eJournals motorik 44/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2021.art16d
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2021
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Elemente der Achtsamkeit in der psychomotorischen Praxis

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2021
Ruth Haas
Achtsamkeitsbasierte Ansätze werden in der Praxis zur Stress- und Krisenbewältigung und insbesondere im Kontext von Traumapädagogik und -therapie eingesetzt. Der Ursprung der Achtsamkeitspraxis liegt in der buddhistischen Meditationspraxis, die vom Begründer der MBSR-Methode Jon Kabat-Zinn für die westlich geprägten Menschen modifiziert wurde. MBSR bedeutet Mindfulness-Based Stress Reduction und intendiert eine bessere Bewältigung von belastenden Erfahrungen (Kabat-Zinn 2013). Die Förderung der Achtsamkeit dient der ­Entwicklung einer Haltung von Ge­lassenheit, um automatisierten Reaktions- und Handlungsmustern nicht ausgeliefert zu sein und selbstbestimmt entscheiden zu können. Im Mittelpunkt der Achtsamkeitspraxis steht das Gewahrsein und bewusste Wahrnehmen im Augenblick (Abb. 1).
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[ 88 ] 2 | 2021 Praxistipp [ PRAXISTIPP ] Elemente der Achtsamkeit in der psychomotorischen Praxis Achtsamkeitsbasierte Ansätze werden in der Praxis zur Stress- und Krisenbewältigung und insbesondere im Kontext von Traumapädagogik und -therapie eingesetzt. Der Ursprung der Achtsamkeitspraxis liegt in der buddhistischen Meditationspraxis, die vom Begründer der MBSR-Methode Jon Kabat-Zinn für die westlich geprägten Menschen modifiziert wurde. MBSR bedeutet Mindfulness-Based Stress Reduction und intendiert eine bessere Bewältigung von belastenden Erfahrungen (Kabat-Zinn 2013). Die Förderung der Achtsamkeit dient der Entwicklung einer Haltung von Gelassenheit, um automatisierten Reaktions- und Handlungsmustern nicht ausgeliefert zu sein und selbstbestimmt entscheiden zu können. Im Mittelpunkt der Achtsamkeitspraxis steht das Gewahrsein und bewusste Wahrnehmen im Augenblick (Abb. 1). Abb. 1: Gewahrsein im Augenblick Die innere Haltung der Achtsamkeitspraxis nach dem MBSR-Konzept wird getragen von den Elementen »Nicht-Urteilen«, »Geduld«, dem »Geist des Anfängers«, »Vertrauen«, »Nicht-Erzwingen«, »Akzeptanz« und »Loslassen« (Kabat-Zinn 2013, 714). Nicht-Urteilen Schlüsselelement der Achtsamkeitspraxis stellt die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung im jeweiligen Augenblick dar. Sinnesempfindungen, Gedanken und Gefühle werden wahrgenommen, jedoch nicht bewertet (Kabat-Zinn 2013, 742). Geduld Das Element der Geduld beinhaltet die Bereitschaft, zu akzeptieren, dass Entwicklungs- und Veränderungsprozesse Zeit benötigen und nicht forciert werden können (Kabat-Zinn 2013, 751). Geist des Anfängers AnfängerInnen lassen sich von ihren Erfahrungen überraschen und sich auf das Gewahrsein im Augenblick ein. Die Bereitschaft, sich in die Haltung von AnfängerInnen zu begeben, bedeutet Unvoreingenommenheit unabhängig von Vorerfahrungen (Kabat-Zinn 2013, 761). Vertrauen Vertrauen in die eigenen Wahrnehmungen, die eigenen Gefühle und vor allem in die Körperempfindungen stärkt das Selbstempfinden und das Sicherheitsempfinden. Dies ermöglicht Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln-- anstatt sich äußeren Autoritäten zu unterwerfen (Kabat-Zinn 2013, 773). Nicht Erzwingen Zielgerichtetes Handeln und Zweckorientierung stehen im Widerspruch zur Achtsamkeit. Die Verfolgung eines Ziels orientiert sich daran, dass etwas noch nicht vorhanden ist. Achtsamkeit beinhaltet Absichtslosigkeit (Kabat-Zinn 2013, 780). Akzeptanz Akzeptanz meint den Status Quo so anzunehmen, wie er ist. Bei gesundheitlichen Problemlagen kann dies bedeuten, Schmerzen oder Einschränkungen zu akzeptieren. Kabat-Zinn geht davon aus, dass (Selbst-)Akzeptanz die Voraussetzung für Veränderung darstellt (Kabat-Zinn 2013, 805). Loslassen Die menschliche Neigung, sowohl negative als auch positive Denk-, Erlebens- und Verhaltensmuster beizubehalten, kann als das Gegenteil von Loslassen, also Festhalten, bezeichnet werden. Durch Achtsamkeit wird die Wahrnehmung für solche Fixierungen und deren Konsequenzen geschärft (Kabat-Zinn 2013, 827). Eine Ergänzung erhält die achtsame Grundhaltung durch »(…) Rücksichtnahme, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Duldsamkeit, Versöhnlichkeit, Wohlwollen, Gelassenheit, Mitleid ebenso wie Mitfreude (…)« (Kabat-Zinn 2013, 825). [ 89 ] Praxistipp 2 | 2021 Tab. 1: Selbstreflexion der achtsamkeitsbasierten, psychomotorischen Praxis Die psychomotorische Aktivität Leitfragen zum Leibempfinden Leitfragen zu Gefühlen und Gedanken Leitfragen zu zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen und Umgebungsfaktoren ■ Wie fühlt sich meine Atmung an? ■ Hat sich die Atmung während der Aktivität verändert? Wenn ja, auf welche Weise? ■ Wo im Leib habe ich die Aktivität wahrgenommen? ■ Was habe ich bei der Aktivität im Körper wahrgenommen? ■ Hat sich das Leibempfinden während der Aktivität verändert? Wenn ja, auf-welche Weise? ■ Welche Gefühle habe ich bei der Aktivität wahrgenommen? ■ Haben sich meine Gefühle während der Aktivität verändert? ■ Welche Gedanken haben die Aktivität begleitet? ■ Haben sich meine Gedanken während der Aktivität verändert? ■ Wie habe ich den Raum wahrgenommen? ■ Wie war die zeitliche Gestaltung für mich? ■ Wie habe ich die Umgebungsbedingungen / Setting wahrgenommen? Bitte beantworte diese Fragen für Dich selbst: z. B. Begrüßung … … … z. B. Kontakt mit dem eigenen Leib … … … z. B. psychomotorische Gestaltungsphase … … … z. B. Bewegungsspiel … … … z. B. Entspannungsphase … … … z. B. Reflexionsgespräch … … … Gesamtreflexion bzgl. der psychomotorischen Aktivitäten ■ Habe ich bestimmte leibliche Empfindungen wiederholt wahrgenommen? ■ Welche Empfindungen waren angenehm? ■ Welche leiblichen Empfindungen möchte ich verstärken? ■ Welche leiblichen Empfindungen möchte ich vermindern / loslassen? ■ Habe ich Gedanken / Gefühle wiederholt wahrgenommen? ■ Was für Gedanken / Gefühle waren das? ■ Welche Gedanken / Gefühle möchte ich verstärken? ■ Welche Gedanken / Gefühle möchte ich vermindern / loslassen? ■ Welche Wahrnehmungen bzgl. Raum und Zeit tun mir-gut, stärken mich? ■ Welche Settings und Umgebungsfaktoren tun mir gut, stärken mich? Betrachte Deine Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und ziehe ein Resümee für heute: Aspekte dieser achtsamen Haltung finden sich z. T. in psychomotorischen Konzepten wieder. So beschreiben Kruse-Heine et al. (2017, 128) das »Haus der Bedürfnisfelder« für PädagogInnen. Gelassenheit wird als Fundament des Hauses, Offenheit und Wertschätzung werden als dessen Wände dargestellt. Gelassenheit wird als wesentlicher Aspekt von Selbstkompetenz im pädagogischen Kontext betrachtet (Keßel et al. 2017, 141). Die Reflexion des eigenen Verhaltens und dessen Bewertung wird als Bestandteil der psychomotorischen Haltung genannt (Kuhlenkamp 2017, 116). Die psychomotorischen Handlungsprinzipien »Prozessstatt Produktorientierung« sowie »Selbstbestimmung und Freiwilligkeit« ermöglichen Bezüge zur achtsamen Haltung (Kuhlenkamp 2017, 121). Diese können durch die Elemente des Akzeptierens, Loslassens, Nicht- Erzwingens, dem Geist des Anfängers und des Nicht-Urteilens sinnvoll ergänzt werden. [ 90 ] 2 | 2021 Praxistipp Methoden der klassischen Achtsamkeitspraxis Im MBSR-Programm werden als formelle Übungen Sitz- und Gehmeditation und bewusste Körperwahrnehmung mit Hilfe des sog. Body Scans und achtsame Bewegungen, z. B. durch Yoga als Übungspraxis, genutzt (Kabat-Zinn 2013). Das Ziel ist es, die Verankerung der Person in der Gegenwart zu üben und zu festigen. Amberg (2016) schlägt hierzu den Dreischritt von Innehalten, Hinschauen und bei Bedarf Handeln vor. Die Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks richtet einerseits die Aufmerksamkeit auf innere Prozesse, d. h. Körperempfindungen, Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse, andererseits auf die Wahrnehmung der äußeren Situation, wie räumliche, zeitliche Rahmenbedingen, Setting und Umgebungsfaktoren (Amberg 2016, 4). Diese Vorgehensweise intendiert die Möglichkeit einer bewussten Entscheidung über den aktuellen Handlungsbedarf (Abb. 2). Informelles Üben findet im Alltag statt, d. h. bei alltäglichen Verrichtungen, wie z. B. der Nahrungszubereitung, der Körperpflege oder Tätigkeiten im Arbeitskontext. Es soll geübt werden, körperliche Impulse wahrzunehmen, aber diesen nur bedingt nachzugehen oder zu bewerten. Die formellen Übungsmethoden können in die psychomotorische Praxis integriert werden. Allerdings bedarf es eines kontinuierlichen Übens, um tatsächlich die Wirkung der Achtsamkeitspraxis im Denken und Handeln integrieren zu können. Körperwahrnehmung wird in der Achtsamkeitspraxis als Verankerung und Zentrierung der Wahrnehmung in der Gegenwart genutzt. Die Wahrnehmung des eigenen Leibes in Bewegung und Ruhe mit allen Sinnen ist gängige Praxis in der Psychomotorik. Die Freiheit, den Impulsen des Leibes zu folgen und sich im Spiel in der Gegenwart zu verlieren und verorten, erweitert den Weg der Achtsamkeitspraxis im psychomotorischen Sinn. Umgekehrt kann das Potential psychomotorischen Arbeitens erweitert werden. Es wird vorgeschlagen, in psychomotorische Aktivitäten das Prinzip der bewussten Wahrnehmung des Leibes, der Umwelt und der dabei auftauchenden Gedanken und Gefühle- - im Sinne informellen Übens der Achtsamkeit- - verstärkt zu integrieren. Die teilnehmenden Personen erhalten einen Vorschlag zur Reflexion im Sinne eines psychomotorischen Tagebuches zur Achtsamkeit (Tab.- 1). Nach den jeweiligen Aktivitäten wird den TeilnehmerInnen Zeit für Reflexion gegeben. Die Analyse erfolgt bezogen auf die Stärkung positiv erlebter Körperwahrnehmung, Gefühle und Gedanken. Abb. 2: Schritte der Achtsamkeit im Alltag (nach Amberg 2016, 42) •Innehalten •Aufmerksamkeit auf den Atem und den Körper. Innehalten •Wahrnehmen, was ist. •Annehmen, was ist. •Äußere Situation •Gedanken •Gefühle Hinschauen •Bewusst und achtsam entscheiden, ob und was zu tun ist. Handeln Abb. 2: Schritte der Achtsamkeit im Alltag (nach Amberg 2016, 42) Literatur Amberg, M. (2016): Führungskompetenz Achtsamkeit. Eine Einführung für Führungskräfte und Personalverantwortliche. Springer, Wiesbaden Kabat-Zinn, J. (2013): Gesund durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR. O. W. Barth eBook Keßel, P., Engel, A. M., Kruse-Heine, M., Doll, I., Martzy, F. (2017): Das Bedürfnisfeld »Gelassenheit« in der Praxis: Eine exemplarische Darstellung der Methodik. In: Kuhl, J., Solzbacher, C., Zimmer, R. (Hrsg.): WERT: Wissen, Erleben, Reflexion, Transfer. Ein Konzept zur Stärkung der professionellen Haltung von pädagogischen Fach- und Lehrkräften. Schneider, Hohengehren, 141-176 Kruse-Heine, M., Keßel, P., Engel, A. M., Doll, I., Pöpel, N. (2017): Methodischdidaktische Elemente im Überblick. In: Kuhl, J., Solzbacher, C., Zimmer, R. (Hrsg.): WERT: Wissen, Erleben, Reflexion, Transfer. Ein Konzept zur Stärkung der professionellen Haltung von pädagogischen Fach- und Lehrkräften. Schneider, Hohengehren, 123-139 Kuhlenkamp, S. (2017): Lehrbuch Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München / Basel DOI 10.2378 / mot2021.art16d Kontakt Prof.in Dr. Ruth Haas ruth.haas@hs-emden-leer.de