Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Insight - Erfahrungen aus der Praxis: Der Psychomotorik-Verein - Psychomotorische Wirksamkeitserfahrungen im Kontext eines überschaubaren Sozialraumes
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Hubert Bisping
Jeder Verein hat seine eigene Geschichte.
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[ INSIGHT-- ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS ] [ 145 ] Insight-- Erfahrungen aus der Praxis 3 | 2022 Der Psychomotorik-Verein-- Psychomotorische Wirksamkeitserfahrungen im Kontext eines überschaubaren Sozialraumes Mein Setting Jeder Verein hat seine eigene Geschichte. Ich komme daher nicht daran vorbei, etwas zur Spezifik der Vereinsgründung von Beweggründe e. V. zu schreiben. Sie geht zurück auf die Initiative von 3 MotologInnen der ersten Stunde: Gerd Bröcker, Dorothee Beckmann-Neuhaus, Hubert Bisping. 1996 wurde er in Sendenhorst, einer westfälischen Kleinstadt in der Nähe von Münster gegründet. Mit Gerd Bröcker ist die Stelle des 1. Vorsitzenden seit 25 Jahren konstant besetzt. Der Name »Beweggründe« sollte durch seine Offenheit und Mehrschichtigkeit insbesondere das ganzheitliche, persönlichkeits- und entwicklungsorientierte psychomotorische Verständnis des Vereins symbolisieren. Ursprünglich war die Vereinsgründung eher als Experiment gedacht und in seinen Entwicklungspotenzialen nicht wirklich planbzw. vorhersehbar gewesen. Es war aber beabsichtigt, dass der Verein »klein bleiben« sollte, um seine fachliche Qualität entwickeln und eine Durchdringungsintensität im Sozialraum ermöglichen zu können. Der Verein ist u. a. Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband sowie in der Deutschen Gesellschaft für Psychomotorik e. V. und anerkannt als »freier Träger der Jugendhilfe«. Das enge Zusammenwirken von ehrenamtlicher Vorstandsarbeit und hauptbzw. nebenamtlich tätigen MotologInnen und MotopädInnen bildet die Grundlage seiner Entwicklung. Neben den seit 1997 bestehenden dezentralen psychomotorischen Angeboten in Turnhallen und Bewegungsräumen in Sendenhorst und Umgebung konnte im Jahr 2011 als eine der prägenden Entscheidungen des Vorstandes, mit großer gemeinsamer Anstrengung und Risikobereitschaft aller Beteiligten, durch den Erwerb und den Umbau einer alten Gewerbehalle eine eigene Psychomotorische Förderstelle als Forum Bewegung und Begegnung in der Mitte des Sozialraumes eröffnet werden. Sie dient als barrierefreie Anlauf- und Kontaktstelle für alle Angebote des Vereins. Eine 130 m² große und 5 m hohe Bewegungshalle (Abb. 1) sowie ein 70 m² großes Foyer bieten insbesondere Raum für vielfältige psychomotorische Angebote und anregende Begegnungen. Perspektivisch hat sie dem Verein in Zeiten zunehmend eingeschränkter Nutzbarkeit öffentlicher Bewegungsräume (wie z. B. in der Zeit der Corona-Pandemie) viele Handlungsmöglichkeiten erhalten und den Spielraum für neue Angebote und Kooperationen eröffnet. Die Angebotsvielfalt gestaltet sich über psychomotorische Förderangebote für Kinder und Jugendliche (vorwiegend in Kleingruppen von 3-6 Kindern, 1x / Woche / 50 Min.), aber auch für junge Erwachsene und ältere Menschen mit beginnender Demenz. Dazu werden Bewegungsräume, Naturräume, Wasser und Pferd als Medien für die psychomotorische Entwicklungsbegleitung genutzt. Kinder und Jugendliche werden vorgestellt auf Anraten der Kinder-, Familien- oder FachärztInnen, von pädagogischen-und therapeutischen-Fachkräften, von Fachkräften aus den Bereichen Erziehungsberatung und Kinder- und Jugendhilfe. Die Finanzierung wird getragen durch Mischfinanzierungskonzepte- (Elternbeiträge, Sozialhilfe- und Jugendhilfeleistungen, Projektgelder, Spenden, …). Fachliche Kooperationen bestehen v. a. mit den Psychomotorik- Vereinen in Hamm und Münster sowie mit weiteren im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) or- [ 146 ] 3 | 2022 Insight-- Erfahrungen aus der Praxis ganisierten Psychomotorik-Vereinen in NRW im Rahmen regelmäßiger Treffen. Mein Berufsalltag Mein Berufsalltag als Leiter der Psychomotorischen Förderstelle lässt sich nur begreifen auf der Basis meiner engen Verflechtung mit der 25-jährigen Vereinsentwicklung. Einerseits verstehe ich mich als Nahtstelle zwischen Team und Vorstand: dabei geht es um Themen wie Konzeptentwicklung, Projektentwicklung, Vernetzungs- und Öffentlichkeitsarbeit, Akquise finanzieller Mittel. Andererseits bin ich als Teamleitung v. a. für die Begleitung und Unterstützung der psychomotorischen Fachkräfte und die konzeptionelle Weiterentwicklung psychomotorischer Förderangebote zuständig: Planung und Durchführung von Teamgesprächen-und -fortbildungen, Angebote von kollegialen Fallgesprächen, Organisation und fachliche Anleitung von PraktikantInnen der naheliegenden Fachschulen für Motopädie in Hamm und Unna. Darüber hinaus besteht ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt in der Durchführung von Erstvorstellungen und -beratungen, in der Leitung psychomotorischer Fördergruppen sowie in der Durchführung begleitender Eltern- und Kooperationsgespräche. Die Herausforderung für mich ist es, den Spagat in der Spannbreite aus den unterschiedlichen Arbeitsaufträgen zufriedenstellend für mich selbst und alle Beteiligten hinzubekommen. Sie ist aber auch gleichzeitig Bereicherung meines beruflichen Arbeitsalltages. Die konkrete motologische / psychomotorische Arbeit ist dabei wesentlich durch meine psychomotorische Grundhaltung bestimmt, die sehr handlungs-, stärken- und beziehungsorientiert sowie systemisch ausgerichtet ist: basierend auf dem Motologie-Studium Anfang der 80er Jahre in Marburg, erweitert durch die 10-jährige motologische Tätigkeit in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung sowie gestärkt und fokussiert durch vielfältige Anregungen im Rahmen des berufsverbandlichen Austausches und durch begleitende Fort- und Weiterbildungen, aber auch aus der Dozententätigkeit für die Deutsche Akademie für Psychomotorik. Diese Haltung wird weiter bestärkt durch meine jahrelange Erfahrung und immer wieder bestätigte Erkenntnis, über Spiel, Bewegung und Beziehung im sozialen Kontext vielfältige, auch tiefgreifende Entwicklungspotenziale initiieren zu können. Auf dieser Basis ist es mir ein Anliegen, ein psychomotorisches Förderkonzept mit dem Team zu entwickeln, das v. a. einer pädagogischen und weniger einer therapeutischen Ausrichtung gerecht wird. Diese Grundrichtung findet sich in allen Bereichen psychomotorischen Arbeitens wieder: in den konkreten psychomotorischen Förderangeboten genauso wie bei Elternbzw. Kooperationsgesprächen, im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen genauso wie im Kontakt mit Erwachsenen und älteren Menschen. So wird beispielsweise der Erstkontakt mit Kind und Eltern gemeinsam in der Bewegungshalle als vertrauensbildendes und beziehungsausgerichtetes Angebot verstanden: während das Kind in Begleitung eine vorbereitete Spiel- und Bewegungslandschaft zum freien Ausprobieren nutzen kann, können im Beisein der Eltern Informationen ausgetauscht, Fragen beantwortet und erste Arbeitsaufträge geklärt werden, die im Verlauf des Förderprozesses überprüft und konkretisiert werden. Darüber hinaus ist es mir ein Anliegen, die unterschiedlichen beteiligten Systeme (unser fachliches Team, die Familien, pädagogische und therapeutische Einrichtungen,-…) nicht aus dem Blick zu verlieren und in den psychomotorischen Förderprozess zu integrieren (Durchführung praktischer Elternabende, psychomotorische Angebote für Eltern und Kind, Informations- und Fortbildungsveranstaltungen). Mein theoriegeleiteter Zugang Die Grundlagen meiner Arbeit sind nicht einem theoretischen Ansatz zuzuordnen. Ich hatte die große Chance, in einer Zeit der Entwicklung unter- Abbildung 1: Bewegungshalle (Foto: Gerd Bröcker) [ 147 ] Jessel • Aktuelles Stichwort: Psychomotorik in (post-)pandemischen Zeiten 3 | 2022 [ 147 ] Insight-- Erfahrungen aus der Praxis 3 | 2022 schiedlichster psychomotorischer Ansätze beruflich ausgebildet zu werden und beruflich aktiv zu sein. Während meine psychomotorische Tätigkeit in den Anfängen v. a. auf handlungs- und kompetenzorientierten Ansätzen basierte, hat meine professionelle Weiterentwicklung vertiefend über die Kenntnis und Ausbildung in beziehungs- und systemischen psychomotorischen Ansätzen stattgefunden. Gleichzeitig sind das Interesse und die Notwendigkeit des Weiterdenkens und -wirkens immer eng an die gesellschaftlichen Veränderungen geknüpft gewesen. Auch innerhalb der 25 Jahre Vereinstätigkeit kann eine deutliche Verschiebung dieser Fragestellungen im Kontext psychomotorischer Erstvorstellungen beobachtet werden: während in den ersten Jahren noch motorische Fragen und Wahrnehmungsprobleme in Verbindung mit Selbstwertfragestellungen im Vordergrund standen, haben sich in den letzten Jahren sehr viel stärker emotionale Unsicherheiten sowie gravierende Beziehungs- und Kommunikationsprobleme in den Vordergrund gedrängt. Die psychomotorischen Förderangebote sind zunehmend an fachliche und persönliche Herausforderungen geknüpft. Dies verlangt ein hohes Maß an selbstreflexiver Arbeit sowie kollegialer Fallberatung. Ein sich dabei selbst unterstützendes Team ist dafür die gewinnbringende Grundlage. Unterschiedlichkeit sowie das Akzeptieren derselben ist dabei Teil des Entwicklungsprozesses. Dies den Kindern, Jugendlichen und Eltern durch eine stärkenorientierte und beziehungsausgerichtete psychomotorische Grundhaltung zu vermitteln, stellt für mich eine der zentralen Aufgaben meines psychomotorischen Arbeitens dar. Meine Bedeutsamkeit Die Bedeutsamkeit meiner Arbeit zeigt sich konkret und unmittelbar in der zu beobachtenden Freude, Motivation und Energie der Kinder, sich im psychomotorischen Raum ausprobieren und entwickeln zu können (»Ausprobieren ist das Wichtigste! «) sowie in der positiven Rückmeldung der Eltern über das Erleben unserer stärkenorientierten und beziehungsausgerichteten psychomotorischen Haltung, die ihnen offensichtlich die aktive Beteiligung am Förderprozess erleichtert. Sie zeigt sich im Erleben der Grundzufriedenheit der MitarbeiterInnen in ihrem psychomotorischen Arbeitskontext, aber auch im Erleben des dem Verein Beweggründe e. V. nach 25-jähriger Wirksamkeit entgegengebrachtem Vertrauen und in der Überzeugung, einen positiven Beitrag im Sozialraum für Familien leisten zu können. Als konkretes Beispiel für die strukturelle Wirkung von motologischer / psychomotorischer Arbeit sei an dieser Stelle auf das Kinder- und Jugendhilfeprojekt »Sprungbrett« verwiesen, das 2008 nach einer Bedarfsanalyse in den Kitas des Sozialraumes mit einer 3-jährigen Projektförderung der Aktion Mensch gestartet wurde und mittlerweile im 14. Jahr finanziell nachhaltig abgesichert und fachlich auf breiter Basis im Sozialraum getragen wird. Zielgruppe sind »Kinder mit besonderem Förderbedarf« aus den Kitas, die in Familien unter »erschwerten bzw. benachteiligten Lebensbedingungen« leben. Der niederschwellige, präventive und emanzipatorische Ansatz zielt auf die Entwicklungsunterstützung sowie die Stärkung der Bildungschancen durch das psychomotorische Angebot im Zusammenwirken von Kind, Familie und Kita. Das aktive Einbeziehen der Eltern in den psychomotorischen Förderprozess scheint immer mehr einer der wichtigsten Bausteine in der Vereinsarbeit zu werden. Die Chance dazu besteht in der Niedrigschwelligkeit der Hilfsangebote. Zukünftig wird es zunehmend intensiver um die Vernetzung und Kooperation v. a. mit den pädagogischen Systemen gehen. Von Vereinsseite sind wir überzeugt, daran mitwirken zu können. DOI 10.2378 / mot2022.art26d Kontakt Hubert Bisping Diplom-Motologe, seit 1996 im Psychomotorik-Verein Beweggründe e. V. in Sendenhorst tätig und bis 2021 als Leiter der Psychomotorischen Förderstelle. hubert.bisping@gmx.de; beweggruende@t-online.de
