eJournals Motorik 45/2

Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Insight - Erfahrungen aus der Praxis: Bewegungsraum SPZ - Psychomotorische Therapie im Sozialpädiatrischen Zentrum

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2022
Ricarda Menke
Im Rahmen dieser Berichtreihe wurde in den letzten beiden Ausgaben der Berufsalltag im motologischen Wirkungsfeld der Kinder- und Jugendpsychiatrie in zwei unterschiedlichen Kliniken dargestellt. Im Anschluss daran wird hiermit ein weiteres Praxisfeld der Psychomotorik im medizinisch-therapeutischen Kontext beschrieben: Die Psychomotorische Therapie im Zentrum für Kindesentwicklung (ZKE) in Hamburg, einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), in dem ich seit mittlerweile über 8 Jahren tätig bin.
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[ INSIGHT - ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS ] [ 91 ] Insight - Erfahrungen aus der Praxis 2 | 2022 Bewegungsraum SPZ-- Psychomotorische Therapie im Sozialpädiatrischen Zentrum Ricarda Menke Im Rahmen dieser Berichtreihe wurde in den letzten beiden Ausgaben der Berufsalltag im motologischen Wirkungsfeld der Kinder- und Jugendpsychiatrie in zwei unterschiedlichen Kliniken dargestellt. Im Anschluss daran wird hiermit ein weiteres Praxisfeld der Psychomotorik im medizinisch-therapeutischen Kontext beschrieben: Die Psychomotorische Therapie im Zentrum für Kindesentwicklung (ZKE) in Hamburg, einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), in dem ich seit mittlerweile über 8 Jahren tätig bin. Mein Setting Das Zentrum für Kindesentwicklung in Hamburg wurde bereits vor fast 50 Jahren von Frau Dr. med. Inge Flehmig gegründet, die psychomotorische Abteilung existiert seit 1983. Inge Flehmig war eine bedeutende Entwicklungsneurologin und »Pionierin« der Sensorischen Integrationstherapie nach Jean Ayres sowie der Bobath-Therapie, auch mit Johnny Kiphard arbeitete sie schon früh bei der Entstehung der psychomotorischen Abteilung zusammen. Mit der Übersetzung der Erstauflage des Standardwerkes »Bausteine der kindlichen Entwicklung« von Jean Ayres (1984) und einem breiten Angebot an Aus- und Weiterbildungskursen zur Sensorischen Integration und u. a. Psychomotorik, trug sie maßgeblich zur Verbreitung dieser Thematik und Therapieformen bei. Lange Zeit als »Flehmig- Institut« in Hamburg und Umgebung bekannt, ist das Zentrum für Kindesentwicklung mit derzeit über 60 MitarbeiterInnen eines der größten SPZs in der Region und Anlaufstelle für Familien mit Kindern im Alter von 0-18 Jahren, die unterschiedlichste Schwierigkeiten in ihrer Entwicklung aufweisen. Unter medizinischer Leitung arbeiten verschiedene Fachdisziplinen (ÄrztInnen, PsychologInnen, Ergo-, Logo- und PhysiotherapeutInnen, PsychomotorikerInnen sowie SozialarbeiterInnen) in enger interner Kooperation zusammen, um die Familien und Kinder bestmöglich zu unterstützen. Hierbei enthält das Leistungsspektrum sowohl umfassende Diagnostik als auch ein (für SPZs eher ungewöhnlich) breites Therapieangebot, wozu auch die psychomotorische Therapie gehört. Mit fünf großen und zwei kleineren, sehr unterschiedlich ausgestatteten Therapieräumen bildet die Psychomotorik-Abteilung des Zentrums einen eigenen Standort in der Hamburger City-Nord und bietet somit sehr vielfältige Möglichkeiten der Therapie. Wöchentlich werden hier etwa 350 Kinder behandelt, womit die Abteilung zu einer der größten therapeutischen Psychomotorik-Abteilungen- in Deutschland zählt. Zurzeit besteht das Psychomotorik-Team aus 8 KollegInnen, die fachlich interdisziplinär ausgerichtet sind (Motopädie, Physiotherapie, Rehabilitationspädagogik, Sportwissenschaft, Transdisziplinäre Frühförderung) sowie diverse Zusatzqualifikationen in Psychomotorik und Sensorischer Integration haben. Die Bewegungsräume sind sehr unterschiedlich ausgestattet und bieten neben »klassischem« Psychomotorik- und Bewegungsmaterial verschiedene Ausstattungselemente oder bauliche Besonderheiten im Sinne der Wahrnehmungsförderung und Sensorischen Integration. Neben einem Airtramp mit angrenzendem Großtrampolin und »Sprungturm« bilden u. a. ein großes Bällebad mit schiefer Ebene und Klettergerüst Kernelemente der Räumlichkeiten. Auch gibt es einen Raum, den man vollständig verdun- [ 92 ] 2 | 2022 Insight - Erfahrungen aus der Praxis keln bzw. mit unterschiedlichen Lichtquellen (z. B. Schwarzlicht) ausstatten kann, was vielfältige Möglichkeiten eröffnet, um visuelle und auditive Wahrnehmung im Rahmen der Psychomotorik zu fördern. Die Kinder, die an der psychomotorischen Therapie teilnehmen sollen, werden von dem ÄrztInnenteam in unserer Abteilung angemeldet. Sobald ein passender Therapieplatz frei wird, werden die Eltern direkt von den zuständigen TherapeutInnen kontaktiert. Die regelmäßige Therapie findet 1x in der Woche für 45 Minuten statt, überwiegend in einem altershomogenen Gruppensetting (meist 3-6 Kinder) und häufig von zwei TherapeutInnen begleitet. Dabei kann fachlich individuell entschieden werden, ab welcher Kinderzahl eine Gruppe voll ist- - so kann es sein, dass ein Kind auch erstmal in einem Einzelsetting untergebracht wird, um dann später in eine Kleingruppe von zwei oder drei Kindern integriert zu werden- - je nach Problematik und individueller Bedürfnislage des Kindes. Die Therapiedauer beträgt oft länger als ein Jahr. Mein Berufsalltag In meiner psychomotorischen Berufspraxis im SPZ begegnen mir sehr unterschiedliche Kinder, vor allem Kinder mit Schwierigkeiten in der sensorischmotorischen und / oder sozial-emotionalen Entwicklung, aber auch Kinder mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen oder Behinderungen. Dies macht den Arbeitsalltag sehr abwechslungsreich und spannend, gleichzeitig natürlich auch herausfordernd. So stellt das übergeordnete Ziel der Psychomotorik, die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes über das Medium der Bewegung in ihrer Gesamtheit zu stabilisieren und zu unterstützen (Zimmer 2019), auch in unserer praktischen Arbeit das Kernziel der Therapie dar. Darüber hinaus sind die Therapieziele für die einzelnen Kinder (auch Teilhabeziele im Sinn der ICF) individuell sehr unterschiedlich, da unsere Klientel ein sehr breites Spektrum an Bedarfen mitbringt. Neben der Planung und Durchführung des regelmäßigen Therapieangebotes gehören die enge Zusammenarbeit mit den Eltern in Form von regelmäßigen Gesprächen und Beratung sowie die interdisziplinäre Kooperation mit KollegInnen intern als auch extern mit Institutionen aus dem Lebenskontext des Kindes zu meinen Hauptaufgaben. Neben dem therapeutischen Angebot führen wir zudem sowohl quantitative als auch qualitative Motodiagnostik durch, die ebenfalls von den behandelnden ÄrztInnen angemeldet wird. Die qualitative Diagnostik in der Gruppe stellt hier eine Besonderheit dar, die besonders bei Kindern mit sozial-emotionalen Auffälligkeiten oft deutlich aufschlussreicher ist als eine Beobachtung im ärztlichen Einzel-Setting. ICF-basierte Berichterstellung und Therapiedokumentation sind Aufgaben, die darüber hinaus meinen Berufsalltag prägen. Die Koordination und Durchführung von »Psychomotorik-Schnupper-Terminen« mit Möglichkeiten der Selbsterfahrung für FachschülerInnen, Studierende oder Kita- und Lehrkräfteteams in unserer Abteilung fallen ebenfalls in meinen Aufgabenbereich. Mein theoriegeleiteter Zugang Wie oben beschrieben, bildet der Ansatz der Sensorischen Integration (Ayres 2016) und eine damit verbundene Kindzentrierung einen wichtigen Schwerpunkt der psychomotorischen Therapie im Zentrum für Kindesentwicklung. Das heißt jedoch nicht, dass ausschließlich dieser Ansatz in der Praxis umgesetzt wird- - für Kinder mit Störungen im sensorischen Bereich hat der »Wahrnehmungsanteil« in der Therapie beispielsweise eine andere Bedeutung als für Kinder, bei denen eher der Abbau von Ängsten und eine Stärkung von Selbstvertrauen und weiteren sozial-emotionalen Kompetenzen im Vordergrund stehen. Im Laufe meiner Berufsjahre und der andauernden Entwicklung meiner psychomotorischen professionellen Haltung hat sich für mich bewährt, meine psychomotorische Praxis mithilfe der unterschiedlichen Perspektiven (Fischer 2019, Kuhlenkamp 2017) und einem bewussten Wechsel der Theoriebrillen immer wieder zu analysieren, zu reflektieren und dem individuellen Prozess anzupassen. Handlungsleitend sind für mich dabei außerdem vor dem Hintergrund des humanistischen Menschenbildes die psychomotorischen Förderprinzipien, wie sie Keßel (2014) zusammenfassend dargestellt hat. Insbesondere die Prozessorientierung in einem kindorientierten und von Wertschätzung, Offenheit und Dialog geprägtem Umfeld, erlebe ich in meinem beruflichen Setting als sehr bereichernd für die Therapie. Gleichzeitig ergänzen diese psychomotorischen Prinzipien aus meiner Sicht sehr gut das Leitbild unseres Zentrums, indem der Respekt vor der Persönlichkeit und die Wahrnehmung der Einzigartigkeit eines jeden Kindes als Eckpfeiler der medizinisch-therapeutischen Arbeit verankert sind (Zentrum für Kindesentwicklung 2018). Meine Bedeutsamkeit Die Bedeutung meiner täglichen Arbeit erschließt sich mir am deut- [ 93 ] Mayr • Begleitung von Menschen mit schweren Behinderungen im Wasser 2 | 2022 [ 93 ] Insight - Erfahrungen aus der Praxis 2 | 2022 lichsten aus den Rückmeldungen, die die Kinder nach den Erlebnissen aus den Therapie-Stunden berichten. Dies sind häufig Kinder, die schon (nach nur wenigen Lebensjahren) einen großen Rucksack an Negativ-Erfahrungen und Belastungen auf den Schultern tragen und in ihrem Lebensalltag aus unterschiedlichsten Gründen oft mit Konflikten und für sie schwierigen Situationen konfrontiert werden. Wenn diese Kinder mir mit »Daumen hoch« und »Zehen hoch« in der Reflexionsrunde zeigen, wie viel Freude und positive Erfahrungen sie in der Stunde hatten, aus eigener Idee heraus mit den Händen ein Herz formen »dafür, dass wir uns heute alle so gut verstanden haben« oder mit Stolz in der Stimme erzählen, dass sie sich heute zum ersten Mal etwas Bestimmtes getraut oder etwas geschafft haben, weiß ich, dass meine Arbeit Sinn hat. Auch Eltern berichten oft von einer positiven Entwicklung ihrer Kinder, wundern sich, dass ihre Kinder sich plötzlich so viel zutrauen oder so viel mit anderen sprechen und interagieren. In der Elternberatung erlebe ich besonders den ressourcenorientierten Zugang der Psychomotorik als sehr wertvoll, weil die Eltern unserer Klientel sehr oft zu hören bekommen, was ihr Kind alles nicht kann und eben nicht funktioniert. Gerade dann stärkt es auch die Eltern, wenn Ressourcen ihrer Kinder aufgedeckt werden, und sie öffnen sich meiner Erfahrung nach auch mehr für die Inhalte der Psychomotorik und den therapeutischen Prozess. Auch in der interdisziplinären Zusammenarbeit bekommen wir Rückmeldungen über die Bedeutsamkeit der Psychomotorik, wenn Eltern oder Kinder selbst sich z. B. in Beratungsgesprächen von KollegInnen oder bei den regelmäßigen internen Arztterminen positiv über den Therapieverlauf äußern. Gleichzeitig gibt es auch immer wieder Fälle, wo die Psychomotorik an ihre Grenzen stößt, wo Kinder und Familien andere, zusätzliche oder intensivere Unterstützung z. B. in stationärer Form benötigen. Dies zu erkennen und immer wieder zu reflektieren, ob das Therapieangebot das Passende für Kind und Familie ist, ist ebenfalls elementar. In den meisten Fällen jedoch erlebe ich unseren psychomotorischen Ansatz und unser »Handwerkszeug«- - individuelle, spielerische Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen in einem von stabilen Beziehungen und wertschätzender Haltung getragenen Setting- - als sehr bereichernd für alle Beteiligten. Literatur Ayres, A. J. (2016): Bausteine der kindlichen Entwicklung. 6. korr. Aufl. Springer, Berlin / Heidelberg, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-642-30177-3 Fischer, K. (2019): Einführung in die Psychomotorik. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Keßel, P. (2014): Prinzipien psychomotorischer Entwicklungsförderung. Überlegungen für die fachschulische Erzieherausbildung. Motorik 37 (1), 23-27, http: / / dx.doi.org/ 102378/ mot2014. art05d Kuhlenkamp, S. (2017): Lehrbuch-Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München / Basel, https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783 838587172 Zentrum für Kindesentwicklung (2018): Unser Leitbild. In: kindesentwicklung. com/ wir/ , 31.12.21 Zimmer, R. (2019): Handbuch Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung. 13. Aufl. Herder, Freiburg im Breisgau DOI 10.2378 / mot2022.art17d Kontakt Ricarda Menke Dipl.-Rehabilitationspädagogin (Schwerpunkte Frühförderung und Bewegungserziehung/ -therapie); seit 2013 Psychomotorik-Therapeutin im Zentrum für Kindesentwicklung in Hamburg, nebenberuflich tätig als Lehrbeauftragte und Dozentin r.menke@spz-hamburg.de