eJournals Motorik 45/4

Motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2022
454

Forum Psychomotorik: Ich - Du - Wir: Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen in Bewegung

101
2022
Mone Welsche
Franziska Heinzel Lichtwark
In diesem Beitrag wird ein im Rahmen des Freiburger Bildungspakets finanziertes Projekt zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen nach dem Konzept der Beziehungsorientierten Bewegungspädagogik (Welsche 2018) an einer Grundschule vorgestellt. Nach einer kurzen Darstellung der Rahmenbedingungen wird die Wahl des Konzeptes für das Projekt begründet und eine exemplarische Stunde beschrieben, bevor Beobachtungen zu den Kindern einen Einblick geben, wie das Projekt angenommen wurde.
7_045_2022_004_0170
Zusammenfassung / Abstract In diesem Beitrag wird ein im Rahmen des Freiburger Bildungspakets finanziertes Projekt zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen nach dem Konzept der Beziehungsorientierten Bewegungspädagogik (Welsche 2018) an einer Grundschule vorgestellt. Nach einer kurzen Darstellung der Rahmenbedingungen wird die Wahl des Konzeptes für das Projekt begründet und eine exemplarische Stunde beschrieben, bevor Beobachtungen zu den Kindern einen Einblick geben, wie das Projekt angenommen wurde. Schlüsselbegriffe: Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik, sozial-emotionale Kompetenzen, Grundschule Me-- You-- We: Enhancing social-emotional competences through movement. A project with second year primary school students In this paper a project in primary school is described in which the approach of Sherborne Developmental Movement (SDM) was used to enhance the development of social-emotional competences in second year primary school students. The basic conditions of the project, the theoretical baseline and the concept of SDM are briefly described before an exemplary session and observations made in class are given. Keywords: Sherborne Developmental Movement (SDM), socialemotional competences, elementary school [ 170 ] [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] 4 | 2022 motorik, 45. Jg., 170-177, DOI 10.2378 / mot2022.art32d © Ernst Reinhardt Verlag Ich-- Du-- Wir: Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen in Bewegung Ein Schulprojekt mit ZweitklässlerInnen im Rahmen des Freiburger Bildungspaketes Mone Welsche, Franziska Heinzel Lichtwark auch für 5. und 6. Klassen allgemeinbildender Schulen, die Möglichkeit, Projektmittel für die Zusammenarbeit mit außerschulischen PartnerInnen zu beantragen, um insbesondere sozial benachteiligten, bildungsfernen und besonders förderbedürftigen Kindern und Jugendlichen durch zusätzliche pädagogische Maßnahmen mehr Teilhabe an Bildungsangeboten zu ermöglichen. In den Förderkriterien werden die Inhalte und Ziele, die mit diesen Maßnahmen verknüpft sind, konkreter gefasst: »Die Schaffung von Erlebnis- und Bildungsmöglichkeiten sowie eine gezielte Förderung sollen zur Erweiterung der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen beitragen und / oder spezielle Förderbedarfe abdecken.« (Seiler 2015, 1). Unter Berücksichtigung eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses sollen die Maßnahmen als integraler Bestandteil der jeweiligen Schulform durchgeführt werden und können dabei auf verschiedenste methodische und inhaltliche Schwerpunkte setzen. Mit dem Bildungspaket wurde auf die sehr unterschiedlichen Chancen und Bedingungen, die Kinder in unserer Gesellschaft haben, reagiert, um Benachteiligung abzubauen und eine möglichst breitgefächerte Förderung aller Kinder im Bildungsbereich zu ermöglichen. Die Corona-Pandemie verschärft die Situation einiger Kinder massiv und stellt gerade die Grundschu- Das Freiburger Bildungspaket und die Auswirkungen der Corona- Pandemie In Freiburg besteht seit dem Schuljahr 2011/ 12 für Grund- und Sonderschulen, und mittlerweile [ 171 ] Welsche, Heinzel Lichtwark • Ich-- Du-- Wir: Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen 4 | 2022 len vor große Herausforderungen. Es müssen nicht nur jene Kinder erreicht und unterstützt werden, die von den Einschränkungen während des Lockdowns besonders betroffen waren und möglicherweise auch noch sind. GrundschullehrerInnen berichten in persönlichen Gesprächen sehr eindrücklich darüber, dass viele Kinder in den Klassen erstmal (wieder) »in der Schule ankommen müssen«. Dazu gehöre nicht nur die Konzentration auf den Lernstoff, sondern auch das Zurechtkommen in der Gruppe und mit den Regeln des Zusammenseins in der Schule. Gerade im sozial-emotionalen Bereich wird bei vielen Kindern, ob sie nun aus einer sozial benachteiligten Familie kommen oder nicht, ein Unterstützungs- und Nachholbedarf gesehen. In einer Stellungnahme fasst die Leopoldina (2021, 6) mit Blick auf die Studienlage zusammen: »Die Pandemie hatte in vielfältiger Hinsicht Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, vor allem in den Bereichen Bildung, soziale Interaktion und sozioemotionale Entwicklung, körperliche Aktivität sowie psychisches Wohlbefinden« (Bujard et al. 2021, 6). Gerade junge Menschen mit »knappen Ressourcen« seien hier besonders betroffen. Die Ergebnisse der COPSY Studie zeigen eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, psychosomatische Beschwerden sowie emotionale Probleme gerade bei Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien (Ravens-Sieberer et al. 2021). In der Stellungnahme der Leopoldina (2021) wird auf die bereits vor der Pandemie sichtbaren Entwicklungen hingewiesen, dass eine vergleichsweise große Anzahl von Kindern aufgrund niedriger schulischer Kompetenzen mit dem Übergang auf weiterführende Schulen überfordert ist. Eine Problematik, die sich durch die Corona-Pandemie verstärkt zu haben scheint. Lerneinbußen im Grundschulalter werden als besonders groß eingeschätzt, auch hier scheinen Kinder mit Leistungsschwächen und auch aus sozial benachteiligten Familien besonders betroffen zu sein. Bujard et al. (2021, 74) betonen in ihrer Untersuchung zu Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona- Pandemie: »Angesichts der sich abzeichnenden Bildungsrückstände sollte beachtet werden, dass die Stärkung der Kinder und Jugendlichen in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer psychischen Gesundheit mindestens ebenso wichtig ist (…). Es gilt eine gute Balance zu finden, wonach Lernrückstände zunächst differenziert erfasst und dann langfristig aufgeholt werden sollten und kurz- und mittelfristig Lebensfreude und Freizeit mit Gleichaltrigen ermöglicht werden sollten. Denn psychisch gesunde und selbstsichere Kinder können mögliche Lernrückstände deutlich schneller und leichter aufholen«. Sie fordern, dass Schulen und bildungspolitische EntscheidungsträgerInnen diesen Zusammenhang konsequent berücksichtigen. In ihren Empfehlungen wird die Stärkung des sozialen Miteinanders durch Bewegungsangebote in Kitas und Schulen explizit betont. Im Rahmen des Freiburger Bildungspaketes werden an der Pestalozzi Grundschule mit den SchülerInnen unterschiedliche Projekte realisiert. Alle Projekte, die von außerschulischen PartnerInnen durchgeführt werden, sind so strukturiert, dass jeweils eine Hälfte der Klasse individuelle Lernrückstände in einer Förderstunde aufarbeiten kann, während die andere Gruppe an dem jeweiligen Projekt teilnimmt. Rahmenbedingungen des Projektes Das Projekt nach dem Sherborne Konzept startete im Herbst 2021. Mit der Idee, dass die Kinder durch Entspannungs- und Bewegungsübungen Selbstregulation lernen und sozial-emotionale Kompetenzen gefördert und weiterentwickelt werden können, wurde von der Schulleitung ein bewegungspädagogisches Angebot angedacht. Da die außerschulische Fachkraft nicht nur Tanz- und Bewegungspädagogin, sondern auch angehende Heilpädagogin ist, fiel die Wahl zur inhaltlichen Gestaltung des Projektes auf das Konzept der Beziehungsorientierten Bewegungspädagogik (Welsche 2018). Im Freiburger Umfeld wird es seit einigen Jahren erfolgreich in der heilpädagogischen Arbeit in der Frühförderung, in Kindertagesstätten und auch in sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren eingesetzt (Welsche / Theil 2021, 2020; Theil/ Welsche 2019; Friedrich / Welsche [ 172 ] 4 | 2022 Forum Psychomotorik 2017). Beobachtungen in der Praxis wie auch kleinere nationale und internationale Studien weisen darauf hin, dass sich Gruppenangebote, die nach diesem Konzept gestaltet wurden, positiv auf die Entwicklung von Kindern auswirken können (Theil et al. 2022; Theil/ Welsche 2019; Überblick zu internationalen Studien bei Welsche 2018). Im ersten Durchgang war das Projekt für zehn Wochen konzipiert, sodass jede Gruppe an fünf Stunden im Schulhalbjahr teilnehmen konnte. Mittlerweile wurde es verlängert. Das Projekt findet mit allen drei zweiten Klassen der Grundschule wöchentlich für 45 Minuten statt. Die Stunden sind in den Vormittagsunterricht und damit in den Schulalltag integriert. Die Gruppenleiterin wird jeweils von einer Studierenden der Heilpädagogik an der KH Freiburg unterstützt, so dass immer zwei Erwachsene etwa 10-12 Kinder begleiten. Das Konzept Das Konzept, entwickelt von Veronica Sherborne (1922-1990), zeichnet sich durch die Orientierung am Gegenstand der Beziehungsgestaltung aus (Welsche 2018). Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Kinder sich in ihrem Körper zu Hause fühlen, über eine möglichst gute Körperbeherrschung verfügen und Beziehungen gestalten können sollten. Die positive Wahrnehmung der eigenen Person und die Erfahrung der körperlichen und räumlichen Sicherheit stellt in diesem Sinne die Basis für eine vertrauensvolle und verantwortungsbewusste Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen dar. Das Verständnis von »Beziehung« beinhaltet sowohl die Beziehungsgestaltung zur eigenen Person wie auch zu anderen Menschen. Über Bewegungsimpulse zu Körper-, Bewegungs- und Raumwahrnehmung und zu den Beziehungsdimensionen Füreinander, Gegeneinander und Miteinander wird die Beziehungsgestaltung gefördert (Tab.-1). Sherborne nennt die Erweiterung der Körperkenntnis, des Selbstvertrauens, der physischen und emotionalen Sicherheit und der Kommunikationsfähigkeit als zentrale Ziele ihres Konzeptes (Welsche 2018). In der Durchführung der Stunden wird auf die Orientierung an den Ressourcen der Kinder großen Wert gelegt. Die Aktivitäten werden den Möglichkeiten und Bedürfnissen der Teilnehmenden angepasst, so dass sich jedes Kind mit seinen Fähigkeiten und Interessen einbringen kann. Freude und Kompetenzerleben stehen im Vordergrund und fördern die Motivation sich zu engagieren und Herausforderungen anzunehmen (Tab. 2). Über gemeinsames Bewegen und Körperkontakt treten die Fachkräfte aktiv mit den Kindern in Beziehung. So soll eine wertschätzende und vertrauensvolle Beziehung zwischen den Kindern und PädagogInnen entstehen, die nicht nur aus heilpädagogischer Perspektive eine wichtige Grundlage pädagogischen Handelns (Eitle 2012; Fischer / Renner 2015), sondern auch in schulischen Kontexten eine wesentliche Bedingung für gelingendes Lernen darstellt (Überblick in Herrmann 2019). Durch die ressourcenorientierte Arbeitsweise in Kombination mit der Fokussierung auf den Beziehungsaspekt im bewegten Miteinander erschien das Konzept sehr passend, um bei den Kindern die Entwicklung und Stabilisierung ihrer sozial-emotionalen Kompetenzen zu unterstützen. Zudem fördert der Verzicht auf Materialien den Körperkontakt zwischen den Teilnehmenden und ermöglicht so in besonderer Weise die Wahrnehmung des eigenen Körpers und die unmittelbare Erfahrung von Beziehungen. Exemplarische Stunde Die Stunden sind nach einer bestimmten Logik aufgebaut, die anhand eines exemplarischen Stundenbildes dargestellt wird (Tab. 3). Jede beginnt im Anfangskreis. Die Leitung begrüßt die Kinder und wiederholt mit ihnen die Stunden-Regeln: die Stopp-Regel sowie sich Über Bewegen im Körperkontakt kann-eine wertschätzende Beziehung entstehen. [ 173 ] Welsche • Ich-- Du-- Wir: Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen 4 | 2022 [ 173 ] Welsche, Heinzel Lichtwark • Ich-- Du-- Wir: Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen 4 | 2022 Tabelle 1: Beziehungsgestaltung im Sherborne Konzept Tabelle 3: Exemplarisches Stundenbild Beziehung zur eigenen Person ■ v. a. Ganzkörperbewegungen, um ein ganzheitliches Körpergefühl und Stabilität zu entwickeln ■ Förderung eines breiten Bewegungsrepertoires, verstanden als Handlungs- und Ausdrucksrepertoire, über Explorieren von Bewegungsqualitäten ■ Exploration des persönlichen und allgemeinen Raumes, um einen angemessenen Umgang mit Nähe und Distanz und räumliche Sicherheit zu entwickeln Beziehung zu anderen Personen ■ Füreinander-Beziehungen als körperlich unterstützender Umgang mit der PartnerIn, um körperliche und emotionale Sicherheit zu erfahren und gleichzeitig als Unterstützende/ r Kompetenzerleben zu ermöglichen ■ Gegeneinander-Beziehungen als faires Kräftemessen, um die eigene Kraft wahrzunehmen und zielgerichtet einzusetzen. Die Kinder können sich durchsetzen (aktiv) oder Widerstand leisten (passiv). Damit können Durchsetzungsvermögen entwickelt, Selbstständigkeit, Abgrenzungs- und Individuationserfahrungen gefördert werden ■ Beide PartnerInnen können in Miteinander-Beziehungen gegenseitige Abhängigkeit erleben. Balanceaktivitäten, in welchen die eigene Stabilität aufgegeben werden muss, um eine gemeinsame Stabilität zu entwickeln, stehen im Vordergrund Tabelle 2: Didaktische Prinzipien des Sherborne Konzeptes Didaktische Prinzipien ■ Präsenz und Gemeinschaftsgefühl ■ Erfahrungsmöglichkeiten statt Übungen ■ Kreativität und Wertschätzung ■ Partizipation und Engagement ■ Freude statt Konkurrenz und Leistung ■ Emotionale Sicherheit ■ Personenzentrierung und Differenzierung ■ Selbstbestimmung und Initiative ■ Zeit ■ Ressourcenorientierung ■ Bewusste Körperwahrnehmung Einstieg ■ Anfangskreis: Ankommen & Begrüßung, Regeln ■ Kreisspiel: Körper-, Selbst-, Bewegungs- und Raumwahrnehmung Hauptteil ■ Flugzeugspiel: Bewegungsdrang nachgehen, Gruppen- und Raumwahrnehmung, »Füreinander« ■ Liegen; groß / klein: Entspannung, Körper-, Selbst- und Raumwahrnehmung, Aufmerksamkeit und Fokussierung ■ Lokomotive: »Füreinander«, Vorbereitung für »Gegeneinander« Abschluss ■ Abschlusskreis: Erlebtes benennen, Wertschätzung [ 174 ] 4 | 2022 Forum Psychomotorik selbst und niemand anderem absichtlich weh zu tun. Es folgt ein Aufwärmspiel im Kreis, bei dem alle ihre Körperteile nacheinander abklopfen und durchkneten, um diese »aufzuwecken«. Dies soll den Kindern helfen, sich und ihre Körpergrenzen besser wahrzunehmen. Auf spielerische Weise führt die Pädagogin die Kinder durch verschiedene Aufwärmbewegungen, wie z. B. den »Katzenbuckel« auf allen Vieren. Die Kreisform und das direktive Bewegungsspiel im Vor- und Nachmachen wurden gewählt, um vor allem jene Kinder zu unterstützen, die von einem freieren Arrangement zu Beginn der Stunde überfordert wären. In dieser Struktur können und sollen sie sich auf die Anleiterin und die Wahrnehmung der eigenen Bewegungen konzentrieren, bevor die folgenden Aktivitäten freier gestaltet werden. Dynamik- und Ebenenwechsel sollen helfen, mit der Aufmerksamkeit bei der Aktion zu bleiben. Die Leitung führt z. B. alle Kinder schnell in den Kreis und schnell wieder auseinander, um dann langsam zum Boden zu sinken, ohne dass ein Geräusch zu hören ist. Vom Boden geht es als wachsende Pflanze bis in den Himmel und wieder langsam zurück auf den Boden. So entsteht ein Übergang zum Drehen auf dem Boden als explorativer Impuls. Die Leitung greift Vorschläge der Kinder auf, wie man sich drehen kann. Viele probieren unterschiedliche Arten aus, z. B. in Rücken-, Seit- oder Bauchlage, auf dem Gesäß oder alles gemischt, sodass sie umfallen und sich dabei weiterdrehen (Abb. 1). Abbildung 1: Drehen und Wirbeln Nachdem ausreichend Zeit gegeben wurde, um das Drehen zu erkunden, führt die Pädagogin die Kinder ins Stehen zurück und kündigt ein Spiel an, in welchem alle als Flugzeuge durch den Raum laufen und dabei nicht zusammenstoßen sollen. Mit diesem Spielimpuls wird die Beziehungsdimension des Füreinander angeboten. Wenn sich ein Kind auf den Boden legt, wird es entweder von anderen aufgetankt oder an Händen und Füßen in die Werkstatt (blaue Matte) transportiert. Auch die Erwachsenen lassen sich abschleppen oder helfen beim Transport beschädigter Flugzeuge. Im Abschleppen können die Kinder Verantwortung übernehmen, sich dabei in Beziehung zu anderen als selbstwirksam und kompetent erfahren. Auch bekommen sie häufig wertschätzende Rückmeldungen der reparaturbedürftigen Flugzeuge, die es ihrerseits genießen, abgeschleppt und versorgt zu werden. Durch den großen Freiraum im Spiel kann jedes Kind selbst entscheiden, wann es in welche Rolle geht. Durch eine Ansage zur Landung im Liegen entsteht ein Übergang von Aktivität zu Ruhe. Die Pädagogin unterstützt den Prozess des Zur-Ruhe-Kommens, indem sie die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Körperwahrnehmung lenkt und z. B. fragt, welche Körperteile den Boden berühren. Sind die Kinder mit dem Stillliegen überfordert, erfolgt der Impuls, sich im Wechsel ganz klein oder ganz groß zu machen (Abb. 2+3), jeweils mit einer kleinen Pause zwischen dem Kinesphärenwechsel, um die Konzentration auf sich selbst zu unterstützen. Abbildung 2+3: Klein und Groß machen [ 175 ] Welsche • Ich-- Du-- Wir: Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen 4 | 2022 [ 175 ] Welsche, Heinzel Lichtwark • Ich-- Du-- Wir: Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen 4 | 2022 Eventuell fordert sie die Kinder anschließend dazu auf, ohne hinzusehen und vielleicht sogar mit geschlossenen Augen, dem Geräusch ihrer Schritte zu folgen, während sie durch die Turnhalle geht und dorthin zu zeigen, wo sie stehen bleibt. Nach diesem Moment der Ruhe und Konzentration kommen die Kinder zum Sitzen und finden sich in Paaren zusammen. Die Anleiterin demonstriert mit einem Kind die Lokomotive (Abb. 4). Abbildung 4: Lokomotive Anschließend schieben sich die Paare abwechselnd durch den Raum. Dabei sitzt ein Kind passiv mit ausgestreckten Beinen, während das andere aktiv seine Kraft mobilisieren muss, um mit seinen Beinen, Rücken und Becken das andere Kind schieben zu können. Durch den Rollenwechsel bekommt jedes Kind die Möglichkeit, sowohl die aktive Rolle als auch den passiven Part ausprobieren zu können. Am Ende der Stunde parken alle Lokomotiven im Abschlusskreis. Jedes Kind darf erzählen, was ihm besonders gut gefallen hat und warum. Beobachtungen Alle Kindergruppen nahmen das Angebot sehr interessiert wahr. Das Körperaufwecken am Anfang der Stunde funktionierte gut. Der Dynamikwechsel half dabei, mit der Aufmerksamkeit bei der Pädagogin und der Aktion zu bleiben. Eine Herausforderung war es, einzelne Kinder nicht zu überfordern, hier halfen die ruhigeren Momente, wie z. B. Zeitlupenbewegungen. Besonders großen Spaß hatten viele am Drehen und Wirbeln auf dem Boden und daran, dem Bewegungsfluss bis zum Umfallen freien Lauf zu lassen. Hier konnten sie zeigen, was sie können und sich ausgedacht haben. Da diese Sequenz körperlich eher fordernd ist, konnten die Kinder ihrem Bewegungsdrang nachgeben und, ohne sich im Raum zu »verlieren«, körperliche Anspannung abbauen. Das Drehen als Ganzkörperbewegung ermöglicht in besonderer Weise die Wahrnehmung des Körperzentrums, des freien Bewegungsflusses und in der Konsequenz das Umfallen. Vor allem das Loslassen schienen viele Kinder besonders zu genießen. Gerade im Schulalltag, in dem sie sich eher kontrollieren müssen, bieten solche Bewegungsimpulse nicht nur Abwechslung, sondern auch ein Übungsfeld, den Wechsel zwischen Selbstkontrolle und freiem Fluss zu gestalten. Nach der Konzentration auf den eigenen Körper und die eigene Bewegung bietet das Flugzeugspiel die Möglichkeit, sehr direkt Beziehung zu den anderen Kindern und auch zu den Erwachsenen zu gestalten. Die Möglichkeit, sich zu bewegen, wie man selbst möchte und sich a) von anderen versorgen zu lassen und / oder b) andere zu versorgen und sich so als kompetent zu erleben, wurde von den Kindern begeistert aufgegriffen. Für einige bestand der größte Spaß darin, mit anderen fast oder tatsächlich zusammenzustoßen, sich auf den Boden fallen und abtransportieren zu lassen oder sich gegenseitig zu jagen. Manche fielen aufeinander und schienen den Körperkontakt sehr zu genießen. Nur wenige Kinder flogen allein durch den Raum. In einer Stunde entwickelte sich das Spiel so, dass eine kleine Gruppe von Kindern eine Massenkarambolage spielte und auf dem Boden auf- und beieinander liegend, z. T. sich an den Händen haltend, gespannt warteten, was passieren würde. Zur Freude dieser Kinder und auch der durch die Leitung herbeigerufenen Reparaturcrew wurden sie alle zusammen auf die Matte transportiert, was von den Reparaturflugzeugen eine gute Zusammenarbeit erforderte. Auf den erfolgreichen Transport reagierten die AbschlepperInnen sichtlich stolz. Für manche Kinder war es außerdem ein großes Vergnügen, auch die Erwachsenen abschleppen zu dürfen. [ 176 ] 4 | 2022 Forum Psychomotorik In diesem Spiel fiel auf, dass manche Kinder wenig Ausdauer hatten und sich schon früh auf die Pausenmatte setzten. Oft fanden die Kinder schnell von allein wieder ins Spiel. Der Übergang auf den Boden gelang meist gut, da die Mehrzahl der Kinder nach dem Flugzeugspiel das Bedürfnis nach einer Pause hatte, wobei einige trotzdem Schwierigkeiten zeigten, diese ruhig zu gestalten. Je nach Tagesform wurde erst oder ausschließlich eine aktive Form der Entspannung angeboten, z. B. durch den Impuls, sich im Liegen im Wechsel möglichst klein oder groß zu machen. Wenn die Kinder damit ruhiger wurden, folgte eine passive Entspannung und Konzentration auf die Schritte der Pädagogin. Aus Beobachterinnenperspektive schien es, als würde vielen Kindern der Fokus auf den Raum und die Leitung leichter fallen als auf den eigenen Körper. Durch Wiederholung dieser Sequenz im Verlauf des Projektes gelang es den meisten Kindern zunehmend besser, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Auch die folgende Aktivität der Lokomotive nahmen alle Kinder mit großem Interesse an. Die Pädagoginnen achteten darauf, dass jedes Kind eine/ n PartnerIn finden konnte und boten sich selbst als Partnerinnen an, falls hilfreich. Während das Spiel eigentlich die wechselseitige Unterstützung im Füreinander als Vorbereitung auf ein späteres Rücken an Rücken wegschieben ermöglichen sollte, fanden einige Paare in der Sequenz einen eigenen Sinn. Sie veranstalteten mit anderen Paaren Lokomotiven-Rennen und arbeiteten dabei zusammen, statt sich gegenseitig zu schieben. Manchen machte es auch Spaß, mit anderen Paaren absichtlich zusammenzustoßen. Im Sinne des Konzeptes ließ die Leitung es zu, dass die Kinder ihren Ideen nachgehen können, schenkte dem Tun der Kinder Aufmerksamkeit und zeigte Wertschätzung für deren Ideen. Als Variation schlug sie im Verlauf dann vor, das gegenseitige Schieben auszuprobieren und zeigte mit einem Kind noch einmal, wie das gehen könnte. Die meisten Paare nahmen diese Idee auf und probierten sich aus, wobei immer mal Unterstützung der Pädagoginnen notwendig war, um zu zeigen, wie die Kraft durch Anspannung der Körpermitte und Aktivierung der Körperverbindungen gezielt eingesetzt werden kann. Den Abschlusskreis nutzten alle Kinder gerne, um zu sagen, was ihnen besonders gut gefallen hat. Hier genossen viele die Aufmerksamkeit der Leitung sichtlich. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei allen Kindern ein großer Wunsch nach Beziehung, zueinander und zu den Pädagoginnen und Bewegung zu beobachten war. Alle reagierten auf das ressourcenwie beziehungsorientierte Angebot, in welchem sie sich mit ihren Ideen einbringen und viele Bedürfnisse ausleben konnten, hoch motiviert. War die Stimmung in der Gruppe von Beginn an gut, verliefen die Stunden allerdings wesentlich harmonischer, als wenn es bereits vorher Probleme im Miteinander gab, die sich in der Bewegungsstunde zeigten und von den Erwachsenen nur z. T. aufgegriffen werden konnten, da der zeitliche Rahmen eng und die Beziehung zu den Kindern noch nicht ausreichend stabil war. Waren Kinder so belastet, dass sie den Gruppenkontext nicht halten konnten, konnten sie-- zu ihrem eigenen Schutz und nicht als Strafe- - am Förderunterricht mit der Klassenlehrerin teilnehmen. Diese Möglichkeit wurde im Verlauf des Projektes allerdings nur wenige Male genutzt. Reflexion und Ausblick Auch wenn jede einzelne Stunde so gestaltet sein sollte, dass jedes Kind förderliche Erfahrungen machen kann, wären eine Doppelstunde und ein längerer Projektzeitraum wünschenswert. Es braucht Zeit, um in einen gemeinsamen Prozess zu kommen, welcher die Entwicklung bzw. Stabilisierung der Selbstwahrnehmung sowie der sozialen Kompetenz unterstützen kann. Ideal wäre es zudem, wenn die KlassenlehrerIn mehr in das Projekt involviert werden könnte, um die Kinder in einem anderen Kontext wahrnehmen und die einzelnen Prozesse mitverfolgen zu können. Trotz des kurzen Zeitraumes und gruppenspezifischer Unterschiede war eine Veränderung bei allen Kindern zu spüren und zu beobachten. Sie zeigten im Laufe der Stunden nicht nur eine bessere Selbstwahrnehmung, sie gaben auch zunehmend auf sich selbst und auf die anderen [ 177 ] Welsche • Ich-- Du-- Wir: Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen 4 | 2022 [ 177 ] Welsche, Heinzel Lichtwark • Ich-- Du-- Wir: Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen 4 | 2022 Acht. Selbst in konfliktreichen Stunden war die große Freude der Kinder an Bewegung, Körperkontakt, Beziehung und Kreativität zu spüren. Im nächsten Schuljahr ist ein weiteres Projekt in Kooperation mit der KH Freiburg geplant, in welchem das Konzept, unter Leitung einer Dozentin der KH und von 12 Studierenden begleitet, zur Förderung des sozialen Miteinanders im Sportunterricht einer 1. Klasse angewendet und evaluiert wird. Literatur Bujard, M., von den Driescha, E., Ruckdeschela, K., Laßa, I., Thönnissenb, C., Schumanna, A., Norbert, F., Schneider, A. (2021): Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.12765/ bro-2021-02 Eitle, W. (2012): Basiswissen Heilpädagogik. Bildungsverlag EINS, Köln Fischer, H., Renner, M. (2015): Heilpädagogik. Heilpädagogische Handlungskonzepte in der Praxis. Lambertus, Freiburg im Breisgau Friedrich, B., Welsche, M. (2017): Beziehung in Bewegung. Ein Eltern-Kind-Projekt. Praxis der Psychomotorik 42 (1), 12-19 Herrmann, U. (2019): Pädagogische Beziehungen. Grundlagen, Praxisformen, Wirkungen. Beltz Juventa, Weinheim / Basel Leopoldina (2021): Ad-hoc Stellungnahme. In: https: / / www.leopoldina.org/ fileadmin/ redaktion/ Publika tionen/ Nationale_Empfehlungen/ 2021_Corona viurs-Pandemie_Klare_und_konsequente_Ma% C3%9Fnahmen.pdf, 07.06.2022 Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Erhart, M., Otto, C., Devine, J., Löffler, C., Hurrelmann, K., Bullinger, M., Barkmann, C., Siegel, N. A., Simon, A. M., Wieler, L. H., Schlack, R., Hölling, H. (2021): Quality of life and mental health in children and adolescents during the first year of the COVID-19 pandemic: results of a two-wave nationwide population-based study. European Child and Adolescent Psychiatry, 1-14, https: / / doi.org/ 10.1007/ s00787- 021-01889-1 Seiler, S. (2015): Freiburger Bildungspaket. Förderkriterien. In: https: / / www.freiburg.de/ pb/ site/ Frei burg/ get/ params_E-596146623/ 1022304/ Foerder kriterien-FBP.pdf, 07.06.2022 Theil, F., Burger, Th., Welsche, M. (2022): Bewegungsorientierte Selbstkonzeptförderung als Vorschulprojekt im Kindergarten. Ergebnisse einer quantitativen Pilotstudie im Interventions-/ Kontrollgruppendesign. Motorik 45 (4), 194-202 Theil, F., Welsche, M. (2019): Förderung des Selbstkonzepts bei Grundschulkindern mit sozial-emotionalem Unterstützungsbedarf nach dem Konzept der Beziehungsorientierten Bewegungspädagogik. Praxis der Psychomotorik 44 (4), 213-222 Welsche, M., Theil, F. (2021): Ich-- Du-- Wir: Förderung des Selbstkonzeptes und der Beziehungskompetenz in einer inklusiven Kindergruppe. In: BHP Verlag (Hrsg.): Heilpädagogik in der Kita. Inklusive Konzepte zu Diagnostik, Methoden und Beratung im Elementarbereich. BHP Verlag, Berlin, 127-144 Welsche, M., Theil, F. (2020): Beziehung durch Bewegung: ein heilpädagogisches Projekt für jugendliche Mädchen. Praxis der Psychomotorik 45 (3), 165-172 Welsche, M. (2018): Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik. Ernst Reinhardt, München Die Autorinnen Mone Welsche Professorin für Entwicklungsförderung im Kindes- und Jugendalter an der Katholischen Hochschule Freiburg, Arbeitsschwerpunkt in bewegungsorientierten Ansätzen in Heilpädagogik und Sozialer Arbeit Franziska Heinzel Lichtwark Tanz- und Bewegungspädagogin, cand. B. A. Heilpädagogik Anschrift Prof.in Dr. Mone Welsche Katholische Hochschule Freiburg Karlstrasse 63 79104 Freiburg mone.welsche@kh-freiburg.de