motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2021.art22d
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2021
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Forum Psychomotorik: Sportförderunterricht: Anknüpfungspunkte zur Psychomotorik?!
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Andrea Kurth
Daniel Klein
Sportförderunterricht und Psychomotorik sind in Deutschland koexistent. Dabei eint sie, über Bewegung, Spiel und Wahrnehmungsförderung Kinder ganzheitlich fördern zu wollen. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst beide Konzepte kurz vorgestellt, um im Anschluss Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede herauszuarbeiten und Anknüpfungspunkte zu diskutieren.
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Zusammenfassung / Abstract Sportförderunterricht und Psychomotorik sind in Deutschland koexistent. Dabei eint sie, über Bewegung, Spiel und Wahrnehmungsförderung Kinder ganzheitlich fördern zu wollen. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst beide Konzepte kurz vorgestellt, um im Anschluss Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede herauszuarbeiten und Anknüpfungspunkte zu diskutieren. Schlüsselbegriffe: Psychomotorik, Sportförderunterricht, Schule, Inklusion Remedial physical education: Connectivity to psychomotricity? ! Remedial physical education and psychomotricity are coexisting concepts in Germany. Both concepts contain a holistic approach to promote children’s development through physical activity, play and an improvement of perceptional skills. This article presents both concepts and compares them to identify connecting factors. Key words: »Sportförderunterricht«, psychomotricity, school, inclusion [ 115 ] [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] motorik, 44. Jg., 115-121, DOI 10.2378 / mot2021.art22d © Ernst Reinhardt Verlag 3 | 2021 Sportförderunterricht: Anknüpfungspunkte zur Psychomotorik? ! Andrea Kurth, Daniel Klein Sowohl der Sportförderunterricht als auch die Psychomotorik nutzen die Medien Bewegung und Spiel, um die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen. Sportförderunterricht findet dabei ausschließlich im schulischen Setting statt (KMK 1999, 1), die Psychomotorik hat sich in Deutschland eher im außerschulischen Bereich etabliert (Vetter 2007, 182). Trotz des Einflusses der Psychomotorik auf den Sportförderunterricht (Cwierdzinski 2008, 31) und der oben aufgeführten Gemeinsamkeit findet bisher wenig interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen dem Sportförderunterricht als Teilbereich des Schulsports und der Psychomotorik statt. Seitens der Psychomotorik findet der Sportförderunterricht bei Zimmer (2012, 200f ) Beachtung. VertreterInnen des Sportförderunterrichts weisen auf Anknüpfungspunkte insbesondere zum kindzentrierten Ansatz der Psychomotorik in den konzeptionellen Überlegungen zum Sportförderunterricht hin (Klein / Kurth 2018, 190). Synergien, aber auch gleiche Legitimationsproblematiken werden bislang wenig beachtet. Dabei grenzen sich die beiden Konzepte in ihrer eigenen Fachlichkeit nicht aus, sondern könnten sich durch interdisziplinäre Zusammenarbeit gegenseitig befruchten. Sportförderunterricht Sportförderunterricht ist ein zusätzliches Angebot zum obligatorischen Sportunterricht in der Schule. Der Schulsport umfasst den verpflichtenden curricularen Sportunterricht sowie den [ 116 ] 3 | 2021 Forum Psychomotorik außerunterrichtlichen Schulsport (z. B. Sport- AGs). Sportförderunterricht kann sowohl als zusätzliches unterrichtliches Angebot als auch als außerunterrichtliche Veranstaltung durchgeführt werden. Grundlegende Bestimmungen zum Sportförderunterricht werden durch einen Beschluss der Kultusministerkonferenz geregelt (KMK 1999, 1ff ). Darin werden eine »ganzheitliche Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen durch Bewegung, Spiel und Sport unter besonderer Berücksichtigung der Gesundheit« als Ziel und Schülerinnen und Schüler, »die motorische Defizite und psycho-soziale Auffälligkeiten aufweisen«, als Zielgruppe definiert (KMK 1999, 1). Die Vorgaben der KMK (1999, 2) lassen bezüglich des didaktischen Konzepts sowie der Inhalte des Sportförderunterrichts einen breiten Spielraum. Zudem können sich die Vorgaben zur Umsetzung zwischen einzelnen Bundesländern unterscheiden. Der Erwerb der Zusatzqualifikation Sportförderunterricht kann für Studierende des Unterrichtsfachs Sport im Rahmen des Lehramtsstudiums an Hochschulen und Universitäten erfolgen. Die Ausbildung für bereits Sport unterrichtende Lehrkräfte erfolgt über die Bezirksregierungen. Wird Sportförderunterricht als außerunterrichtliche Veranstaltung angeboten, z. B. in Form von Förder- und Fitnessgruppen, ist die Zusatzqualifikation nicht zwingend erforderlich, hierzu befähigt beispielsweise auch eine Ausbildung im Bereich Psychomotorik oder Mototherapie (MSB 2007). Historisch hat sich der Sportförderunterricht aus dem orthopädischen Schulturnen entwickelt (Tab. 1). Schon 1903 bestand das Bestreben »Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf in der Schule durch Bewegung zu helfen« (Cwierdzinski 2003, 23). Durch verschiedene pädagogische, medizinische, gesellschaftliche und politische Entwicklungen hat sich diese schulische Fördermaßnahme innerhalb von 100 Jahren stark gewandelt (Cwierdzinski 2003, 23). Seit den 1960er Jahren nahm die Psychomotorik einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung. »Unter dem Einfluss der Psychomotorik hat der Sportförderunterricht seine Symptomorientierung aufgegeben. Er ist heute als eine Maßnahme der ganzheitlichen Förderung der Persönlichkeitsentwicklung durch Bewegung zu verstehen. Dieser Anspruch des Sportförderunterrichts gilt als unbestritten« (Gaschler 1994, 21). Trotz der scheinbar positiven Entwicklungen zu einem ganzheitlichen Ansatz steht Sportförderunterricht seit vielen Jahren in der Kritik. Die traditionelle Kritik konzentriert sich im Wesentlichen auf die historisch begründete Defizitorientierung des Konzepts (Tab. 1), eine mögliche Stigmatisierung der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler, die Namensgebung sowie den fehlenden Nachweis der Wirksamkeit (Cwierdzinski 2003, 47; Kurth / Klein 2017, 72). Hinzu kommen Diskussionen um die Daseinsberechtigung des Sportförderunterrichts im Rahmen inklusiver Schulentwicklung (Pfitzner 2017, 292f; Tiemann / Hofmann 2010, 106ff; Kurth / Klein 2017, 71ff ). Aber auch andere Gründe behindern die Umsetzung in der Schule. In der schulischen Realität- liegen diese sowohl im schulorganisatorischen als auch im personellen Bereich (Cwierdzinski 2003, 47). Hinzu kommt, dass die Ausbildung nur von wenigen Hochschulen und Bezirksregierungen angeboten wird, obwohl erste Untersuchungen darauf hinweisen, dass Sportlehrkräfte mit der Zusatzqualifikation Sportförderunterricht besser auf den Umgang mit Heterogenität vorbereitet sind als Lehrkräfte ohne diese Zusatzqualifikation (Lips / Klein 2019, 233). Dabei sind die Vorteile des Sportförderunterrichts unverkennbar: Er kann durch die Einbettung in der Schule alle Kinder unabhängig vom sozio-ökonomischen Status erreichen. Die Kinder haben hier die Möglichkeit, in kleinen Gruppen, ohne Notendruck über vielfältige Bewegungserfahrungen ihre Material-, Sozial- und Ich-Kompetenz zu erweitern. Psychomotorische Förderung Der Begriff Psychomotorik geht von einer funktionellen Einheit psychischer und motorischer Prozesse und somit einer »enge[n] Verknüpfung [ 117 ] Kurth • Sportförderunterricht: Anknüpfungspunkte zur Psychomotorik? ! 3 | 2021 [ 117 ] Kurth, Klein • Sportförderunterricht: Anknüpfungspunkte zur Psychomotorik? ! 3 | 2021 des Körperlich-Motorischen mit dem Geistig- Seelischen« aus (Zimmer 2012, 22). Konzepte der psychomotorischen Förderung legen ein humanistisches Menschenbild zugrunde, das Autonomie, soziale Interdependenz, Sinnorientierung und Ganzheitlichkeit einschließt (Zimmer 2012, 26f ). Kuhlenkamp (2017, 49) fasst zusammen, dass sich die Psychomotorik durch eine Öffnung zu verschiedenen Disziplinen sowie der Integration neuer Theorien permanent weiterentwickelt hat. Diskussionen um das Professionsverständnis der Psychomotorik sind immer noch aktuell. Demzufolge ist auch eine einheitliche Definition der Psychomotorik schwierig. Vetter (2009, 65) entwickelte einen inhaltlichen Vorschlag einer modernen Definition von Psychomotorik: »Psychomotorik ermöglicht die Herstellung und / oder Sicherung von heterogenen Entwicklungskontexten und individuell optimalen Entwicklungsverläufen durch Spiel- und Bewegungsangebote und bewegungsbezogene Unterstützung, die kompetenzerweiternd im Hinblick auf Entwicklung, Lernen, Bildung, Gesundheit und Erziehung sind.« Der wissenschaftliche Diskurs der letzten Jahre hat sich vor allen Dingen mit der Frage nach geeigneten Forschungsmethoden beschäftigt, um potenziell vorhandene Effekte psychomotorischer Förderung nachzuweisen (Vetter 2014, 11; Richter 2010, 384). In Deutschland ist die Psychomotorik vor allem in außerschulischen Settings etabliert, in der Schweiz ist sie wie der Sportförderunterricht im schulischen Setting verankert und muss sich dort auch den schulischen Entwicklungen stellen (Blos 2020, 10). Zeit Begriff Zielgruppe Ziel Inhalt ab 1903 Orthopädisches Schulturnen Schülerinnen und Schüler (SuS) mit Haltungsschwächen des Rumpfes (Skoliosen) Schwächen beheben Anfänglich auch Apparate, dann gymnastische Übungen ab 1926 Vorbeugende und ausgleichende Leibesübungen SuS mit schwächlicher Körperbeschaffenheit und Haltungsfehlern; später auch Schwächen im Fußgewölbe und Steiflinge, Krampflinge, Ungeschickte, Herzschwächlinge, Lungenschwächlinge, geistig Unbegabte, Nervöse, Ängstliche und Zerfahrene Haltungsfehler beseitigen (und diesen vorbeugen) Turnübungen; Gymnastik ab 1947 Schulsonderturnen SuS mit körperlichen Leistungsschwächen (keine Haltungsschäden), Wachstums- und Entwicklungsstörungen, Koordinations- und Organschwächen Bewegungsmängel gezielt ausgleichen Grundsätzlich gleiche Inhalte wie Sportunterricht, jedoch »Organschulung vor Muskelschulung«, Schwerpunkt: Ausdauerschulung ab 1982 Sportförderunterricht SuS, deren motorische Leistungsfähigkeit durch psychophysische Schwächen eingeschränkt ist Bewegungskönnen erweitern, ausgeglichene geistig-seelische Entwicklung Alle Formen des Schulsports und freizeitrelevante Themen, Schwerpunkte sollen nicht auf Gymnastik und Spielen liegen ab 1999 Sportförderunterricht SuS mit motorischen und psychosozialen Auffälligkeiten Ganzheitliche Förderung der Persönlichkeitsentwicklung, Befähigung und Motivation zu Sporttreiben in Schule und Freizeit Alle Inhalte des Schulsport, Berücksichtigung der Bedürfnisse der SuS, elementare Körper- und Bewegungserfahrungen, Wahrnehmung, Psychomotorik Tab. 1: Überblick zur historischen Entwicklung des Sportförderunterrichts in Anlehnung an Cwierdzinski (2008, 24) [ 118 ] 3 | 2021 Forum Psychomotorik Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Konzepte Bewegung und Spiel als Mittel der Intervention (Vetter 2009, 64; KMK 1999, 2) sowie die hohe Bedeutung der Wahrnehmung sind beiden Konzepten immanent. Auch die didaktischen Prinzipien des Sportförderunterrichts (KMK 1999,-2) Kindgemäßheit, Offenheit, Freiwilligkeit und Selbständigkeit sind mit psychomotorischen Gedanken (Keßel 2014, 23f ) kompatibel. Psychomotorische Interventionen werden in der Regel als (Klein-)Gruppenangebote durchgeführt (Kuhlenkamp 2017, 137), in der Schweiz auch als Einzelförderung (Vetter 2009, 59). Sportförderunterricht hingegen findet immer als Kleingruppenangebot statt. Die gegebene Kleingruppensituation ermöglicht ein intensives Arbeiten der Lehrkraft mit den Schülerinnen und Schülern (Dordel 2003, 531), ohne an output-orientierte Kompetenzerwartungen, wie im curricularen Sportunterricht, und Notenbzw. Leistungsdruck gebunden zu sein (Kurth / Klein 2017, 75). Auch die Orientierung an den individuellen Interessen und Bedürfnissen der Kinder bei der inhaltlichen Ausgestaltung bietet eine förderdienliche Atmosphäre (Dordel 2003, 531), wie sie auch in der Psychomotorik zu finden ist (Zimmer 2012, 81). Anders als in der Psychomotorik spielt der Sport im Sportförderunterricht eine wichtige Rolle. So sollen auch Inhalte berücksichtigt werden, die die Kinder zum Sporttreiben in Schule und Freizeit ermutigen (KMK 1999, 3). Diese klare Akzentuierung des Sports resultiert aus der Verortung des Sportförderunterrichts als Bestandteil des Schulsports sowie durch die Vorgaben der Kultusministerkonferenz. Die Zusatzqualifikation kann nur von Studierenden des Lehramts Sport bzw. Lehrkräften mit der Fakulta Sport erworben werden. Psychomotorik hingegen ist »Gegenstand vielfältiger pädagogischer Studien- und Aus- und Weiterbildungsgänge in den Fachbereichen Pädagogik und Psychologie« (Reichenbach 2010, 7), wobei sich Inhalte und Schwerpunkte unterscheiden können. In der Vergangenheit hat sich Sportförderunterricht an Einflüssen der Psychomotorik orientiert. Bereits Kiphard (1982, 23) beschrieb, dass »«Anleihen« aus der Psychomotorik […] oder Motopädagogik« bezüglich der Inhalte des Sportförderunterrichts gemacht werden könnten. Klein und Kurth (2018, 190) sehen insbesondere Anknüpfungspunkte zum kindzentrierten Ansatz der Psychomotorik (Zimmer 2012, 44f ). Auch wenn die theoretische Fundierung beider Konzepte schlüssig erscheint, fehlen nicht nur der Psychomotorik (Vetter 2007, 183) Wirksamkeitsnachweise. Es liegen nur wenige Studien zur Effektivität sportförderunterrichtlicher Interventionen vor (Kurth 2011, 116). Diese lassen aufgrund der meist motometrisch erfassten Daten keine Rückschlüsse auf intendierte ganzheitliche Wirkungen zu. Forschungsmethodische Überlegungen (Vetter 2014, 1ff ) sowie Forschungen zum in Bewegung handelnden Subjekt, wie Fischer (2019, 51) vorschlägt, sind nicht nur für die Psychomotorik, sondern auch für den Sportförderunterricht von Nöten. Dies gilt ebenfalls für die theoretischen Überlegungen zur Formulierung der Zielgruppe. Offiziell gelten seit 1999 Kinder mit motorischen und psycho-sozialen Auffälligkeiten (KMK 1999, 1) als Zielgruppe des Sportförderunterrichts. Diese zentrale Klientelbeschreibung scheint nicht mehr zeitgemäß. Auch in der Psychomotorik gibt es Überlegungen, auf diese zu verzichten und stattdessen eine handlungsstrukturelle oder aufgabenbezogene Perspektive aufzuzeigen, die durch einen professionstheoretischen Ansatz zu gewinnen wäre (Vetter 2009, 64). Sportförderunterricht und Psychomotorik finden in Deutschland zudem in unterschiedlichen Settings statt. Ersterer findet ausschließlich als unterrichtliche oder außerunterrichtliche Veranstaltung im schulischen Setting statt. Zweite hat sich in Deutschland eher im außerschulischen Bereich etabliert (Vetter 2007, 182). Fischer (2019, 277) betont jedoch die Bedeutung psychomotorischer Angebote in der Schule: »Bewegungsförderung und Psychomotorik bedienen zunehmend spezielle Thematiken der Entwick- Bewegung als Mittel der Intervention und die Bedeutung der Wahrnehmung sind beiden Konzepten immanent. [ 119 ] Kurth • Sportförderunterricht: Anknüpfungspunkte zur Psychomotorik? ! 3 | 2021 [ 119 ] Kurth, Klein • Sportförderunterricht: Anknüpfungspunkte zur Psychomotorik? ! 3 | 2021 lungsförderung und sind längst Gegenstand der Gesundheitsförderung im schulischen Kontext. Die fortschreitende Zahl von Kindern mit Gesundheitsproblemen […] oder auch mit psychischen Problemen aufgrund traumatisierender Lebenserfahrungen machen psychomotorische Angebote in der Schule zum anerkannten Medium der Ressourcenstärkung. Neben der Erkenntnisfunktion und der motorischen Funktion selbst geht es immer häufiger um sozial-emotionale Thematiken, etwa der Unterstützung des kindlichen Selbstwertgefühls auch in schulischen Kontexten.« Der Psychomotorik fehlen jedoch in Deutschland die Rahmenbedingungen zur flächendeckenden Umsetzung in der Schule. Sportförderunterricht hingegen ist durch die Regelungen der KMK in vielen Bundesländern gut verankert und bietet Rahmenbedingungen, die eine vielfältige (individuelle) Förderung ermöglichen-- auch mittels psychomotorischer Inhalte. Allerdings muss sich Sportförderunterricht, ähnlich wie die Psychomotorik in der Schweiz, im Diskurs um die inklusive Schulentwicklung anpassen bzw. weiterentwickeln. Aktuell wird durch den Ausbau eines inklusiven Bildungssystems die Daseinsberechtigung des Sportförderunterrichts gänzlich in Frage gestellt (Tiemann / Hofmann 2010, 106ff ). Auf den ersten Blick scheint der Sportförderunterricht alles andere als inklusiv zu sein, da er Kinder mit motorischen und psycho-sozialen Auffälligkeiten in eine Sondergruppe separiert. Versteht man Sportförderunterricht neben dem Sportunterricht jedoch als Teil eines pädagogischen Gesamtkonzeptes einer Schule, das der Bedeutung von Bewegung und Sport im Entwicklungs- und Lernprozess und der individuellen Förderung einen besonderen Stellenwert beimisst, kann er durchaus als inklusiv verstanden werden (Kurth / Klein 2017, 71ff ). Bewegung, Spiel und Sport sollen dabei helfen, beide Teile des Doppelauftrags des Schulsports (MSW NRW 2015, 6)- - abgekürzt als »Erziehung zum Sport« und »Erziehung durch Sport«-- zu unterstützen. Eine Erziehung zum Sport erfolgt im Sportförderunterricht über eine Bewegungsförderung, die sich an den Bedürfnissen der Kinder orientiert und auch freizeitrelevante Aspekte berücksichtigt. Daraus resultierende Bewegungserfahrungen und Interessensentwicklungen sollen die Teilhabechancen für Bewegungsaktivitäten der Kinder in Schule und Freizeit erhöhen (Kurth / Klein 2016, 12). Darüber hinaus kann Sportförderunterricht einen Beitrag zur Erziehung durch Sport leisten. Vor allem durch Bewegungsangebote mit vielfältigen Material-, Sozial- und Ich-Erfahrungen sollen die Schülerinnen und Schüler die Chance erhalten, ihr motorisches, emotionales und soziales Potenzial umfassend zu entwickeln (Kurth / Klein 2016, 12). Diese Gedanken stützen sich vor allem auf den kindzentrierten Ansatz der Psychomotorik (Zimmer 2012, 44f ). Nichtsdestotrotz müssen die Grundsätze für die Durchführung von Sportförderunterricht sowie für die Ausbildung und Prüfung zum Erwerb der Befähigung für das Erteilen von Sportförderunterricht der Kultusministerkonferenz überarbeitet werden. Sie sollten aktuelle Themen der inklusiven Schulentwicklung aufnehmen. Als Orientierung für Lehrkräfte sollten auf Länderebene Rahmenvorgaben oder Leitlinien zum Sportförderunterricht erstellt werden. Die Rahmenbedingungen des Sportförderunterrichts scheinen durch die Verankerung im Bildungssystem Schule vielversprechend. Bei der praktischen Umsetzung fehlen jedoch insbesondere Fachkräfte (Cwierdzinski 2008, 229). Lehrkräfte im Sportförderunterricht sind primär Sportlehrkräfte, die im Rahmen des Studiums oder berufsbegleitend die Zusatzqualifikation Sportförderunterricht erworben haben. Sportförderunterricht ist demnach nur ein kleiner Teilbereich ihrer Profession. Zudem erschweren oftmals nicht mehr angebotene Qualifizierungslehrgänge den Erhalt von qualifiziertem Personal. Die Psychomotorik ist stattdessen mit der Problematik konfrontiert, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund des Ausbaus der Ganztagsschulen am Nachmittag für schulergänzende psychomotorische Angebote oft nicht mehr greifbar sind (Vetter 2007, 185). Mögliche Anknüpfungspunkte Sportförderunterricht und Psychomotorik sind in Deutschland koexistent, obwohl es neben [ 120 ] 3 | 2021 Forum Psychomotorik einigen Unterschieden durchaus Gemeinsamkeiten gibt (Tab. 2). Obwohl Bewegung und Wahrnehmung Grundlage beider Konzepte sind, fehlt eine Zusammenarbeit bislang oft. Dabei könnten auf theoretischer Ebene vom wissenschaftlichen Austausch zu forschungsmethodischen Überlegungen und Forschungen zu Fragen der Klientelbzw. Zielgruppenbeschreibung, der Effekte psychomotorischer bzw. sportförderunterrichtlicher Interventionen und der Beteiligung am Diskurs um (inklusive) Schulentwicklung (Blos 2020, 14) beide Seiten profitieren. Vor allem Letzteres ist für den Sportförderunterricht existenzbedrohend. Auch der Psychomotorik kann nicht daran gelegen sein, dass der Sportförderunterricht seine Daseinsberechtigung verliert. Durch die zusätzliche Qualifikation der Lehrkräfte gelangt psychomotorisches Gedankengut und psychomotorische Praxis in die Schulen und an Schülerinnen und Schüler, die durch die Ausweitung der Ganztagsschulen oder aber auch durch restriktive familiäre Verhältnisse ansonsten nicht mit psychomotorischer Förderung in Berührung kämen. Daher ist auch in der Praxis eine Zusammenarbeit zum Ziele der bestmöglichen Förderung von Schülerinnen und Schülern erstrebenswert. Wenn Schulen der Bedeutung von Bewegung und Wahrnehmung einen hohen Stellenwert zuschreiben und Angebote etablieren, so wäre eine Option, Sportförderunterricht in Form von »Förder- und Fitnessgruppen« auch als außerunterrichtliche Veranstaltung anzubieten. Die Betitelung bedarf dabei aber sicherlich einer Überarbeitung. Hier böte sich eine Durchführung durch MotopädInnen oder PsychomotorikerInnen an und so eine Öffnung der Schule für diese Professionen. Sportförderlehrkräfte könnten hingegen Weiterbildungsangebote aus dem Bereich der Psychomotorik belegen und psychomotorische Praxis in ihren Sport(förder)unterricht tragen. Literatur Blos, K. (2020): Visionen für die Psychomotorik im Schweizer Schulsystem. Von aktuellen Chancen und perspektivischen Risiken. motorik 43 (1), 10- 15, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2020.art03d Psychomotorik Sportförderunterricht Gemeinsamkeiten Zielsetzung Kerngedanke: ganzheitliche Entwicklungsförderung, Orientierung an den individuellen Bedürfnissen des Kindes Mittel der Intervention hohe Bedeutung von Bewegung und Wahrnehmung Didaktischen Prinzipen Überschneidung didaktischer Prinzipen (u. a. Freiwilligkeit, Kindgemäßheit bzw. Kindorientierung, Ganzheitlichkeit) Zielgruppe Schwierigkeiten bei der Formulierung der Zielgruppe Diskurs um Inklusion Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, eine separierende Maßnahme entspreche nicht dem inklusiven Gedanken Studien zur Wirksamkeit liegen noch nicht umfassend vor Unterschiede Setting v. a. im außerschulischen Setting (in Deutschland) ausschließlich im schulischen Setting Bedeutung des Sports keine Bedeutung kann einen Beitrag zur Erfüllung des Doppelauftrags des Schulsports leisten (Erziehung zum Sport und durch Sport) Ausbildung Ausbildungspluralität Zusatzqualifikation für Sportlehrkräfte über die Bezirksregierungen bzw. für Studierende des Lehramts Sport an Hochschulen Tab. 2: Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sportförderunterricht und Psychomotorik [ 121 ] Kurth • Sportförderunterricht: Anknüpfungspunkte zur Psychomotorik? ! 3 | 2021 [ 121 ] Kurth, Klein • Sportförderunterricht: Anknüpfungspunkte zur Psychomotorik? ! 3 | 2021 Cwierdzinski, P. (2008): Sportförderunterricht in der Sekundarstufe 1. Dissertation, Bergische Universität Wuppertal Cwierdzinski, P. (2003): Sportförderunterricht aktuell. Das Stiefkind des Schulsports? Sportpädagogik 27 (3), 44-47 Dordel, S. (2003): Bewegungsförderung in der Schule. Handbuch des Sportförderunterrichts. 4. Aufl. verlag modernes lernen, Dortmund Fischer, K. (2019): Einführung in die Psychomotorik. 4.-Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Gaschler, P. (1994): Sportförderunterricht. Teil 1: Didaktik und Methodik. Niedersächsisches Landesinstitut (Hrsg.). Hildesheim Keßel, P. (2014): Prinzipien psychomotorischer Entwicklungsförderung. Überlegungen für die fachschulische Erzieherausbildung. motorik 36 (1), 23- 27, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2014.art05d Kiphard, E. J. (1982): Sportförderunterricht/ Schulsonderturnen unter psychomotorischem Aspekt. motorik 5 (1), 17-24 Klein, D., Kurth, A. (2018): Sportförderunterricht an inklusiven Schulen? ! 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Ernst Reinhardt, München / Basel Richter, J. (2010): Ist Psychomotorik wirklich wirkungslos? Theoretische und empirische Argumente gegen ein »Vorurteil«. Zeitschrift für Heilpädagogik 10, 378-387 Tiemann, H., Hofmann, A. R. (2010): Vom Sportförderunterricht zum Sportunterricht in inklusiven Settings. In: Lange, H., Sinning, S. (Hrsg.): Handbuch Methoden im Sport. Spitta, Balingen, 106-116 Vetter, M. (2014): Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit: Kuckuckseier in pädagogisch-therapeutischen Berufen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83, 1-12, https: / / doi. org/ 10.2378/ vhn2014.art24d Vetter, M. (2009): Welche Ziele verfolgt Psychomotorik im Gesellschafts- und Bildungskontext? Anmerkungen aus dem Vergleich zweier Nachbarländer und eine Perspektive. motorik 32 (2), 59-66 Vetter, M. (2007): Psychomotorische Förderung im Rahmen integrativer Schulmodelle. Theoretische Überlegungen und praktische Einblicke. In: Hunger, I., Zimmer, R. 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