eJournals motorik 45/1

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2022.art02d
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2022
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Effizientes Lernen: Psychomotorische Lehr- und Lernmethode

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2022
Otmar Weiß
Bewegung spielt eine wichtige Rolle für Bildung und Gesundheit. In dem Beitrag wird gezeigt, dass durch Bewegung die Gefühle Selbstbestimmtheit und soziale Anerkennung ausgelöst werden und effizientes Lernen ermöglicht wird. Damit einher gehen gute soziale Beziehungen und emotionale Sicherheit, die im Rahmen der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode angestrebt werden.
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Zusammenfassung / Abstract Bewegung spielt eine wichtige Rolle für Bildung und Gesundheit. In dem Beitrag wird gezeigt, dass durch Bewegung die Gefühle Selbstbestimmtheit und soziale Anerkennung ausgelöst werden und effizientes Lernen ermöglicht wird. Damit einher gehen gute soziale Beziehungen und emotionale Sicherheit, die im Rahmen der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode angestrebt werden. Schlüsselbegriffe: Psychomotorische Lehr- und Lernmethode, Selbstbestimmtheit, soziale Anerkennung, effizientes Lernen Efficient learning: Psychomotor teaching and learning method Movement plays an important role for education and health. This article shows that through movement, feelings of self-determination and social recognition are triggered, and efficient learning is facilitated. This is accompanied by good social relationships as well as emotional security, which are goals of the psychomotor teaching and learning method. Keywords: Psychomotor teaching and learning method, selfdetermination, social recognition, efficient learning [ 4 ] 1 | 2022 motorik, 45. Jg., 4-9, DOI 10.2378 / mot2022.art02d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Effizientes Lernen: Psychomotorische Lehr- und Lernmethode Otmar Weiß positive Charakterbildung und den Selbstwert von Kindern förderlich sind (z. B. Hardre / Reeve 2003; Jang et al. 2012; Ryan / Deci 2016). Mit guten Lernergebnissen ist vor allem dann zu rechnen, wenn die Lernmotivation der Kinder auf Selbstbestimmtheit und nicht so sehr auf Fremdbestimmtheit beruht (Guay et al. 2008; Weiß et al. 2020). Die psychomotorische Lehr- und Lernmethode kann das ermöglichen, weil sie auf eine Stärkung der Selbstbestimmtheit (intrinsische Motivation) abzielt und gleichzeitig soziale Anerkennung (extrinsische Motivation) gewährleistet. In Ergänzung zur empirischen Studie »Psychomotorik in der Schule« (Weiß et al. 2020), in der das Potential, aber auch Verbesserungsmöglichkeiten der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode aufgezeigt wurden, werden im vorliegenden Beitrag theoretische Anhaltspunkte und Prinzipien der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode dargestellt. 1. Selbstbestimmtheit durch Lernen in Bewegung Wir freuen uns, wenn unser Körper gut funktioniert. Die unbändige Freude an Bewegung könnte man als muskuläre Freude oder stille Musik des Körpers bezeichnen. Im Idealfall kommt es zu einer Verschmelzung von Handeln und Bewusstsein. Moshe Feldenkrais (1996) spricht von »awareness« (Bewusstheit). Seine These lautet »Bewusstheit durch Bewegung«. Ähnlich Schon seit Jahrzehnten wird über Schule und verschiedene Bildungsmethoden diskutiert. Nach wie vor besteht eine große Kluft zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und schulischer Praxis. Das derzeitige Bildungssystem basiert überwiegend auf extrinsischen Motivationsfaktoren, das heißt, auf externen Leistungsbeurteilungen und auf Schulnoten. Es ist jedoch wissenschaftlich bewiesen, dass extrinsische Motivationsfaktoren- - also solche, die von außen durch Belohnung und Strafe anreizen-- im Vergleich zu intrinsischen Motivationsfaktoren schwächer wirksam und weniger für die [ 5 ] Weiß • Effizientes Lernen: Psychomotorische Lehr- und Lernmethode 1 | 2022 spricht der Autor Mihaly Csikszentmihalyi (1990) von »autotelischer Tätigkeit« bzw. vom »Flow-Erlebnis«. Diese Theorie besagt im Wesentlichen, dass Menschen in einer Aktivität aufgehen, sich selber vergessen können, wenn sie den dabei an sie gestellten Anforderungen voll gewachsen sind. Das selbstvergessene Tun-- das Erlebnis-- ist das Ziel, zum Beispiel beim Arbeiten, Laufen, Wandern, Spielen usw. Flow-Erlebnisse lassen eine spontane Handlungsfreude aufkommen. Hirnphysiologisch ist das Flow-Erlebnis durch nachweisbare Ausschüttung der Glückshormone Dopamin und Serotonin gekennzeichnet. Diese Botenstoffe oder Endorphine ermöglichen Glücksgefühle und eine einzigartige Erlebnisqualität. Die Freude an Bewegung zählt zu den wichtigsten intrinsischen Motiven. Die intrinsische Motivation beschreibt den Willen, etwas aus dem Inneren heraus und aus eigener Entscheidung gerne zu tun, weil es Freude bereitet und sinnvoll erscheint. Intrinsisch bedeutet selbstbestimmt und äußert sich in eigenverantwortlicher, schöpferischer Gestaltung. Maria Montessori nennt es die Polarisation der Aufmerksamkeit: »Und jedesmal, wenn eine solche ›Polarisation der Aufmerksamkeit‹ stattfand, fing das Kind an, sich vollständig zu verändern, ruhiger, man könnte fast sagen, intelligenter und mitteilsamer zu werden« (Montessori, 1926, 73). Im Rahmen der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode wird Bewegung und damit Selbstbestimmtheit (intrinsische Motivation) ermöglicht. Kinder können ihren Bewegungsdrang ausleben und für ihre körperliche und geistige Entwicklung nutzen. Bewegung spielt eine wichtige Rolle bei der Wechselwirkung zwischen motorischen und psychischen Prozessen. Bewegung macht Kindern Spaß und bewirkt, dass sie mit großer Begeisterung an eine Sache herangehen. Bei Kindern ist das Grundbedürfnis nach Bewegung besonders stark ausgeprägt. Ohne Bewegung wäre die Entwicklung zu einer gesunden und selbständigen Persönlichkeit nicht möglich. Bewegung ist ein wichtiger Teil des Lebens und Lernens. Die psychomotorische Lehr- und Lernmethode verweist auf die besondere Funktion, die Körper- und Bewegungserfahrungen für die Ent- »Die Welt erschließt sich dem Kind über Bewegung, Schritt für Schritt ergreift es von ihr Besitz. Mit Hilfe von körperlichen Erfahrungen und Sinneserfahrungen bildet es Begriffe; im Handeln lernt es Ursachen und Wirkungszusammenhänge kennen und begreifen. Dabei spielen insbesondere die körpernahen Sinne eine wichtige Rolle: Wahrnehmung über die Körpersinne, die Haut, über die Bewegung und das Gleichgewichtsempfinden, die Wahrnehmung der eigenen Position und Lage im Raum vermitteln dem Menschen ein Bild von der Welt und von sich selbst in ihr-… Über den Körper und über die Bewegung setzen Kinder sich mit ihrer materialen, aber auch mit ihrer sozialen Umwelt auseinander, sie lernen, sich einzuschätzen und gewinnen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Sie erleben sich als Urheber von Veränderungen und gewinnen damit die Voraussetzungen für den Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes« (Zimmer 2015, 10f ). wicklung von Kindern haben. Wenn Bewegung im Spiel ist, sind Kinder konzentrierter und aktiver bei der Sache. In jedem Fach ist es möglich, Inhalte bewegungs- und gegenstandsorientiert zu vermitteln. So kann etwa das Ergebnis einer Rechenaufgabe vorgeben, wie oft ein Ball geschupft und gefangen werden soll. Die Bewegungsaufgabe ist mit dem Unterrichtsgegenstand inhaltlich verbunden. Kinder können in der Bewegungsaufgabe die Bedeutung und den Inhalt der kognitiven Aufgabe erfahren. Körper und Geist werden gleichzeitig aktiviert. Im Unterricht lassen sich Wörter und Zahlen, aber auch komplexe Inhalte, in ein Bewegungsspiel einbinden. Um sich zum Beispiel unter Geschwindigkeit und Schwerkraft etwas vorstellen zu können, hilft es, diese über freudvolle Bewegungserfahrungen erlebt zu haben. Oder um Kindern einen Buchstaben zu vermitteln, können sie die Form dieses Buchstabens in der Klasse abgehen oder sie bekommen den Buchstaben von einem anderen Kind auf den Rücken »geschrieben«. Dabei geht es darum, die Buchstabenform anhand von Bewegung mit dem Körper und den Sinnen zu verinnerlichen. Erst wenn [ 6 ] 1 | 2022 Forum Psychomotorik sie in den Sinnen ist, ist sie im Verstand. Über die Sinne werden Erfahrungen zu Erkenntnissen und der Stoff bleibt leichter und länger im Gedächtnis. Man spricht von effizientem Lernen. 2. Soziale Anerkennung durch Bewegung Sozialisation ist immer auch Körper- und Bewegungssozialisation. Es gibt zwar Grundbedürfnisse, wie Essen und Trinken, Lachen und Weinen, doch selbst diese biologischen Handlungen haben in jeder Gesellschaft unterschiedliche Ausformungen. Die Vorstellungen von Scham, Schönheit und Stärke variieren ebenso wie die Beurteilung von krank und gesund, wie Affekte ausgelebt oder unterdrückt werden und Triebkontrolle eingeschränkt und aufgehoben wird, wie wir mit dem Körper umgehen und zu ihm eingestellt sind, wie wir Bedürfnisse befriedigen-- dies alles und vieles mehr ist gesellschaftlich geprägt (Weiß / Norden 2021, 76 ff.). Auch Bewegung entsteht nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern ist ein soziales Phänomen. Die Motorik ist eine Soziomotorik und Ausdruck des soziokulturellen Systems, in dem sie entsteht. Sie beruht großteils auf unbewusstem Verhalten, das heißt, die menschliche Motorik ist kulturell geprägt und entwickelt sich quasi automatisch je nach gesellschaftlichen Verhältnissen. »Unter der Soziomotorik sind kulturell geprägte Bewegungsmuster zu verstehen, die kommunikative Erfahrungen ermöglichen« (Weiß 2003, 229). Es geht vor allem darum, das expressive Moment einer Bewegung zu spüren, denn in der Dynamik, in den Bewegungsrichtungen und -formen, liegt Ausdruck, liegt Sinn und Bedeutung. Die Bewegungsausführung kann als Ausdruck der eigenen Identität erlebt werden und als nonverbales Medium soziale Interaktionen maßgeblich gestalten. Identität ist das, was der Mensch für sich selbst ist bzw. die Antwort auf die Frage »Wer bin ich? «. Indem sich in der Soziomotorik sowohl sozial anerkannte Bewegungsformen als auch Bewegungsfehler unmittelbar zeigen, entstehen eindeutige Identitäten. Der Einzelne weiß, was er kann und was er nicht kann, ob die Bewegungen zu ihm passen oder nicht, wie er wirkt, wenn er eine bestimmte Bewegung ausführt, ob sein Bewegungsverhalten akzeptiert wird oder nicht; es liegt eine ideale Kommunikationssituation vor. Vor allem Kinder kommunizieren hauptsächlich über ihren Körper bzw. durch Bewegungshandlungen (Körpersprache). Sie brauchen, können und wollen sich nicht kompliziert verbal erklären, sondern verständigen sich durch Körperbzw. Bewegungshandlungen. Im Rahmen von Bewegung, die auf soziale und kulturelle Wertvorstellungen bezogen ist, formen sich Handlungsmuster aus, die mit sozialer Akzeptanz verbunden sind. Bereits das Kleinkind, in seinem ersten Lächeln, kommuniziert mit seiner Mutter im Bemühen um deren Anerkennung. Wie die Entdeckung des Hospitalismus von René Spitz (Spitz 1965) gezeigt hat, kommt es zu schweren physischen und psychischen Störungen, wenn Kinder keine Zuwendung bzw. keine soziale Anerkennung erhalten. Durch die Sozialisation werden gesellschaftliche Werte (Gesundheit, Fairness, Toleranz usw.) verinnerlicht, auf deren Basis das menschliche Grundbedürfnis nach sozialer Anerkennung bzw. Identitätsbestätigung gestillt wird. Über das System gemeinsam verstandener und akzeptierter Werte ermöglicht Bewegung den Aufbau und die Bestätigung von Identitäten und somit die ersehnte soziale Integration, das heißt Anerkennung von Handlungen, die für die bestehende Kultur von Bedeutung sind. Durch Bewegung können Fähigkeiten eingesetzt und Eigenschaften zur Schau gestellt werden, die in der sozialen Umwelt geschätzt werden, wie Geschicklichkeit, Kraft, Wissen, Intelligenz, Mut und Selbstbeherrschung. In solcher Weise teilen die Handelnden Bedeutungen und bestätigen sich gegenseitig ihre Identitäten. Sie treten symbolisch vermittelt zueinander in Beziehung, wobei Bewegung als Kommunikationsmedium dient. Bewegung ist bedeutungsvoll, weil sie auf kulturellen Werten und Normen beruht. Erst der Mensch ist in der Lage, auf Symbole (Zeichen) bzw. auf die damit vermittelten Bedeutungen nicht mehr bloß zu reagieren, wie es Tiere tun, sondern diese Bedeutungen auch zu verstehen. Mit Verstehen verbindet sich die Fähigkeit, einem Zeichen bestimmte Gedanken, [ 7 ] Weiß • Effizientes Lernen: Psychomotorische Lehr- und Lernmethode 1 | 2022 [ 7 ] Weiß • Effizientes Lernen: Psychomotorische Lehr- und Lernmethode 1 | 2022 Anschauungen und Vorstellungen zuzuordnen, d. h. es symbolisieren zu können. Das setzt einen Vorrat an Zeichen voraus, die für die jeweiligen Kommunikationspartner auf dieselben »Objekte« (Gegenstände, Zustände, Vorstellungen, Anschauungen, Ideen usw.) verweisen. Zeichen (Symbole), die das leisten, bezeichnet Mead (1934) als signifikante Symbole. Signifikante Symbole lösen im Bewusstsein der Kommunikationspartner annähernd gleiche Bedeutungen aus und sind die Voraussetzung für Verständigung. Man spricht von Kommunikation, wenn Verständigung erzielt wird. Der kommunikativ Handelnde ruft bei sich selbst jene Bedeutungen (Haltungen, Einstellungen, Ideen etc.) wach, die er im Bewusstsein seiner jeweiligen Kommunikationspartner hervorruft. Indem er Haltungen des / der anderen sich selbst gegenüber einnimmt, nimmt er sich selbst aus der Perspektive des / der anderen wahr. Das Objekt dieser Wahrnehmung ist die Identität. Das bedeutet, der Gebrauch signifikanter Symbole bzw. die gegenseitige Rollenübernahme in interpersonalen Kommunikationsprozessen ist eine elementare Bedingung für die Entwicklung und Bestätigung der Identität. Dies ist auch durch Bewegung möglich. Denn Dimensionen von Geschwindigkeit, Schwere, Raum, Zeit etc., die in der Bewegungserfahrung und im Können oder Nicht-Können erlebt werden, objektivieren sich in kommunizierbaren Zeichen, in signifikanten Symbolen, die man als gemeinsame, mit anderen geteilte Bedeutungen und Werte betrachten kann. Signifikante Symbole der Bewegung sind verständlich und identitätsstiftend. Daher kann die Soziomotorik dazu dienen, Anerkennungsbedürfnisse zu erfüllen. Aus den Anerkennungserfahrungen oder Identitätsbestätigungen entsteht das Selbstwertgefühl, das mit dem Selbstbewusstsein verknüpft ist. Selbstbewusstsein ist immer auch Selbstwertbewusstsein, die Übernahme der Anerkennung anderer in ein Verhältnis zu sich selbst. Bewegung bzw. die Soziomotorik kann das Gefühl soziale Anerkennung auslösen, das für soziales Wohlbefinden steht. Wie unter Punkt 1 ausgeführt wurde, kann durch Bewegung auch das Gefühl Selbstbestimmtheit ausgelöst werden, das für geistiges Wohlbefinden steht. Körperli- »Die Freude, das Selbstwertgefühl, sich von anderen anerkannt und geliebt zu wissen, sich nützlich und fähig zu fühlen, das sind Faktoren von ungeheurer Bedeutung für die menschliche Seele. Schließlich bilden das Selbstwertgefühl und die Möglichkeit, an einer sozialen Organisation teilzuhaben, lebendige Kräfte. Und das gewinnt man nicht, indem man Lektionen auswendig lernt oder Probleme löst, die nichts mit dem praktischen Leben zu tun haben. Das Leben muß zum zentralen Punkt werden und die Bildung ein Mittel« (Montessori 1988, 163). ches Wohlbefinden durch Bewegung wurde ebenfalls unter Punkt 1 beschrieben. Bewegung entspricht damit der WHO-Definition von Gesundheit als geistiges, körperliches und soziales Wohlbefinden. Aufgrund ihres hohen Gesundheitswertes eignet sich Bewegung hervorragend zur Gesundheitsförderung. Es gibt kein Medikament, das so viele positive Wirkungen hat, wie Bewegung. Anhand der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode wird auch der hohe Bildungswert von Bewegung und ihre Bedeutung für die Bildungsförderung sichtbar. Neben dem Geistigen und Sozialen ist Bewegung unverzichtbar für eine umfassende, humane Bildung. Bildung beinhaltet weitaus mehr als Wissenserwerb. Sie umfasst den ganzen Menschen, sein Denken, Fühlen und Handeln, sein Empfinden und Wahrnehmen. Körperliche, kognitive, emotionale und soziale Prozesse sind aufeinander bezogen. Folglich umfasst Bildung die Gesamtheit der Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen. Bildung formt die Persönlichkeit, wobei Bewegung eine wichtige Rolle spielt. 3. Pädagogische Prinzipien der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode Der Mensch ist ein soziales Wesen und sein Gehirn ist ein Sozialorgan. Das heißt, lernen ist ein sozialer Prozess, der die Menschwerdung in der Kindheit und in der Folge die Weiterentwicklung [ 8 ] 1 | 2022 Forum Psychomotorik des Menschen betrifft. Lernen ist identitätsprägend und kann als Prozess der Verhaltensänderung bezeichnet werden. Beim Unterricht in der Schule handelt es sich um Kommunikation. Und Kommunikation hat immer eine Inhalts- und eine Beziehungsebene, die einander bedingen. Wie zum Beispiel die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung für den sozialen Wandel zeigt, ist es die Beziehungsebene, die den Inhalt bestimmt und sich auf die Entwicklung des Menschen auswirkt. Seit 1945 stehen vermehrt Demokratie und Freiheit im Mittelpunkt, vorher war Gehorsam und Unterordnung gefordert. Die Qualität der sozialen Beziehungen zwischen PädagogInnen und Kindern spielt auch im Unterricht in der Schule eine wichtige Rolle und beeinflusst den Lernprozess. Kinder verstehen PädagogInnen in erster Linie dann, wenn sie von den PädagogInnen verstanden werden. Die Qualität des Lernens geht Hand in Hand mit der Qualität sozialer Beziehungen. Dementsprechend werden im Rahmen der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode die sozial-emotionalen Einstellungen von PädagogInnen und Kindern berücksichtigt. Kinder sollen sich spielerisch, frei und ungezwungen äußern und entwickeln können. Spiel ist die kreativste Form des Lernens. Wichtig ist die Zurückhaltung und der Respekt der Erwachsenen vor der Freiheit und Eigentätigkeit des Kindes. In der Selbstverwirklichung liegt die Antriebskraft, die sich im Austausch mit der sozialen Umwelt entfaltet. Mithilfe der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode treten die freie Entfaltung und das Vertrauen in die natürlichen Fähigkeiten bzw. angeborenen Potentiale des Kindes in den Vordergrund. Das trägt zur Identitätsbildung bei und führt zu einer autonomen Persönlichkeit. Selbstbestimmtheit bzw. Autonomie des Kindes ist nicht nur Ziel, sondern gleichsam ein pädagogisches Prinzip, das auf Eigenständigkeit abzielt. PädagogInnen unterrichten nicht nur ein Fach, sondern sollten die Kinder für dieses Fach auch begeistern. Jedes Kind ist von Natur aus neugierig und voller Begeisterung. Begeisterung bedeutet, dass Kinder intrinsisch motiviert (selbstbestimmt) sind und ihre Tätigkeit als sinnvoll erachten. Sinn ist ein starker Motivator. Lernende brauchen Lernbegleiter, die zur Stelle sind, wenn sie gerade nicht weiterkommen und einen Hinweis oder eine spezielle Förderung nötig haben-- sei es kognitiv, emotional oder sozial. Nach Alice Miller braucht das Kind die seelische und körperliche Begleitung des Erwachsenen. »Um dem Kind seine volle Entfaltung zu ermöglichen, sollte diese Begleitung folgende Züge aufweisen: 1. Achtung vor dem Kind, 2. Respekt für seine Rechte, 3. Toleranz für seine Gefühle, 4. Bereitschaft, aus seinem Verhalten zu lernen« (Miller 1982, 122). Pablo Picasso hat gesagt: »Als Kind ist jeder ein Künstler, die Schwierigkeit liegt darin, einer zu bleiben.« Lernbegleiter sollten der Neugierde der Kinder Rechnung tragen und haben eine wichtige Vorbildfunktion. Vor allem die Eltern formen das Verhalten ihrer Kinder in vielfacher Weise. Elektronische Messungen an noch ungeborenen Kindern haben gezeigt, dass das Kind sowohl Zärtlichkeit als auch Grausamkeit von Anfang an fühlt und lernt. Da sich das Kind seine Eltern nicht aussuchen kann, ist seine Identifikation mit ihnen quasi-automatisch und quasi-unvermeidlich. Therapeutische Methoden zeigen, dass verdrängte traumatische Erlebnisse der Kindheit im Körper gespeichert sind, und dass sie sich, unbewusst geblieben, auf das spätere Leben des erwachsenen Menschen auswirken. Die Eltern haben großen Einfluss darauf, wie Kinder über sich selbst und über andere denken. Sie übertragen Einstellungen und Meinungen. Die Schule sollte eine Stätte der Freiheit und Freude sein, in der die motorische, sozial-emotionale und kognitive Entwicklung jedes Kindes »Das Selbstständigkeitsstreben des Kindes äußert sich in seiner Aktivität und seinem Bedürfnis nach schöpferischer Gestaltung. Deshalb muss auch den aktiven und reaktiven Kräften, die der menschlichen Entwicklung innewohnen, ein besonderer Stellenwert beigemessen werden. Das Kind ist ein schöpferisches Wesen, das sein Selbstwerden aktiv betreibt« (Zimmer 2002, 29). [ 9 ] Weiß • Effizientes Lernen: Psychomotorische Lehr- und Lernmethode 1 | 2022 [ 9 ] Weiß • Effizientes Lernen: Psychomotorische Lehr- und Lernmethode 1 | 2022 gefördert wird. Die Freude daran, dass man etwas kann, zählt zu den wichtigsten Freuden überhaupt. Körperliche Fähigkeiten wirken sich auf Emotion, Kognition und Motivation aus und kommen in der Kreativität und Flexibilität von Kindern zum Ausdruck. Durch lustvolles Lernen mit Bewegung wird die Motivation und Konzentration verbessert sowie die Stresstoleranz erhöht. Der Lernprozess sollte ein Dialog sein, in dem Kinder aktives Lernen erleben und Handlungskompetenz im körperlichen, geistigen und sozialen Bereich erwerben. Sie können ihre Fähigkeiten erproben, verändern, ausbauen oder neu entwickeln. Durch Bewegungs- und Wahrnehmungslernen sind Kinder mit ihren Sinnen bei der Sache. Sie können ihre Interessen und Ideen aktiv einbringen. Psychomotorische Lehr- und Lernmethode: Aus Sitzschulen werden Bewegungsräume (© liderina - stock.adobe.com. Agenturfoto. Mit Model gestellt.) Literatur Csikszentmihalyi, M. (1990): Flow: The Psychology of Optimal Experience, New York Feldenkrais, M. (1996): Bewußtheit durch Bewegung, Suhrkamp Fischer, K. (2016): Lernen als Erkundungsaktivität im Kindesalter. In: Weiß, O., Voglsinger, J. & Stuppacher, N. (Hg.) Effizientes Lernen durch Bewegung. 1. Wiener Kongress für Psychomotorik, Münster, New York, 65-84 Guay, F., Ratelle, C. F., Chanal, J. (2008): Optimal Learning in Optimal Contexts: The Role of Self-Determination in Education, Canadian Psychology 49 (3), 233-240 Hardre, P. L., Reeve, J. (2003): A Motivational Model of Rural Students’ Intentions to Persist in, Versus Drop Out of High School, Journal of Educational Psychology 95 (2), 347-356, https: / / doi. org/ 10.1037/ 0022-0663.95.2.347 Jang, H., Kim, E. J., Reeve, J. 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In: oead’news, Jahrgang 24, Nr. 3/ 96, 10-11 Der Autor Otmar Weiß ist Professor am Institut für Sportwissenschaft und Universitätssport der Universität Wien und Leiter des Universitätslehrgangs »Psychomotorik (MA)«. Kontakt Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport Auf der Schmelz 6A A-1150 Wien E-Mail: otmar.weiss@univie.ac.at Website: https: / / www.postgraduatecenter.at/ weiterbildungsprogramme/ gesundheit-natur wissenschaften/ psychomotorik/