 1. der Raum muss für Kinder zugänglich sein, 2. der Raum muss frei von Gefahren sein, es muss sich um ein gefahrloses Territorium handeln, 3. der Raum muss gestaltbar sein, 4. für diesen Raum muss eine Chance bestehen, Spielkameraden anzutreffen. Aktionsraum Zugänglichkeit Kinder müssen den Freiraum aus eigener Kraft und unbegleitet zu Fuß, mit dem Rad oder dem Roller erreichen können. Soziale, räumliche [ 183 ] Richard-Elsner • Aktuelles Stichwort: Aktionsraumqualität 4 | 2021 gesehen wird, hängt unter anderem vom Alter und Entwicklungsstand der Kinder ab (Blinkert 1996, 53ff; Blinkert/ Höfflin 2015, 47ff; Richard- Elsner 2017, 74ff ). Gestaltbarkeit Der Angebotscharakter eines Raums ist abhängig davon, wie viele Nutzungsarten auf einer Fläche möglich sind. Sie kann genutzt werden zum Bewegen mit oder ohne Fahrzeuge, für Bewegungsspiele in Gruppen oder zum Bauen von Strukturen oder für Rollenspiele (Kyttä 2004, 185). Kinderspiel bedeutet damit in vielen Fällen, Dinge kreativ einsetzen zu können. Naturnahe Flächen besitzen in der Regel eine hohe Aktionsraumqualität. Die Nutzungsarten sind nicht vordefiniert, anders als auf Spiel- oder Sportplätzen. Äste, Steine, Sand, Blätter und anderes geben keine Nutzungsart vor. Sie können zu den unterschiedlichsten Zwecken funktional und imaginativ eingesetzt werden und sind deshalb für alle Altersgruppen spannend. Dadurch eignen sie sich dazu, sowohl allein als auch in Gruppen bespielt zu werden. Spiele und Gruppenbildungen sind nicht vorgegeben. Ständiger Wechsel zwischen Spielen und Gruppen ist zwanglos möglich. Außerhalb der Natur findet kreatives, bewegungsreiches Spiel vor allem statt, wenn es initiiert wird (Richard-Elsner 2017, 123f ). Dazu sollten Kinder anregungsreiches Material vorfinden oder mitbringen können, wie Strohballen, Holzteile, Kunststoffrohrteile, Wäscheklammern, Seile, leere Plastikflaschen oder ähnliches (Nicholson 1971). Aufgrund ihrer mangelnden Gestaltbarkeit und weil es in der Regel ungern gesehen wird, wenn Kinder selbst Materialien mitbringen, können Spielplätze oder Schulhöfe häufig nur als Bewegungsräume genutzt werden und stellen keine Aktionsräume dar (Blinkert 1996, 13). Interaktionschancen Zwar spielen Kinder auch allein, aber im Allgemeinen wünschen sie sich andere Kinder zum Spielen. In Nachbarschaften können sich alters- und geschlechtsgemischte, große oder kleine Spielgruppen finden, was die Sozialkompetenz der Kinder im Umgang mit unterschiedlichen Reifegraden und Interessen fördert (Blinkert 1996, 14f; 56f ). Einfluss der Aktionsraumqualität auf das Kinderspiel In mehreren Studien untersuchten Blinkert und andere den Einfluss der Aktionsraumqualität auf das Ausmaß von Draußenspiel. So bewerteten Blinkert und Höfflin (2015) zunächst die Freiräume in Wohngegenden in süddeutschen Mittelstädten hinsichtlich ihrer Aktionsraumqualitäten. Dann befragten sie Eltern und Kinder, die dort wohnten, ausführlich zu ihren Lebenssituationen, Einstellungen und dem Ausmaß an Draußenspiel. Ergebnis war, dass vor allem die Aktionsraumqualität des Außenraums in der Wohnumgebung entscheidend war für die Zeitdauer, in der Kinder unbegleitet von Erwachsenen draußen spielten. Wurde die Aktionsraumqualität als »sehr gut« eingestuft, spielten die in der Studie erfassten Kinder im Durchschnitt fast zwei Stunden pro Tag draußen ohne Aufsicht. War sie dagegen »sehr schlecht«, waren Kinder im Durchschnitt nur eine Viertelstunde draußen. Das soziale Klima in der Nachbarschaft hatte einen entscheidenden Anteil daran, ob Eltern die Aktionsraumqualität als »schlecht« einschätzten. Kinder aus sozial benachteiligten Gebieten waren häufig doppelt betroffen, zum einen durch ein als ungünstig bewertetes soziales Klima und zum anderen durch Autoverkehr. In Wohnumgebungen mit schlechten Aktionsraumqualitäten wurde von den Eltern ein deutlich erhöhter Betreuungsbedarf gesehen. Kinder, die in einem ungünstigen Wohnumfeld Naturnahe Flächen besitzen eine hohe Aktionsraumqualität. [ 184 ] 4 | 2021 Auf den Punkt gebracht lebten, verbrachten mehr Zeit mit den elektronischen Medien (Blinkert/ Höfflin 2015). Was sind günstige Freiräume zum Kinderspiel? Günstig zum Draußenspiel ist eine vielfältige Wohnumgebung mit Gärten, verkehrsberuhigten Zuwegen, erreichbaren naturhaften Flächen, Kindern, die in erreichbarer Nähe leben und einem gewissen Maß an sozialer Kontrolle (Blinkert/ Höfflin 2015, 39ff ). Durch eine Vielfalt von Flächen können sich Gruppen bilden und ungestört spielen. Sind nur wenige und kleine Spielflächen verfügbar, besteht die Tendenz, dass Mädchen von dominanten Jungen in ihrer Aktivität behindert werden (Reimers et al. 2018). Da viele Kinder ganztags betreut werden, ist es Aufgabe von Kitas und Ganztagsschulen, ihnen dort Zugang zu Aktionsräumen zur Verfügung zu stellen. Damit eröffnen sie auch Kindern aus ungünstigen Wohnlagen die Möglichkeit, ihrem Spiel- und Bewegungsbedürfnis nachzugehen und tragen so zur sozialen Gerechtigkeit bei. Die Außenflächen von Kita und Schule sollten anregungsreich und gestaltbar sein. Außerdem sollte Kindern ermöglicht werden, naturhafte Freiräume in der Umgebung der Einrichtungen aufsuchen zu können (Richard-Elsner 2017, 182ff ). Literatur Blinkert, B. (1996): Aktionsräume von Kindern in der Stadt. Eine Untersuchung im Auftrag der Stadt Freiburg. 2. Aufl. Centaurus, Pfaffenweiler Blinkert, B., Höfflin, P. (2015): Raum für Kinderspiel! Eine Studie im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerkes über Aktionsräume von Kindern. Lit Verlag, Münster Finger, J. D., Varnaccia, G., Borrmann, A., Lange, C., Mensink, G. B. M. (2018): Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring 3 (1), 24-30 Kyttä, M. (2004): The extent of children’s independent mobility and the number of actualized affordances as criteria for child-friendly environments. Journal of Environmental Psychology 24 (2), 179-198, https: / / doi.org/ 10.1016/ S0272-4944(03)00073-2 Nicholson, S. (1971): How NOT to Cheat Children. The Theory of Loose Parts. Landscape architecture 62, 30-34 Reimers, A. K., Schoeppe, S., Demetriou, Y., Knapp, G. (2018): Physical Activity and Outdoor Play of Children in Public Playgrounds- - Do Gender and Social Environment Matter? International journal of environmental research and public health 15 (7), 1356, https: / / doi.org/ 10.3390/ ijerph15071356 Richard-Elsner, C. (2017): Draußen spielen, Beltz Juventa, Weinheim / Basel Die Autorin Dr. Christiane Richard-Elsner Leiterin der interdisziplinären Arbeitsgruppe Draußenkinder im ABA Fachverband Anschrift ABA Fachverband Clarenberg 24 D-44263 Dortmund christiane.richard-elsner@aba-fachverband.org www.draussenkinder.info
