eJournals Motorik 45/4

Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Insight - Erfahrungen aus der Praxis: Mit fußballspielenden Hunden schwierige Situationen meistern

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Lara Fabel
Mein Arbeitsort befindet sich im Schulhaus einer Gemeinde in der Nähe der Schweizer Stadt Luzern.
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[ INSIGHT-- ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS ] [ 203 ] Insight-- Erfahrungen aus der Praxis 4 | 2022 Mit fußballspielenden Hunden schwierige Situationen meistern Erfahrungen einer Psychomotoriktherapeutin im schulnahen Setting der Deutschschweiz Lara Fabel Mein Setting Mein Arbeitsort befindet sich im Schulhaus einer Gemeinde in der Nähe der Schweizer Stadt Luzern. Als Teil der Schuldienste sind wir PsychomotoriktherapeutInnen für die Abklärung und Therapie von Kindern mit motorischen, sensorischen, emotionalen und sozialen Entwicklungsauffälligkeiten oder Beeinträchtigungen und die Beratung derer Eltern und weiteren involvierten Fachpersonen verantwortlich. Zudem gibt sich die Möglichkeit zur Mitarbeit in Förder- und Innovationsprojekten. Neben der Psychomotoriktherapie gehören auch die Schulpsychologie, die Logopädie sowie die Schulsozialarbeit zu den Angeboten der Schuldienste. Diese sind Teil der Volksschule und für die Familien kostenlos. Vornehmlich betreuen wir Kinder von vier bis etwa zwölf Jahren, vereinzelt gehören auch Kinder im Vorschulalter zu unserer Klientel. Die Kinder werden von den Lehrpersonen und / oder Eltern für eine psychomotorische Abklärung angemeldet. Im Rahmen einer solchen Abklärung wird der Bedarf an einer Psychomotoriktherapie durch eine PsychomotoriktherapeutIn eingeschätzt und in Absprache mit Eltern und Lehrpersonen wird entschieden, ob eine Psychomotoriktherapie durchgeführt wird oder nicht. In unserer Therapiestelle arbeiten vier PsychomotoriktherapeutInnen mit unterschiedlichen Pensen. Uns stehen zwei großzügig ausgestattete Therapieräume, ein geteiltes Büro sowie ein Gesprächsraum zur Verfügung. Nicht jede Gemeinde im Kanton Luzern betreut eine eigene Psychomotoriktherapiestelle. So sind wir, neben den Kindern der Gemeinde, auch für Kinder aus vier umliegenden Gemeinden zuständig. Als Vorteil dieser Zentralisierung sehe ich die Möglichkeit, die Räumlichkeiten an einem Ort umfangreicher auszustatten sowie die engen interprofessionellen Austauschmöglichkeiten im TherapeutInnen-, Schuldienst- und Lehrpersonenteam. Den Nachteil betrifft vor allem die Familien der umliegenden Gemeinden, die den Transport der Kinder in die Psychomotoriktherapie selbst organisieren müssen. Mein Berufsalltag In meinem beruflichen Alltag begegne ich einer großen Vielfalt an Kindern, die sich auf sehr unterschiedlichen Entwicklungsstufen bewegen. Die Kinder besuchen die Psychomotoriktherapie in der Regel einmal wöchentlich einzeln oder im Zweierbis Dreiergruppensetting. Gerne möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Einblick in eine Einzeltherapie geben: In der ersten Morgenlektion kommt der siebenjährige Lian*. Er ist ein offener, aufgestellter und kreativer Junge mit großem Interesse für die Natur und Tiere. Seine Frustrationstoleranz ist noch gering und es ist schwierig für ihn, sich und seine Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. In gewissen Situationen zeigt er zudem nur wenig Selbstvertrauen. Er hat heute neben ihm sitzend seinen Plüschhund Charlie dabei. »Ich möchte heute mit dem Tischfußballkasten spielen«, sagt Lian. Ich lasse ihn entscheiden, eine Geschichte, bei der der Spielverlauf vorbestimmt ist, oder ein reguläres Spiel zu spielen. Falls er sich für ein reguläres Spiel entscheidet, ließe ich ihn nicht absichtlich gewinnen, teile ich ihm noch mit. Fairerweise würde ich ihm altersbedingt einige Punkte Vorsprung gewähren. Ein Regelspiel soll es * Name erfunden [ 204 ] 4 | 2022 Insight-- Erfahrungen aus der Praxis heute sein, den Punktevorsprung lehnt er ab. Lian gewinnt die erste Runde knapp und freut sich jubelnd über den Sieg. Selbstbewusst begibt er sich in die zweite Runde, welche er 5: 9 verliert. Nun fällt Lian in sich zusammen, redet sich schlecht und legt sich seinen Plüschhund haltend weinend auf den Boden. Er verlangt mehrere Male, etwas anderes zu spielen. Ich frage ihn, ob er eine Möglichkeit sähe, dass wir das Fußballspiel nochmals spielen und er in 15 Minuten die Stunde positiv abschließen kann. Nach einigen Minuten setzt Lian die Pfoten des Plüschhundes an den Tischfußballkasten. Gegen wen er denn spielen möchte, frage ich den Hund. Dieser antwortet: »Gegen einen anderen Hund«. Ein anderer Plüschhund ist schnell geholt und die beiden Hunde fangen eifrig an zu spielen. Schlussendlich gewinnt Lians Hund jubelnd. Mithilfe der Hunde kann er am Schluss der Lektion das Spiel reflektieren, sein Hund kann meinen mit guten Argumenten trösten und sagen, dass Verlieren gar nicht so schlimm sei. Ich lobe Lian, dass er sich und dem Spiel mithilfe des Hundes noch einmal eine Chance geben konnte. Auch melde ich ihm zurück, dass er sich eine schwierige Aufgabe gestellt hat, indem er ohne Punktevorsprung gegen mich spielte. Wir einigen uns darauf, dass beim nächsten Mal ein Punktevorsprung für ihn fair wäre. Die Lektion schließen wir mit einem Ritual: Lian und ich schreiben auf ein Kärtchen, was ihm in der heutigen Lektion gut gelungen ist und legen das Kärtchen in seine »Schatzkiste«. So verlässt er die Stunde gestärkt und in guter Stimmung. Neben der Durchführung von Therapielektionen gehören auch Gespräche mit den Eltern, Lehrpersonen der Kinder und weiteren involvierten Fachpersonen zu meinem Alltag. Fragen wie: »Welche Fortschritte zeigt das Kind in der Psychomotorik? « »Welche Strategien unterstützen es im Alltag? « werden regelmäßig mit dem Umfeld besprochen. Ich empfinde meinen Berufsalltag als sehr abwechslungsreich und auch nach einigen Berufsjahren bieten sich mir immer noch täglich neue Herausforderungen, die mir ein hohes Maß an Flexibilität, Belastbarkeit, aber auch Organisations-, Team- und Kommunikationsfähigkeit abverlangen. Mein theoriegeleiteter Zugang »Der Haltung und der Arbeitsweise der PsychomotoriktherapeutInnen- liegt- ein humanistisches Menschenbild zugrunde. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die KlientInnen mit ihren individuellen Eigenschaften und Bedürfnissen«-- so steht es im Berufsbild der PsychomotoriktherapeutInnen (Psychomotorik Schweiz 2021, 14), welches meine Grundhaltung als PsychomotoriktherapeutIn widerspiegelt. In der Arbeit ist mir die Professionalisierung unseres Berufes durch forschungsbasierte Ansätze ein großes Anliegen. Als kleine Studienrichtung orientieren wir uns auch an Nachbardisziplinen. Um die Bedürfnisse von Kindern verschiedener Altersstufen einzuschätzen und das- Umfeld entsprechend zu beraten, orientiere ich mich an der Entwicklungspsychologie. Methoden wie das oben beschriebene Schlussritual »Kompliment an sich selbst schreiben«, stammen aus der positiven Psychologie. In der Beratung von Fachpersonen und Eltern orientiere ich mich an der systemischen Beratung, in der die »KlientInnen als ExpertInnen ihres Lebens« betrachtet werden und in der Lösung von Problemen den aktiven Part übernehmen (Bamberger 2010, 17). In diesem Prozess sehe ich mich als Begleiterin. Meine Bedeutsamkeit Die Mutter von Lian berichtet mir mit einem Strahlen im Gesicht, wie selbstbewusst sich ihr Sohn seit kurzem an neue Herausforderungen heranwage. Lian selbst erzählt, dass er gestern im Turnen »gar nicht laut geworden sei« als seine Gruppe verloren hat und seine Lehrperson kann nun mit Lian in Unterstützung seines Plüschhundes Situationen, in denen es doch Mal schwierig wird, besprechen und reflektieren: Meine Wirksamkeit misst sich für mich im Berufsalltag vor allem an der Zufriedenheit der KlientInnen. Mit der humanistischen Haltung als Basis sehe ich die Wirksamkeit der Psychomotoriktherapie für die verschiedensten Lebenssituationen unserer KlientInnen: Jede Lebens- und Gesellschaftsform bringt ihre eigenen Probleme mit sich. Mit der Haltung der Bedürfnisorientierung kann auf diese individuellen Probleme und Bedürfnisse eingegangen werden und durch die Begleitung individuelle Lösungen gefunden werden. Literatur Bamberger, G. G. (2022): Lösungsorientierte Beratung. Praxishandbuch. 6. Aufl. Beltz, Weinheim Psychomotorik Schweiz (2021): Berufsbild Psychomotoriktherapeut*in. In: https: / / www.psychomotorik-schweiz. ch/ beruf/ berufsbild, 30.05.2022 DOI 10.2378 / mot2022.art36d Kontakt Lara Fabel, Psychomotoriktherapeutin (EDK) und MA »Frühe Kindheit«, seit 2014 in der Schweiz im Regel- und Sonderschulsetting für Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten tätig. Freiberufliche Fachreferentin für verschiedene Entwicklungsthemen im Frühbereich info@larafabel.ch