Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Auf den Punkt gebracht: Aktuelles Stichwort: Psychomotorik in (post-)pandemischen Zeiten
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Holger Jessel
»Das für die emotionale und mentale Gesundheit so wichtige Bedürfnis nach körperlicher Nähe erwies sich während der Pandemie als potenziell tödlich. Dieses unerträgliche und toxische Paradox verweist darauf, dass Praxen und Begehren gleichzeitig notwendig und verletzend sein können«, so formulieren es Bayramoglu und Castro Varela (2021, 17).
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[ 142 ] 3 | 2022 motorik, 45. Jg., 142-144, DOI 10.2378 / mot2022.art25d © Ernst Reinhardt Verlag [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Aktuelles Stichwort: Psychomotorik in (post-)pandemischen Zeiten Perspektiven und Potenziale Holger Jessel Einleitung: Herausforderungen »Das für die emotionale und mentale Gesundheit so wichtige Bedürfnis nach körperlicher Nähe erwies sich während der Pandemie als potenziell tödlich. Dieses unerträgliche und toxische Paradox verweist darauf, dass Praxen und Begehren gleichzeitig notwendig und verletzend sein können«, so formulieren es Bayramog˘lu und Castro Varela (2021, 17). Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Bewältigungsmaßnahmen greifen fundamental in unsere Leiblichkeit ein. Die grundlegende Veränderung unserer Körper-, Leib- und Bewegungserfahrungen, die unvertrauten Kontakt- und Beziehungserlebnisse, die veränderte Balance von Nähe und Distanz sowie der kritische Umgang mit Grenzen und Grenzüberschreitungen widerfahren uns unmittelbar. Wir sind von diesen Erfahrungen leiblich betroffen, können dadurch empfindlich eingeschränkt und verletzt werden und spüren die Auswirkungen auf die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse, u. a. die nach Selbstwirksamkeit und positiven Beziehungen. Hartmut Rosa spricht von »Weltreichweitenverkürzung« und vom Coronavirus als »Unverfügbarkeitsmonster« und konstatiert: »Eigentlich ist durch dieses Virus der Alptraum der Moderne Wirklichkeit geworden-- einer Moderne, die alles unter Kontrolle bringen will« (Rosa 2020, o. S.). Bayramog˘lu und Castro Varela gelangen zu folgendem Befund: »Die Fragilität des Lebens, unsere Unsicherheiten, Ängste und Ohnmacht werden uns so schmerzlich bewusst, wie selten zuvor« (Bayramog˘lu / Castro Varela 2021, 16). Die Ergebnisse der COPSY-Studie, die sich auf die erste Welle der Corona-Pandemie beziehen, zeigen, dass sich 70,7 % der Kinder und Jugendlichen und 75,4 % der Eltern durch die Pandemie und die damit einhergehenden Veränderungen belastet fühlen, v. a. durch Homeschooling, den reduzierten Kontakt zu Freunden und häufigeren Streit in der Familie. Außerdem berichteten 40,2 % der befragten 11bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen eine verringerte gesundheitsbezogene Lebensqualität (Ravens-Sieberer et al. 2021, 4). Darüber hinaus stieg die Prävalenz für psychische Auffälligkeiten von 17,6 % vor der Corona-Pandemie auf 30,4 % während der Krise (Ravens-Sieberer et al. 2021, 6). Die Ergebnisse der dritten Welle der COPSY-Studie weisen in eine ähnliche Richtung (Ravens-Sieberer 2022, 18). Welche Beobachtungsperspektiven und Bewältigungspotenziale kann die Psychomotorik in dieser ambivalenten und fragilen Situation zur Verfügung stellen? Psychomotorische Perspektiven auf die Pandemie Zwar muss die Pandemie aus vielen verschiedenen disziplinären und theoretischen Perspek- [ 143 ] Jessel • Aktuelles Stichwort: Psychomotorik in (post-)pandemischen Zeiten 3 | 2022 2. Verschärft durch die Corona-Pandemie lässt sich eine »[…] fortschreitende Entsinnlichung, die Wucherung der digitalen Zeichensysteme […]« (Fuchs 2020a, 138) beobachten, mit deutlichen Beeinträchtigungen von zwischenleiblichen Erfahrungen und des atmosphärischen Spürens. Sämtliche damit verbundenen Resonanz-, Entfremdungs- und Unverfügbarkeitserfahrungen werden im Leibgedächtnis gespeichert (Broschmann / Fuchs 2020, 466ff ). Psychomotorische Angebote können diese Erfahrungen bewusst machen, Räume des Spürens, der Berührung und der achtsamen Begegnung anbieten und Perspektiven der wertschätzenden Begleitung von Entwicklungsprozessen im Sinne einer reflexiven Leiblichkeit eröffnen. 3. Im Verlauf der Corona-Pandemie ist deutlich geworden, dass der Leib eher der missachtete und problematisierte als der positiv betrachtete, wertgeschätzte Leib ist, was sowohl in zwischenleiblichen Interaktionen spürbar wird als auch im gesellschaftlichen Umgang mit unserer leiblichen Existenz. Die Psychomotorik kann einerseits Fragen nach den Auswirkungen auf unseren Habitus klären helfen (u. a. Umgang mit Nähe und Distanz, Körperkontakt und Berührung). Andererseits kann sie Erlebnis- und Reflexionsräume anbieten, die nicht nur in Präsenz, sondern auch in digitalen oder hybriden Kontexten wirksam werden können. 4. Mit ihrer Fokussierung auf Bedürfnisse, Ressourcen und Kompetenzen kann die Psychomotorik wesentlich zu Erfahrungen der Selbstwertstärkung, zur Verbesserung des Wohlbefindens und zu Selbstwirksamkeitserfahrungen beitragen. 5. Die Psychomotorik bietet- - auch im digitalen Raum- - ein großes Potenzial für das aktiv-passive Auftauchenlassen von relevanten Wahrnehmungen, für das Verstehen persönlich bedeutsamer Lebenszusammenhänge und für den achtsamen Umgang mit eigenen und fremden Bedürfnissen. Sie kann auf der Grundlage von professionellen Haltungen, von verkörperten Prinzipien und von Erfahrungs- und Dialogräumen dazu beitragen, dass Menschen Resonanzvertrauen entwickeln und antwortfähig bleiben (Rosa 2022, 57). tiven betrachtet werden, es geht darum, »[…] Muster in den Miseren zu erkennen, […] andere Perspektiven einzunehmen und zu verstehen, wie alles mit allem zusammenhängt« (Brockmann 2021, 215). Hier sollen jedoch vor allem psychomotorische, körper- und leiborientierte Perspektiven dargestellt werden, die zukünftig mit weiteren Blickwinkeln zu verschränken sind. Ich folge zunächst der These von Fuchs, dass Menschen »resonanz- und berührungsbedürftige Wesen« sind, »[…] sie brauchen die leibliche Gegenwart anderer Menschen, sonst trocknen sie aus wie Pflanzen im Sand« (Fuchs 2020b, o. S.). Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen. Die erste betrifft das professionelle psychomotorische Handeln selbst, das auf dieser Zwischenleiblichkeit (Fuchs 2020a, 211) basiert und in Pädagogik, Entwicklungsbegleitung, Therapie und Gesundheitsförderung stattfindet. Ausgelöst durch die Entkörperlichungs- und Distanzierungsprozesse im Zuge der Corona-Pandemie sind sämtliche AkteurInnen gefordert, für die AdressatInnen passfähige und zugleich realistische Beziehungs- und Entwicklungsangebote zu machen und permanent neu zu justieren (Jessel 2021, 31ff ). Die zweite Konsequenz besteht darin, die skizzierten Herausforderungen als Gelegenheiten zur theoretischen und praktischen Selbstvergewisserung der Psychomotorik und zum Bewältigungsoptimismus zu begreifen. Aus der Perspektive unseres leiblichen »Zur- Welt-Seins« (Merleau-Ponty 1966, 106) macht die Corona-Pandemie damit zwei Phänomene spürbar: die Dimensionen der Widerfahrnis und der aktiven Weltzuwendung. Daraus ergeben sich mit Blick auf die Psychomotorik nicht nur Herausforderungen, sondern vor allem Potenziale, sie betreffen das praktische Handeln und die theoretische Auseinandersetzung gleichermaßen. Potenziale der Psychomotorik in (post-)pandemischen Zeiten 1. Eine psychomotorische Perspektive auf die Corona-Pandemie macht verstehbar, wie vulnerabel wir sind, nicht nur als biologische, sondern v. a. als leibliche, soziale, resonanz- und berührungsbedürftige Wesen (Rosa 2016, 747ff ). [ 144 ] 3 | 2022 Auf den Punkt gebracht Ausblick Zwei zentrale Voraussetzungen für das Entstehen von Resonanzvertrauen sind Angstfreiheit und Ressourcenverfügbarkeit (Rosa 2016, 206 und 418). Das Erleben der und die öffentlichen Diskurse zur Corona-Pandemie sind jedoch einerseits stark angstdominiert (u. a. Bayramog˘lu / Castro Varela 2021, 16) sowie durch Unsicherheit und Nichtwissen charakterisiert, und andererseits hat die Corona-Pandemie massive soziale Ungleichheiten verdeutlicht und für die AkteurInnen spürbar gemacht. So zeigen etwa die Ergebnisse der COPSY-Studie, dass diejenigen Kinder und Jugendlichen besonders belastet waren, »[…] deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss haben, die einen Migrationshintergrund haben und / oder die auf beengtem Raum leben […]« (Ravens-Sieberer et al. 2021, 6). In dieser komplexen Konstellation verfügt die Psychomotorik-- wie gezeigt-- über bedeutsame Potenziale der Perspektivenerweiterung und sie kann Bewältigungschancen eröffnen, die unmittelbar mit unserer körperlich-leiblichen Existenzweise verbunden sind. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, die Anschlussfähigkeit dieser Perspektiven an andere disziplinäre Blickwinkel zu sichern. Nicht zuletzt ist die Psychomotorik selbst als Disziplin und Methode durch die Corona-Pandemie mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, die zu einer leiblich spürbaren und theoretisch begründbaren Selbstvergewisserung beitragen können. Die beschriebenen Aufgaben und Potenziale werden auch in postpandemischen Zeiten relevant bleiben. Literatur Bayramog˘lu, Y., Castro Varela, M. d. M. (2021): Post/ pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität. transcript Verlag, Bielefeld, https: / / doi. org/ 10.1515/ 9783839459386 Brockmann, D. (2021): Im Wald vor lauter Bäumen. Unsere komplexe Welt besser verstehen. dtv, München Broschmann, D., Fuchs, T. (2020): Zwischenleiblichkeit in der psychodynamischen Psychotherapie. Ansatz zu einem verkörperten Verständnis von Intersubjektivität. Forum der Psychoanalyse, 36 (2020) 4, 459-475, https: / / doi.org/ 10.1007/ s00451-019-00350-z Fuchs, T. (2020a): Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Fuchs, T. (2020b): Wie soll man mit dieser psychischen Grenzsituation umgehen? Thomas Fuchs im Gespräch mit Elisabeth von Thadden. Zeit online. In: https: / / www.zeit.de/ kultur/ 2020-04/ krisensi tuationen-coronavirus-grenzsituation-karl-jaspersphilosophie, 19.03.2021 Jessel, H. (2021): Zwischenleiblichkeit in distanzierten Zeiten. Resonanztheoretische, leibphänomenologische und psychomotorische Perspektiven. In: Jessel, H./ Krus, A. (Hrsg.): Psychomotorik digital. Praxis und Theorie der Psychomotorik in distanzierten Zeiten. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo, 11-37 Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. de Gruyter, Berlin, https: / / doi. org/ 10.1515/ 9783110871470 Ravens-Sieberer, U., Erhart, M., Devine, J., Gilbert, M., Reiss, F., Barkmann, C., Siegel, N., Simon, A., Hurrelmann, K., Schlack, R., Hölling, H., Wieler, L. H., Kaman, A. (2022): Child and Adolescent Mental Health During the COVID-19 Pandemic: Results of the Three-Wave Longitudinal COPSY Study (February 2, 2022), http: / / dx.doi.org/ 10.2139/ ssrn.4024489 Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Otto, C., Adedeji, A., Napp, A.-K., Becker, M., Blanck-Stellmacher, U., Löffler, C., Schlack, R., Hölling, H., Devine, J., Erhart, M., Hurrelmann, K. (2021): Seelische Gesundheit und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie- - Ergebnisse der COPSY-Studie. Bundesgesundheitsblatt 64, 1512-1521 (2021), https: / / doi. org/ 10.1007/ s00103-021-03291-3 Rosa, H. (2022): »Die Weltbeziehung zu ändern, ist die tiefste Revolution überhaupt«- - Hartmut Rosa im Gespräch mit Svenja Flaßpöhler. Philosophie Magazin, 01/ 2022, 52-57 Rosa, H. (2020): »Wir verlieren durch Corona soziale Energie«- - Hartmut Rosa im Gespräch mit Doris Helmberger-Fleckl. In: https: / / www.furche.at/ gesellschaft/ hartmut-rosa-wir-verlieren-durch-co rona-soziale-energie-3519128, 19.03.2021 Rosa, H. (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Der Autor Prof. Dr. phil. Holger Jessel Dipl.-Motologe, Professor für Psychomotorik in sozialpädagogischen Handlungsfeldern an der Hochschule Darmstadt Anschrift Prof. Dr. phil. Holger Jessel Hochschule Darmstadt Fachbereich Soziale Arbeit Adelungstr. 53 D-64287 Darmstadt holger.jessel@h-da.de
