eJournals motorik 44/3

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Qualifikationsarbeit: Psychomotorik als interventionsbegleitender Ansatz zur Bewältigung von Traumafolgestörungen im Kindesalter – Potenzial und Voraussetzungen

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2021
Verena Hold
Kinder sind in besonderer Form abhängig von einer sie schützenden Umgebung und fürsorgenden Bezugspersonen. Wird ihnen dieser Schutz verwehrt oder widerfahren ihnen gar traumatisierende Ereignisse, kann dies zu tiefgreifenden Einschnitten in der kindlichen Entwicklung führen. Aufgrund der Komplexität der kindlichen Entwicklung äußern sich die Symptome einer Traumafolgestörung bei Kindern meist anders als im Erwachsenenalter: Besonders häufig betroffen sind das Bindungsverhalten, bestimmte Körperfunktionen wie Schlaf, Essverhalten oder Selbstregulation, die kognitive Wahrnehmungsverarbeitung und das Selbstkonzept (Terr 1991, 13f; van der Kolk 2009, 576ff). Es lassen sich weiterhin Entwicklungsverzögerungen und -regression beobachten (Heedt 2017, 579f). [...]
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[ 146 ] 3 | 2021 Aktuelles / Kurz berichtet Qualifikationsarbeit Psychomotorik als interventionsbegleitender Ansatz zur Bewältigung von Traumafolgestörungen im Kindesalter-- Potenzial und Voraussetzungen Kinder sind in besonderer Form abhängig von einer sie schützenden Umgebung und fürsorgenden Bezugspersonen. Wird ihnen dieser Schutz verwehrt oder widerfahren ihnen gar traumatisierende Ereignisse, kann dies zu tiefgreifenden Einschnitten in der kindlichen Entwicklung führen. Aufgrund der Komplexität der kindlichen Entwicklung äußern sich die Symptome einer Traumafolgestörung bei Kindern meist anders als im Erwachsenenalter: Besonders häufig betroffen sind das Bindungsverhalten, bestimmte Körperfunktionen wie Schlaf, Essverhalten oder Selbstregulation, die kognitive Wahrnehmungsverarbeitung und das Selbstkonzept (Terr 1991, 13f; van der Kolk 2009, 576ff ). Es lassen sich weiterhin Entwicklungsverzögerungen und -regression beobachten (Heedt 2017, 579f ). Traumatisierte Kinder begegnen uns auch in der Psychomotorik, was die Frage aufwirft, inwiefern Betroffene mithilfe psychomotorischer Interventionen unterstützt werden können und welche Rahmenbedingungen hierfür vorherrschen sollten. Im Rahmen einer Masterarbeit an der Universität zu Köln wurde das Potenzial der Psychomotorik im Umgang mit von Traumafolgestörungen betroffenen Kindern erforscht. Die Forschungsergebnisse sollen als Anregung zur psychomotorischen Begegnung mit Betroffenen dienen und den Stellenwert der Psychomotorik als Teil eines multimodalen Behandlungskonzeptes stärken. Die Forschungsgrundlage der zugrundeliegenden Arbeit bilden Befragungen von ExpertInnen, die im Sommer 2019 durchgeführt wurden. Befragungsgrundlagen und Vorgehen Das Potenzial psychomotorischer Traumaarbeit stellt das Zentrum des Forschungsinteresses dar. Folgende forschungsleitende Fragestellung bildet den Rahmen der Forschungsarbeit: Wie kann die Psychomotorik bei der Bewältigung einer Traumafolgestörung im Kindesalter unterstützend wirken und welche Rahmenbedingungen gilt es hierbei zu beachten? Um die relevantesten Aspekte zur Beantwortung der Forschungsfrage herauszuarbeiten, wurden insgesamt vier qualitativ-systematisierende Experteninterviews mithilfe eines teilstrukturierten Leitfadens durchgeführt, vollständig transkribiert und anhand der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet (Bogner / Menz 2009; Kuckartz 2018). Die vier befragten ExpertInnen verfügen einerseits über praktische Erfahrungen in Psychomotorik und Traumaarbeit. Andererseits setzen sie sich auf wissenschaftlicher Ebene mit der pädagogisch-psychologischen Traumaarbeit auseinander. Die Rekrutierung der Befragten erfolgte via E-Mail- Kontakt. Potenzial psychomotorischer Traumaarbeit Die klassische Traumatherapie besteht aus drei Phasen: Stabilisierung, Traumabearbeitung und Integration (Landolt/ Hensel 2012, 23). Psychomotorische Angebote scheinen sich besonders für die Phase der Stabilisierung zu eignen. Das psychomotorische Setting an sich könne hierbei schon als Struktur und Sicherheit bietender Schutzraum für Betroffene fungieren. Die Inhalte und Methoden der Psychomotorik bieten weiterhin die Möglichkeit, die körperliche, soziale und psychische Stabilisierung während des Heilungsprozesses zu unterstützen (Hegerath 2019, 152f ). Das psychomotorische Setting wird auch von den Interviewten als sicherer Ort zur emotionalen Stabilisierung Betroffener beschrieben. Zeitliche und örtliche Strukturen, der stets ähnliche Stundenverlauf, feste Rituale, eine friedliche und positive Atmosphäre sowie klar definierte Regeln und Handlungsgrenzen bilden hierfür die Grundlage (Hegerath 2019, 153). Im Schutzraum des psychomotorischen Angebots sei es Kindern nach Angaben der Interviewten möglich, Emotionen in und mit Bewegung auszudrücken und zu verarbeiten sowie positive Beziehungs- und Bewegungserfahrungen zu machen. Dies sei besonders für Kinder hilfreich, die innere Zustände nur begrenzt verbal beschreiben können. Weiterhin biete das psychomotorische Setting die Möglichkeit, sich als selbstbestimmt und handlungsfähig zu erleben. Eingrenzung und Bedingungen für die psychomotorische Traumaarbeit Neben dem Potenzial psychomotorischer Traumaarbeit weisen die Befragten auch auf deren Grenzen hin [ 147 ] Seyda • Gesundheitsförderung durch sportliche Angebote 3 | 2021 [ 147 ] Aktuelles / Kurz berichtet 3 | 2021 und formulieren Rahmenbedingungen (Abb.-1). Einschränkungen der psychomotorischen Traumaarbeit sehen die ExpertInnen hauptsächlich bei der Möglichkeit zur Traumabearbeitung, besonders wenn diese im Gruppensetting stattfinden soll. Hier wird die klare Abgrenzung zu psychotherapeutischen Interventionen verlangt. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Fachdisziplinen, unter Einbezug des familiären Umfelds, sei jedoch denkbar und sinnvoll. Eine weitere Grenze psychomotorischer Traumaarbeit umschreiben die fachlichen und persönlichen Kompetenzen der Fachkraft. Diese sollten etwa Strategien zur Psychohygiene beinhalten, um sich vor sekundärer Traumatisierung zu schützen. Zu den Voraussetzungen der psychomotorischen Traumaarbeit sollten schlussfolgernd die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die adäquate Fachqualifikation sowie der reflektierte Umgang mit den eigenen Kompetenzen und Grenzen des eigenen Handlungsbereichs auf Seiten der Fachkraft gehören. Diskussion und Konsequenzen für die Praxis Psychomotorische Angebote werden als Unterstützung für die Bewältigung von Traumafolgestörungen im Kindesalter angesehen. Sie bieten Betroffenen die Möglichkeit, sich als selbstermächtigend und handlungsfähig wahrzunehmen und können als sicherer Ort für Rückzug, Erholung und positive Erfahrungen dienen. Da psychomotorische Traumaarbeit Grenzen hat, sollte sie stets als Teil eines multimodalen Behandlungskonzeptes und interventionsbegleitendes Instrument fungieren. Die Vernetzung und interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen und das Ein- Abb. 1: Potenzial, Grenzen und Rahmenbedingungen psychomotorischer Traumaarbeit nehmen einer systemischen Perspektive sollten zu den Rahmenbedingungen psychomotorischer Traumaarbeit gehören. Fachkräfte sollten außerdem über eine entsprechende Qualifikation sowie die Fähigkeiten zu Selbstreflexion und Psychohygiene verfügen. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit bestärken den Stellenwert psychomotorischer Angebote als Teil eines multimodalen Behandlungskonzeptes von Kindern mit Traumafolgestörungen. Sie implizieren die weiterführende Auseinandersetzung mit dem Thema in Theorie und Praxis. Literatur Bogner, A., Menz, W. (2009): Experteninterviews in der qualitativen Sozialforschung. Zur Einführung in eine sich intensivierende Methodendebatte. In: Bogner, A., Littig, A., Menz, W. (Hrsg.): Experteninterviews. Theorien, Methoden, Anwendungsfelder. 3. Aufl. VS, Wiesbaden, 7-31 Heedt, T. (2017): Psychotraumatologie. Traumafolgestörungen und ihre Behandlung. Schattauer, Stuttgart Hegerath, H. (2019): Traumatisierten Kindern in der psychomotorischen Praxis bewegt begegnen. Herausforderungen, Chancen und Grenzen. Praxis der Psychomotorik 44 (3), 151-159 Kuckartz, U. (2018): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 4. Aufl. Beltz, Weinheim Landolt, M., Hensel, T. (2012): Grundlagen der Traumatherapie. In: Hensel, T., Landolt, M. (Hrsg.): Traumtherapie bei Kindern und Jugendlichen. 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen, 15-33 Terr, L. C. (1991): Childhood Traumas: An Outline and Overview. American Journal of Psychiatry 148 (1), 10-20, https: / / doi.org/ 10.1176/ ajp.148.1.10 van der Kolk, B. (2009): Entwicklungstrauma-Störung: Auf dem Weg zu einer sinnvollen Diagnostik für chronisch traumatisierte Kinder. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 58 (8), 572-586, https: / / doi. org/ 10.13109/ prkk.2009.58.8.572 Kontakt Verena Hold M. A. Rehabilitationswissenschaftlerin verena-hold@web.de