eJournals Motorik 45/1

Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Das motologische Wirkungsfeld der Kinder- und Jugendpsychiatrie - Teil 2

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2022
Damian Badners
Im ersten Teil der Berichtreihe »Insight - Erfahrungen aus der Praxis« hat Alexander Hetke seine tägliche Arbeit an der LWL-Universitätsklinik in Hamm vorgestellt. Dieser Erfahrungsbericht von Damian Badners ist der zweite Teil zum motologischen Wirkungsfeld Kinder- und Jugendpsychiatrie.
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[ 40 ] 1 | 2022 Insight - Erfahrungen aus der Praxis [ INSIGHT - ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS ] Das motologische Wirkungsfeld der Kinder- und Jugendpsychiatrie-- Teil 2 Im ersten Teil der Berichtreihe »Insight-- Erfahrungen aus der Praxis« hat Alexander Hetke seine tägliche Arbeit an der LWL-Universitätsklinik in Hamm vorgestellt. Dieser Erfahrungsbericht von Damian Badners ist der zweite Teil zum motologischen Wirkungsfeld Kinder- und Jugendpsychiatrie. Mein Setting Das Albert-Schweitzer-Therapeutikum (AST) in Holzminden: eine kleine Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Der Träger ist- das Albert-Schweitzer-Familienwerk e. V., ein gemeinnütziger Verein in Niedersachsen. Als Motologe arbeite ich, neben meiner motologischen Kollegin aus dem stationären und tagesklinischen Bereich, in der Institutsambulanz mit Kindern, Jugendlichen und deren Familien auf Anweisung unserer fallführenden KliniktherapeutInnen. Neben der Ergo-, Musik-, Kunst-, und Reitherapie ist die Mototherapie (Schilling 2020) dem Fachtherapieteam zugeordnet. Mein hauptsächlicher Arbeitsplatz ist die »Motohalle«, ca. 90 m² groß, durch bodentiefe Fenster von zwei Seiten von außen einsehbar. Neben dem typischen psychomotorischen Material besteht die Möglichkeit eine fünf Meter hohe Kletterwand zu nutzen und ein Großtrampolin aufzubauen. Darüber hinaus steht ein circa drei Hektar großes, zum Teil naturbelassenes Außengelände zur Verfügung, was zum Bogenschießen, Baumklettern, zu Floßfahrten auf einem Teich, Bachwanderungen oder zum Staudammbauen einlädt. Im Einzelwie auch im Gruppensetting, in der Gruppenleitung allein oder zu zweit findet die ambulante Mototherapie in 60 bis 90 Minuten-Einheiten, wöchentlich oder vierzehntägig, statt. Die jeweilige Auftragsklärung wird vorab und immer wieder während des Therapieprozesses gemeinsam mit den KlientInnen und deren Umfeld in Vor- und Bilanzgesprächen ausgehandelt. Ein Abschlussgespräch mit allen Beteiligten beendet im Allgemeinen den Therapieprozess, der in der ambulanten Mototherapie im Durchschnitt ein Jahr beträgt. Mein Berufsalltag 10: 00 Uhr, Holzminden: ein Kennenlerntermin für die Mototherapie. Ich begrüße einen neunjährigen Jungen mit schüchternem Blick und seine Mutter im Wartezimmer. Ich stelle mich vor und lade ihn ein, sich mit mir gemeinsam unsere Motohalle anzuschauen. Die Verabschiedung von seiner Mutter geschieht unaufgeregt. Scheinbar behutsam und neugierig folgt er mir zaghaften Schrittes. Ich öffne die Tür zur Motohalle, Julian tritt zögerlich ein, schaut sich staunend in der Halle um. Die erste Unsicherheit verlierend, streift er durch die Halle und nimmt alles genau in Augenschein: An der Kletterwand berührt er einige Griffe, am Basketballständer schaut er etwas länger zum hoch hängenden Korb. Ohne ein Wort zu verlieren, zieht es ihn in unseren geöffneten Materialraum. Ich halte mich zurück, begleite ihn mit einigem Abstand auf seiner Entdeckungsreise. Sich offenbar rückversichernd blickt er zu mir, als er einen Fußball entdeckt. Ermunternd nicke ich ihm zu. Was dann folgt, sind knapp 40 Minuten wildes Fußball-Gerangel-Spaß-Spiel, nach dem keiner mehr weiß und wissen will, wer gewonnen hat. Wichtig ist nur: Julian mag wiederkommen. Und er hat selbst auch eine Idee, wozu. Er will wieder mehr lachen. Mutiger werden mag er auch. Ich möchte von ihm wissen, woran er und vielleicht auch ich bemerken würden, dass er mutiger geworden sei: »Na, dass ich mich irgendwann traue an Deiner Kletterwand zu klettern! «. Dies besprechen wir abschließend mit seiner Mutter, die erleichtert wirkt. Ihr Sohn möchte offensichtlich gerne wiederkommen, hatte heute sogar Spaß. Über ein Problem [ 41 ] Insight - Erfahrungen aus der Praxis 1 | 2022 hat heute niemand gesprochen. Und das in der Therapie! Direkt im Anschluss findet unsere Intervision statt. Ich jogge mal wieder nur fast pünktlich in die Runde unserer TherapeutInnen und ÄrztInnen. Als einziger leicht verschwitzt und in Sportkleidung, alles wie immer. Heute nutzen wir die Stunde, um einen Kollegen in einem anspruchsvollen Fall zu beraten. Die unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen Berufsgruppen erscheinen dabei hilfreich, ebenso wie die heutige Methode der interkollegialen Beratung. Schließlich fühlt sich unser Kollege wieder deutlich handlungsfähiger, schaut zuversichtlich auf den nächsten Termin mit der Familie. Für mich geht es anschließend ins Büro: Die Dokumentation des Kennenlerntermins mit Julian wartet. Eine willkommene Abwechslung, denn am Nachmittag stehen noch Gruppentermine sowie ein »Familienmototermin« an. Mein theoriegeleiteter Zugang Wie ist mit dem zunächst zurückhaltenden Julian eine solch lebendige und bewegte Stunde entstanden? Was habe ich beim Spielen mit und gegen Julian empfunden? Was habe ich bei seiner Begrüßung wahrgenommen, was beim Abschied? Wie war er mit seiner Mutter im Kontakt? Und was habe ich übersehen, was nicht wahrgenommen? Wie sind die nächsten Schritte? Gruppen-, Einzel- oder »Familienmoto«? Welche Ziele entwickeln wir gemeinsam? In welcher Gruppe hätte er einen guten Platz mit ausreichend Sicherheit und genug Herausforderung zum Wachsen? Fragen, die mich beim Dokumentieren begleiten und handlungsleitende Impulse beinhalten. Da sich das Albert-Schweitzer-Therapeutikum als grundsätzlich systemisch ausgerichtete Einrichtung versteht, ist die hiesige Mototherapie traditionell der systemisch-konstruktivistischen Perspektive verschrieben. Die Weiterbildung zum Systemischen Berater und Therapeuten wurde für mich daher bereits in meinen ersten Jahren im AST gefördert. Ich erfahre immer noch und immer wieder die Motologie und den systemischen Ansatz als sich gegenseitig potenzierende Ansätze. Eine wichtige Leitfrage für meine Arbeit in der Motohalle lautet, wofür die Art von Verhalten, Wahrnehmung, Bewegung sinnvoll für die KlientInnen in ihren Systemen sein kann. Thema und Verlauf des (moto-)therapeutischen Prozesses gestalten die KlientInnen und ich gemeinsam, Hand in Hand nebeneinander, auf der Suche nach förderlichen Ideen für Veränderungen, vorhandenen Kompetenzen sowie ungenutzten Ressourcen. Das bedeutet für mich in meiner Rolle als Therapeut vor allem eher eine Bremswirkung als eine Anleitungswirkung, um einen offenen und gleichzeitig strukturierenden Handlungsrahmen zu schaffen und Selbstregulationsprozesse anzuregen. Hierfür erlebe ich vor allem »meine« motologisch-psychomotorische Haltung, ein beständiges Bestreben nach Offenheit, Wertschätzung und Flexibilität (Künne / Schache 2012, 91), als Methode und Ziel zugleich. Einerseits, um im Kontakt mit mir selbst zu sein und anderseits, um in Kontakt mit meinem Gegenüber zu kommen. Denn dies führt in der Konsequenz zum psychomotorischen Dialog: in eine wahrhaftige Beziehung mit den KlientInnen, um von »Kern zu Kern« (Eckert 2004, 138) zu kommunizieren. Dies stellt für mich jene Basis dar, um im Prozessverlauf zu verstehen oder nicht zu verstehen, um in eine somatische Resonanz zu gelangen, um herauszufordern, zu provozieren oder um einfach da zu sein und da zu bleiben, auch wenn es schwierig wird. Letztlich ist sie auch dafür da, mich wieder abkömmlich zu machen, was letzten Endes das Ziel »meiner« Mototherapie ist: für die Kinder, Jugendlichen und Familien irgendwann wieder überflüssig zu sein. Meine Bedeutsamkeit »›Moto‹ macht aus einem schlechten Tag einen guten! «- - dieser Satz hängt an meiner Bürotür, von einem Jungen, der seine Ziele für die Mototherapie aufschreiben sollte. Für Julian war der Kennenlerntermin in der Mototherapie vermutlich und hoffentlich genau das, nämlich eine Unterschiedserfahrung. Eine Therapie, die (nicht nur, aber auch) Spaß macht, bei der er erstmal gar nichts muss, bei der er einfach so sein durfte, wie er ist. Dies ist eine der häufigsten Rückmeldungen, die ich zur Mototherapie bekomme: »Hier durfte ich so sein, wie ich bin. Ohne Druck zur Veränderung«. Hierin sehe ich mit die wichtigste Bedeutsamkeit »meiner« Mototherapie: »Spiel-Räume« (Retzlaff 2019) zu schaffen, um den Menschen zu ermöglichen als erstes mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Daneben sind es die Spiel- und Freiräume in meiner eigenen Arbeit als Motologe bzw. Mototherapeut, die die Mototherapie für mich selbst mindestens ebenso bedeutsam machen. Im AST erlebe ich die Mototherapie von KollegInnen und Leitung als sehr geschätzt: weil wir relativ betrachtet viele KlientInnen im Gruppensetting in unserer Motohalle »versorgen« können, und auch weil der »mototherapeutische Blick« auf die KlientInnen sowie die Schilderungen aus den »Motostunden« in Fallbesprechungen sehr gefragt sind, da sie oftmals bisher unbemerkte Ressourcen sowie Perspektiven für eine Zeit nach der Therapie [ 42 ] 1 | 2022 Insight - Erfahrungen aus der Praxis aufzeigen. Dies mag einerseits an meiner »motologischen« Wahrnehmung liegen, andererseits sind es die KlientInnen selbst, die den Rahmen der Mototherapie zu nutzen wissen und lernen sich selbst anders wahrzunehmen bzw. »wahrzugeben«. Daneben besteht für mich regelmäßig die Notwendigkeit, besonders für Eltern und neue KollegInnen, den Unterschied zwischen »Spiel, Sport und Auspowern« und der Mototherapie mit ihrem Sinn und ihren Wirkweisen deutlich zu machen, also die Frage »Moto-… was? « genauer zu erläutern. Literatur Eckert, A. R. (2004): Bewegtes Sein-- eine körperenergetische Betrachtung psychomotorischer Praxis. In: Köckenberger, H., Hammer, R. (Hrsg.): Psychomotorik. Ansätze und Arbeitsfelder. Ein Lehrbuch. Verlag modernes lernen, Dortmund Künne, T., Schache, S. (2012): Auf der Suche nach einer Haltung- …- - Persönlichkeitstheorie und Psychomotorik. motorik 35 (2), 86-92 Retzlaff, R. (2019): Spiel-Räume. 7. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Schilling, F. (2020): Von der Psychomotorik zur Motologie- - Einblick und Ausblick Teil 2. motorik 43 (4), 164-168, http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ mot2020. art30d DOI 10.2378 / mot2022.art07d Kontakt Damian Badners Diplom-Sportwissenschaftler, Motologe M. A., seit 2010 als Motologe im Albert-Schweitzer- Therapeutikum, einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, tätig. bvdm.badners@motologie.net a w Spielarten der Musiktherapie Welche therapeutischen Funktionen erfüllt Musik? Dieses Buch stellt die vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten von Musik zu therapeutischen Zwecken vor. Es vermittelt therapeutische Haltungen und „Arbeitsmodelle“ vor dem Hintergrund medizinischer Erklärungsansätze und gesellschaftlicher Bedingungen. Zahlreiche Fallbeispiele vertiefen Fragen des Settings und den Einsatz als Gruppen- oder Einzelverfahren. Ein berufspolitischer Blick auf die Musiktherapie befasst sich abschließend mit der Aus- und Weiterbildung und künftigen Entwicklungen. Susanne Bauer Musiktherapie (Wege der Psychotherapie) 2018. 178 Seiten. (978-3-497-02740-8) kt