eJournals Motorik 45/2

Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Impulse für die Praxis: »Planvolle« Frühförderung - ein Balanceakt zwischen Partizipation und dem Erreichen der Teilhabeziele

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2022
Manuela Rösner
Frühförderung beinhaltet heilpädagogische Leistungen mit dem Ziel, Kinder mit einer (drohenden) Behinderung in ihrer Selbständigkeit, in ihrer Gemeinschaftsfähigkeit und in ihrer Entwicklung zu fördern. Heilpädagogische Förderung gehört zu den Leistungen der sozialen Teilhabe und kann unterschiedliche Schwerpunkte haben, wie beispielsweise die Sprache oder die Spieltherapie.
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[ 94 ] 2 | 2022 Impulse für die Praxis [ IMPULSE FÜR DIE PRAXIS ] »Planvolle« Frühförderung-- ein Balanceakt zwischen Partizipation und dem Erreichen der Teilhabeziele Frühförderung beinhaltet heilpädagogische Leistungen mit dem Ziel, Kinder mit einer (drohenden) Behinderung in ihrer Selbständigkeit, in ihrer Gemeinschaftsfähigkeit und in ihrer Entwicklung zu fördern. Heilpädagogische Förderung gehört zu den Leistungen der sozialen Teilhabe und kann unterschiedliche Schwerpunkte haben, wie beispielsweise die Sprache oder die Spieltherapie. Unter allen Ansätzen soll eine ganzheitliche Förderung gewährleistet werden, um die (drohende) Behinderung abzumildern bzw. abzuwenden. Unter Berücksichtigung der Ressourcen und deren Stärkung unter Einbeziehung der Partizipation soll die Gesamtpersönlichkeit des Kindes gefördert werden (Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB-IX NRW). Nicht eingeschulte Kinder mit den unterschiedlichsten Entwicklungsauffälligkeiten/ -störungen erhalten heilpädagogische Leistungen (Frühförderung), die eingebettet in die Lebenswelt des Kindes erfolgen sollen. Neben Störungen u. a. in der Wahrnehmung, der Kognition und der Motorik, zeigen die Kinder auch Interaktionsstörungen, stereotype Verhaltensweisen und Störungen im sozial-emotionalen Verhalten. Förderung im Balanceakt zwischen Teilehabezielen und Partizipation Partizipation gehört zur psychomotorischen Grundhaltung. Voraussetzung ist das (Bewegungs-)Thema des Kindes mit seinen Bedürfnissen zu erkennen, aufzugreifen und zuzulassen. Im Sinne der Partizipation wird das Kind darin bestärkt sich auszudrücken, sich zu finden und mit ihm gemeinsam Themen bewegt zu erleben. Entscheidungen, wo der Weg hingeht und wie er gestaltet wird, können in der Psychomotorik nur mit dem Kind gemeinsam gestaltet werden. Das Kind wird in den Prozess aktiv eingebunden. Es fühlt sich dadurch angenommen, »gehört« und kann diesen Raum nutzen, Erlebtes und Gefühle besser wahrzunehmen, sich auszudrücken und diese ggf. zu verarbeiten. Zu Beginn der Förderung werden mit den Eltern Förderziele festgelegt. Um den Kindern Raum und Zeit für Entwicklung zu geben und dabei die Förderziele klar im Blick zu behalten, ist die Frühförderung mit einer psychomotorischen Haltung manchmal ein Balanceakt. Um den Förderauftrag zu erfüllen und seiner psychomotorischen Haltung dem Kind gegenüber treu zu bleiben, ist eine gute Teamarbeit mit kollegialer Fallberatung eine große Hilfestellung. Innerhalb dieser Teamarbeit habe ich mit meinen Mitarbeiterinnen eine Möglichkeit gefunden, jedes Kind dort abzuholen wo es steht, um den Weg in der Förderung gemeinsam abzustecken und zu beginnen. Anhand von drei Fallbeispielen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten möchte ich diesen aufzeigen und verdeutlichen. Fall 1: Anna (3; 2 Jahre)* Anna ist ein freundliches Mädchen. Das Licht der Welt hat sie ein paar Wochen zu früh erblickt, sie zählt aber nicht als sogenannte Frühgeburt. Anna fühlt sich sicher, wenn ihre Mutter an ihrer Seite ist. Sie setzt sich gerne auf [ 95 ] Impulse für die Praxis 2 | 2022 In den Wochen zuvor haben wir Fotos von den verschiedensten Materialien, Bewegungslandschaften und Spielen gemacht (Abb.- 2 und 3). Dabei haben wir eine vorläufige Unterteilung vorgenommen: ■ Wahrnehmungsangebote, unterteilt in taktil (wie Schmiermaterialien, Fingermalfarben, Tastspiele) und vestibulär (Hängematte, Schaukelbrett usw.) ■ Körperwahrnehmung (z. B. Körper mit Seilen nachgelegt, »Sandwich« und die Therapiematte »Mattomunkulus«) ■ Fein- und Grafomotorik ■ Bewegungsmaterialien, wie Rollbrett, Balancesteine, Bank u. ä. ■ Bewegungslandschaften zu verschiedenen Themen ■ Schaukeln und andere große Bewegungsmaterialien, wie Kletternetz, Fallschirm oder Trampolin ■ psychomotorische Bausteine ■ Kleinmaterialien, wie z. B. Seile, Heulrohre usw. ■ Alltagsmaterialien (Schwämme, Zeitung, Garnrollen usw.) ■ Rollenspielmöglichkeiten (Kaufladen, Küche, Puppenhaus, Handpuppen u. ä.) ihren Schoß und versteckt sich immer mal wieder hinter ihrem Rücken. Anna geht seit einem Jahr in den Kindergarten. Die Eingewöhnungszeit hat bei ihr sehr lange gedauert. Noch immer weint Anna morgens, wenn sie in den Kindergarten gebracht wird. Ins Spiel kommt Anna noch nicht richtig, da ihr die Kontaktaufnahme zu den anderen Kindern und zu den ErzieherInnen schwerfällt. Neuen Situationen gegenüber zeigt sich Anna eher zurückhaltend und schüchtern. Die Trennung von ihrer Mutter fällt ihr nicht nur im Kindergarten schwer, sondern ist auch im Alltag und bei uns in der Frühförderung zu beobachten. Die Mutter wünscht sich durch die Förderung, dass Anna selbstbewusster wird, keine Tränen mehr im Kindergarten vergießt und einen guten Kontakt zu den Kindern hat. Fall 2: Ben (5; 3 Jahre)* Ben ist ein »Wirbelwind«. Er ist sehr bewegungsfreudig, kreativ und kontaktfreudig. Bei Angeboten im Kindergarten fehlt ihm die notwendige Ausdauer und Konzentration. Im Bereich der Wahrnehmung ist Ben vor allem im vestibulären und taktil-kinästhetischen Bereich förderbedürftig, hier benötigt er sehr starke Reize. Im Kontakt zu anderen fällt es ihm schwer, Regeln und vorgegebene Strukturen anzunehmen, was besonders im Kindergartenalltag auffällt. Einen Sportverein lehnt Ben ab, weil wie er sagt »Da muss ich machen, was die Erwachsenen sagen! «. Die Eltern stehen zunehmend unter Druck vom Kindergarten und im Hinblick auf die Einschulung nach diesem Kindergartenjahr. Ben lehnt Angebote mit Stift und Papier am Tisch sitzend ab. Die Eltern wünschen sich durch die Förderung, dass Ben bis zur Einschulung »schulreif« wird. Er soll sich besser konzentrieren können und sich im Kindergarten »benehmen«. Fall 3: Lisa (4; 3 Jahre)* Lisa ist ein sehr aufgeschlossenes Mädchen. Aufgrund einer Komplikation bei der Geburt hat Lisa eine mittelschwere Intelligenzminderung, wodurch u. a. ihre Sprach-, Sprech- und Empathiefähigkeit beeinträchtigt ist. Lisa zeigt sich manchmal impulsiv und kann sich in solchen Situationen nicht regulieren. Lisa nimmt nicht alle Angebote in der Frühförderung gut an, besonders wenn sie für sie unbekannt sind. Die Eltern wünschen sich für Lisa eine Förderung in allen Bereichen. Besonders die Kommunikation und Gefühle wahrzunehmen und diese zu regulieren liegt ihnen am Herzen. »Was machen wir heute? « Vor Beginn der solitären Frühförderung, ist das Erstgespräch mit Antragstellung und eine heilpädagogische Diagnostik, u. a. mit dem ET6-6R, vorausgegangen. Mit den Eltern wurden vor der Bewilligung die jeweiligen Teilhabeziele und der Förderort (ambulant oder mobil) festgelegt. Bevor die Kinder dann tatsächlich mit der Frühförderung bei uns in der Praxis beginnen, sprechen wir im Team über die einzelnen Kinder. Das breite Feld von Entwicklungsauffälligkeiten/ störungen hat uns im Team dazu bewegt eine Hilfestellung für die Kinder zu entwickeln. Die Idee war, eine Mappe mit Fotos zu erstellen, aus der wir und auch die Kinder aussuchen können, was in der Stunde heute Inhalt sein wird (Abb.- 1). Dies bedurfte einiger Vorbereitung, die sich abschließend für die Förderung aber bewährt hat. Abb.-1: Mappe »Was machen wir heute? « (Alle Fotos: Manuela Rösner) [ 96 ] 2 | 2022 Impulse für die Praxis ■ Spielmöglichkeiten im Garten ■ Gesellschaftsspiele und großräumige Spiele ■ spezielle U3-Angebote ■ Kleingruppenangebote Vor der Entwicklung der Fotos haben wir diese am Computer in Collagen eingebettet. Einlaminiert, auseinandergeschnitten und mit einem Klettpunkt versehen, wurden die Fotos in beschriftete Umschläge einsortiert. Parallel dazu haben wir stabile Mappen gekauft, die auf der Innenseite rechts mit mehreren Klettpunkten (das Gegenstück zu den auf den Fotos) versehen wurden. Auf der linken Seite wurde ein Kunststoffumschlag in DIN A5 befestigt. Aufgrund der Größe des Teams haben wir die Fotos direkt dreimal abgezogen, um gleichzeitig mit den Mappen »Was machen wir heute? « arbeiten zu können. Bei den drei beschriebenen Kindern wurde die Mappe »Was machen wir heute? « unter verschiedenen Aspekten eingesetzt. Zur Vorbereitung der Abb.-2 und 3: Fotos von verschiedenen Materialien, Bewegungs- und Spielsituationen Mappe wurde aus den Briefumschlägen eine Vorauswahl von Fotos getroffen (Abb.-4). Die Fotos wurden entsprechend der Ressourcen und Interessen des Kindes, sowie den Teilhabezielen ausgewählt und in den großen Umschlag auf der Innenseite der Mappe gelegt. Abb.-4: Organisation der Bilder und Vorbereitung der individuellen Mappen Fall 1: Ein guter Start für Anna* Zu Beginn der Förderung war Annas Mutter aktiv in den Förderprozess mit eingebunden. Es bot sich daher die Gelegenheit Anna und ihrer Mutter die Mappe vorzustellen. Auch wenn Anna zu Beginn nicht direkt bei der Auswahl der Fotos mitwirkte, war sie im Schutz der Mutter dennoch sehr aufmerksam und neugierig. Ich zeigte anhand der Fotos, was ich mit Mutter und Kind in dieser Fördereinheit gerne machen möchte und ließ noch genug Freiraum, so dass die Mutter für Anna einen Teil aussuchen konnte. Anna konnte sich so mithilfe der Mappe bildlich vorstellen, was in der Förderung passierte. Das nahm ihr zunehmend die Angst vor Neuem, half ihr sich von der Mutter zu lösen, die Förderung zunehmend anzunehmen und sich aktiv einzubringen. Anna konnte im Laufe der Zeit eine Beziehung zu mir aufbauen, weil ich ihr durch die Mappe Sicherheit gegeben habe. Sie konnte Vertrauen aufbauen und schafft es mittlerweile die Förderung ohne die Mutter wahrzunehmen. Die Ablösung von der Mutter und das gestärkte Selbstvertrauen innerhalb der Frühförderung hat ihr Spiel- und Kontaktverhalten im Kindergarten ebenso positiv beeinflusst. Fall 2: Struktur für Ben* Ben baut und konstruiert gerne. So finden sich im Briefumschlag u. a. zwei bis drei verschiedene Materialien zum kreativen Gestalten. Weitere Fotos zeigen die von mir ausgewählten Ideen zur Erreichung der Teilhabeziele und interessensbezogene Themenkarten für Ben (wie Piraten). Für Ben ist es wichtig, mit mir gemeinsam die Reihenfolge festzulegen. So vereinbaren wir unterschwellig wie in einem »Vertrag«, dass nicht nur seine Interessen und Ideen in der Fördereinheit Berücksichtigung finden, sondern auch meine Bereiche. Das gibt ihm nicht nur eine Strukturhilfe, sondern unterstützt ihn gleichzeitig so in seiner Handlungsplanung. Da Ben es immer wieder schafft, die Ideen seiner ausgewählten Fotos sehr ausgiebig und zeitintensiv umzusetzen, finden wir zunehmend einen Kompromiss auch mal meine Ideen an den Anfang der Stunde zu setzen. Manchmal können wir nicht alle ausgewählten Fotos in dieser Fördereinheit umsetzen und machen dann schon einen gemeinsamen Plan für die Nächste. Mit Hilfe der Mappe konnte Ben sich nun in der Handhabung von Stift, Pinsel und anderen feinbzw. grafomotorischen Hilfsmitteln üben. Er kann Anforderungen, wenn auch noch [ 97 ] Mayr • Begleitung von Menschen mit schweren Behinderungen im Wasser 2 | 2022 [ 97 ] Impulse für die Praxis 2 | 2022 nicht ausdauernd, nun besser annehmen. Mit einem engen Kontakt zum Kindergarten und zu den Eltern konnten wir gemeinsam Ben in seinem sozial-emotionalen Verhalten stärken, so dass seine Verweigerungshaltung für Angebote am Tisch reduziert werden konnte. Fall 3: Kommunikationshilfe für Lisa* Für Lisa mussten die Inhalte auf den Fotos klar und deutlich sein. So wählte ich für uns beide nur eine sehr geringe Anzahl von Fotos aus, mit dessen Hilfe Lisa ihre Interessen und Bedürfnisse ausdrücken und mit mir verstärkt in die Kommunikation gehen konnte. Lisa mag es gerne mit der Mappe zu arbeiten. Zudem konnte ich Lisas Ressourcen, Interessen und Bedürfnisse deutlicher erkennen und im Laufe der Förderung ihre Entwicklungsschritte besser wahrnehmen und wertschätzen. Die Balance zwischen Partizipation, Teilhabezielen und Bedürfnissen Unsere selbst kreierte Mappe ist vielseitig einsetzbar und aus unserem Praxisalltag in der Frühförderung nicht mehr wegzudenken. Sie ist eine »Brücke« in der pädagogischen Arbeit, um unter Berücksichtigung der Teilhabeziele, die Interessen und Ressourcen der Kinder wahrzunehmen und ausreichend Raum und Zeit für Entwicklung zu geben (Abb.-5). *Name geändert Literatur Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX NRW (2021): Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX für Menschen mit Behinderungen. In: https: / / www.lrv-sgbix.org/ de/ landesrahmen vertrag-131-vertragstext/ #landesrahm envertrag-nach-131-sgb-ix-nordrheinwestfalen-barrierefrei, 20.12.2021 DOI 10.2378 / mot2022.art18d Kontakt Manuela Rösner praxis@mototherapie-en.de Abb.-5: Die Mappe als »Brücke« für ein partizipatives Vorgehen