eJournals motorik 45/1

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2022.art04d
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2022
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Der Beitrag von Onlineseminaren zur Selbst- und Weltentfremdung von Studierenden

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2022
Matthias Schäfer
Unter Pandemiebedingungen nehmen Studierende regelmäßig an videokonferenzbasierten Online-Seminaren teil. In diesem Beitrag wird untersucht, inwieweit Online-Seminare einen negativen Einfluss auf die Studierendenerfahrung haben können. Aus phänomenologischer Perspektive wird eine Einordnung vorgenommen, die auf Rosas Arbeiten zur gesellschaftlichen Beschleunigung und Entfremdung aufbaut. Auf diese Weise werden zentrale Aspekte des räumlichen Körpererlebens herausgearbeitet, die nur sehr eingeschränkt in Videokonferenzen übertragen werden können. Dies argumentiert für die These, dass Online-Seminare dazu beitragen können, dass sich Studierende von sich selbst und der Welt entfremden.
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Zusammenfassung / Abstract Unter Pandemiebedingungen nehmen Studierende regelmäßig an videokonferenzbasierten Online-Seminaren teil. In diesem Beitrag wird untersucht, inwieweit Online-Seminare einen negativen Einfluss auf die Studierendenerfahrung haben können. Aus phänomenologischer Perspektive wird eine Einordnung vorgenommen, die auf Rosas Arbeiten zur gesellschaftlichen Beschleunigung und Entfremdung aufbaut. Auf diese Weise werden zentrale Aspekte des räumlichen Körpererlebens herausgearbeitet, die nur sehr eingeschränkt in Videokonferenzen übertragen werden können. Dies argumentiert für die These, dass Online-Seminare dazu beitragen können, dass sich Studierende von sich selbst und der Welt entfremden. Schlüsselbegriffe: Online-Lehre, Videokonferenz, Raumerleben, Körper, Atmosphäre, soziale Interaktion The contribution of online seminars to the alienation of self and world of students Under pandemic conditions, students regularly take part in video conference-based online seminars. This article examines the extent to which online seminars can have a negative impact on the student experience. From a phenomenological perspective, a classification is made that is based on Rosa’s work on social acceleration and alienation. In this way, central aspects of the spatial body experience are worked out, which can only be transmitted in video conferences to a very limited extent. This argues for the thesis that online seminars can contribute to students becoming alienated from themselves and from the world. Keywords: Online teaching, video conferencing, spatial experience, body, atmosphere, social interaction [ 16 ] 1 | 2022 motorik, 45. Jg., 16-21, DOI 10.2378 / mot2022.art04d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Der Beitrag von Onlineseminaren zur-Selbst- und Weltentfremdung von-Studierenden Matthias Schäfer Digitalisierungsprozesse entfalten Sogwirkungen, denen sich auch die Hochschullehre nicht entziehen kann (Gilch et al. 2019). Wenn Hochschulen beim Ausbau der Digitalisierung voranschreiten, geht es dabei »[…] um die Vorgänge eines grundlegenden Wandels von kulturellen Systemen, ihren Ordnungen und Strukturen […]« (Mihajlovic 2020, 119). Im Kontext der Covid-19 Pandemie wurden an den Hochschulen die Präsenzlehre überwiegend durch Onlinelehre ersetzt. Dreh- und Angelpunkt sind hier Videokonferenzen, die es Studierenden und Lehrenden ermöglichen, mit Videobild und Ton von zu Hause aus einem digitalen Konferenzraum beizutreten. Auch wenn dieses Projekt als kurzfristige Krisenintervention angelegt ist, scheint eine weitere Ausweitung ein realistisches Szenario zu sein. Ein zentrales Merkmal ist hier, dass die Bedeutung des Körpers in den Hintergrund tritt. Was Rosa (2013) im Rahmen seiner Arbeit »Beschleunigung und Entfremdung« beobachtet, lässt sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch im Beispiel der Onlinelehre wiederfinden: »[…] soziale und physische Nähe [treten] zunehmend auseinander« (Rosa 2013, 123). Die »[…] räumliche Verortung [ist] für eine wachsende An- [ 17 ] Schäfer • Der Beitrag von Onlineseminaren zur-Selbst- und Weltentfremdung 1 | 2022 zahl sozialer Vorgänge irrelevant und oftmals unbestimmbar geworden« (ebd.). Entfremdung ist hier als eine Verzerrung in der Beziehung zwischen Selbst und Welt zu verstehen (ebd.). Der Gewinn von Zeit, das Einsparen von Arbeitsaufwand und das immer und zu jeder Zeit zur Verfügung stehen sind Errungenschaften der digitalen Technologien, die nach Coeckelbergh (2013) neben den zahlreichen Chancen gleichzeitig auch neue Risiken hervorbringen können. Ein mögliches Risiko wird von Schmitz (2016) angedeutet, wenn er schreibt, dass »[…] dem Individuum die scheinbare Souveränität kurzfristigen Wählens aus einem überreichen Angebot technisch bereitgestellter Möglichkeiten zufällt, die eigene Gestaltungskraft aber durch Verstrickung in ein immer mehr verdichtetes Schienennetz abgenommen wird« (Schmitz 2016, 368). Mit Schmitz weitergedacht ist die Souveränität der Onlinelehre nur eine scheinbare. Die Technik nimmt den Studierenden und Lehrenden zunächst den physischen Kraftaufwand ab, gleichzeitig wird ihnen aber nicht nur die körperliche Kraft abgenommen, sondern auch ihr leibliches »In-der-Welt-sein« (Schmitz 1997, 33), in dem Schmitz die zentrale Gestaltungskraft von Menschen verortet sieht (Schmitz 2016; Schmitz 1997). In dem vorliegenden Beitrag wird im Anschluss an Rosa und Schmitz für die folgenden These argumentiert werden: Ein zunehmender Ersatz von Präsenzdurch Onlineseminare an Hochschulen kann zur Selbst- und Weltentfremdung von Studierenden beitragen. Dabei geht es ausschließlich um die theoretische Plausibilität und Begründbarkeit dieser These, deren empirische Überprüfung hier nicht unternommen werden kann. Zunächst werden dazu die Kernaspekte der Arbeiten von Rosa (2013) und Schmitz (1997; 2011; 2016) dargestellt. Die skizzierten Theorien bieten dann den Rahmen, um phänomenologische Überlegungen zum Gegenstand einzuordnen. Quelle der Überlegungen sind die Selbsterfahrungen des Autors als Student sowohl in Präsenzals auch Onlineseminaren. Geeignete Kategorien zur strukturierten Argumentation für die vorgestellte These lassen sich bei Rosa (Rosa 2013, 68 ff.) in der Beschreibung seines Entfremdungsbegriffs finden: (1) »Entfremdung vom Raum«, (2) »Entfremdung von den Dingen«, (3) »Entfremdung gegenüber den eigenen Handlungen«, (4) »Selbstentfremdung und soziale Entfremdung«. Gesellschaftliche Beschleunigung Beschleunigung verweist nach Rosa (2013) auf die Veränderung von Zeitstrukturen in der Moderne und Spätmoderne. Das Projekt der Moderne, das unsere spätmoderne Gesellschaft bis heute prägt, lässt sich im Wesentlichen durch das Paradigma der Autonomiesteigerung beschreiben: Menschen sollen nicht länger durch äußere Regierungs- und Natureinflüsse bestimmt werden, sondern sollen möglichst selbstbestimmt und frei leben können. Damit einher geht der technische Fortschritt, der verspricht zur Selbstbestimmung und persönlichen Freiheit beizutragen. Doch das Versprechen der Moderne kann paradoxerweise nicht eingelöst werden. Die gewonnenen Freiräume, die die neuen Technologien den Menschen ermöglichen, werden nicht nur als Freiräume erlebt, sondern auch als Möglichkeit diese Freiräume mit neuen Aufgaben und Erlebnissen zu füllen. Die Zeit wird damit als eine knappe Ressource empfunden, die die Menschen vor dem Hintergrund ihrer gesteigerten Möglichkeiten effizient nutzen und einteilen müssen (Rosa 2013). Durch die Beschleunigung, die durch die immer dichter aufeinander folgenden technischen Innovationen erzeugt wird, die jeweils Antworten auf einen immer größer werdenden Zeithunger sind, beschleunigt sich auch das Lebenstempo und der soziale Wandel. Einerseits durch den Erlebnishunger und der Befürchtung in der begrenzten Lebenszeit etwas verpassen zu können, andererseits auch durch die vom Markt ausgehende Wettbewerbslogik, die es nicht zulässt, sich zur Ruhe zu setzen, ohne dass man von der Konkurrenz überholt wird (Rosa 2013). Den Kern der Entfremdung fasst Rosa im folgenden Satz zusammen: »Menschen tun freiwillig etwas, was sie nicht ›wirklich‹ tun wollen« (Rosa 2013, 94). [ 18 ] 1 | 2022 Forum Psychomotorik Verortung der Person im leiblichen Spüren Schmitz unterscheidet den sicht- und tastbaren Körper vom spürbaren Leib. Dabei kritisiert er das von den Naturwissenschaften geprägte objektivierende Bild des Körpers (Schmitz 2011). Damit im Zusammenhang stehen auch zwei verschiedene Arten der Räumlichkeit: Erstens der von den Naturwissenschaften geprägte geometrische Raum, der sich ebenso wie der Körper durch seine Messbarkeit auszeichnet und zweitens der leibliche Raum, der nicht mess- und teilbar, aber spürbar ist (Schmitz 2016). Der spürbare Leib ist dabei nicht mit einem Bild von der Seele zu verwechseln, die in der privaten Innenwelt von Menschen zu verorten ist (Schmitz 2011). Stattdessen beschreibt Schmitz den spürbaren Leib als etwas räumlich Ausgedehntes, das nicht durch die Grenzen des physischen Körpers begrenzt ist. Ein Beispiel für das leibliche Spüren ist die Wahrnehmung von Atmosphären: »Unter einer Atmosphäre verstehe ich die ausgedehnte Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird« (Schmitz 2016, 21). Neben der Weite von ausgedehnten Atmosphären, ist es aber vor allem die Enge, die spürbar ist (Schmitz 2011). In der Enge spüren Menschen durch affektives Betroffensein den absoluten Bezugspunkt ihrer Subjektivität. Das strukturierte Zeitempfinden wird erst durch das Spüren des »Jetzt« ermöglicht. Schmitz und Rosa beschreiben jeweils ein gestörtes Selbst-Welt-Verhältnis und verorten den Ursprung in den nicht einhaltbaren Versprechungen der Moderne. Bezogen auf das Verhältnis von Präsenz- und Onlineseminaren wird deutlich, dass das leibliche Einbezogensein in Onlineseminaren in den Hintergrund treten kann. Die Entfremdung vom Raum Der gemeinsame Raum der Onlineseminare ist der digitale Raum, der durch die Videokonferenzsoftware generiert wird. Die Videobilder der Teilnehmenden sind auf einem zweidimensionalen Raster angeordnet. Optional kann das Bild der jeweils sprechenden Person größer erscheinen. Der Raum tritt in den Hintergrund und stellt im Wesentlichen eine reduzierte Softwareoberfläche dar, wie sie auch von anderen Programmen bekannt ist. Der digitale Raum hat keine über die Standardoberfläche hinausgehende besondere Ästhetik, Atmosphäre oder individuelle Charakteristik und sieht nahezu in jeder Veranstaltung identisch aus. Der Raum, von dem aus sich die Teilnehmenden zuschalten, ist zumeist ihr Privatraum. Auch wenn die Onlineveranstaltungen wechseln, ist der Raum, in dem die Teilnehmenden sitzen, derselbe. Der Aufbau und das Spüren einer erlebten Räumlichkeit und einer Gruppenatmosphäre wird durch das Software-Setting eingeschränkt. Es ist bekannt, dass Räume durch ihre Gestaltung eine atmosphärisch ergreifende Wirkung auf die sozialen Prozesse haben können (Hasse & Müller 2016). Man denke an die Lichtstimmung, den Luftzug, oder die Art und Weise wie der Klang der Stimmen durch den Raum geformt wird. Im digitalen Raum tritt der gemeinsame Raum in seiner Funktion als atmosphärischer Resonanzkörper für soziale Interaktion weniger ausgeprägt in Erscheinung. Dabei ist es nicht nur der gemeinsame Raum des Seminars, der in der Onlineversion zusammenschrumpft und an Bedeutung verliert: Was hinzukommt, ist das Wegfallen der zahlreichen Zwischenräume, die in Präsenzseminaren wichtige Funktionen übernehmen können. Bevor der Seminarraum betreten wird, können Studierende sich auf dem Gang, vor dem Gebäude, in der Mensa oder an der S-Bahn-Haltestelle begegnen. Dies sind Orte der zufälligen Begegnung, die auch wieder in atmosphäri- Der Aufbau und das Spüren einer erlebten Räumlichkeit und einer Gruppenatmosphäre wird eingeschränkt. [ 19 ] Schäfer • Der Beitrag von Onlineseminaren zur-Selbst- und Weltentfremdung 1 | 2022 [ 19 ] Schäfer • Der Beitrag von Onlineseminaren zur-Selbst- und Weltentfremdung 1 | 2022 sche Kontexte eingebettet sind, wie z. B. in das Wetter, das stürmisch, regnerisch, heiß oder kalt sein kann und Anlass bietet, sich über die spürbare Leiblichkeit auszutauschen und zu verbinden. Die Entfremdung von Raum zeigt sich durch das Wegfallen der räumlichen Exploration, die ihre Spannung durch die körperliche Verletzlichkeit gewinnt. Die Entfremdung von den Dingen Die Entfremdung von den Dingen bezieht sich bei Rosa (2013) auf die zunehmende Austauschrate von Dingen. Dinge werden beispielsweise nicht mehr repariert, sondern eher durch neue Dinge ersetzt. Das hat zur Folge, dass die Beziehung zu den einzelnen Dingen weniger Tiefe hat, da sie nur auf Kurzfristigkeit ausgelegt ist. Videokonferenzen gehen noch einen Schritt weiter und ersetzen materielle Dinge durch digitale Dinge. Ein Whiteboard wird beispielsweise durch ein digitales Kooperationstool ausgetauscht, das es den Teilnehmenden ermöglicht, auf eine virtuelle Tafel zu schreiben, ohne dass sie dafür einen Stift in die Hand nehmen müssen und zu einem bestimmten Ort im Raum gehen müssen. Im Zentrum stehen die digitalen Dinge, die nicht als dreidimensionale Objekte greifbar sind. Mit der Entfremdung von den Dingen geht damit auch eine Entfremdung von der Motorik einher, die sich in Videokonferenzen größtenteils auf die Bewegung der Maus, auf den Mausklick und das Tippen auf der Tastatur beschränkt. Die Auseinandersetzung mit der Umwelt verliert seinen Charakter einer »Erfahrung aus erster Hand« (Kuhlenkamp 2017, 44). In Präsenzräumen können Dinge zudem als Träger von Bedeutungen verstanden werden: »Jemandem sein Buch ausleihen«, »jemandem etwas mitbringen«, »die Arbeitsblätter weitergeben«, können auf symbolischer Ebene als bedeutsame sozial-emotionale Interaktionen verstanden werden, die über den eigentlichen Zweck der Handlungen hinausgehen. Auch die Ordnung der Dinge, wie beispielsweise die Anordnung von Tischen und Stühlen, kann eine Bedeutung für das soziale Miteinander und die Atmosphäre des Raumes haben. In der soziologischen Betrachtung kann hier davon ausgegangen werden, »[…] dass Räume sowohl auf der Praxis des Anordnens [von Dingen][…] basieren als auch eine gesellschaftliche Ordnung vorgeben« (Löw & Sturm 2019, 15). Die Entfremdung gegenüber den eigenen Handlungen In Bezug auf die Entfremdung von den eigenen Handlungen zeigt Rosa eine Diskrepanz von Möglichkeiten und ihrer Realisation auf. Während To-do-Listen immer länger werden, bleiben die eigentlichen Kernaufgaben im Zuge von Ablenkung oft auf der Strecke. Hinzu kommt der Eindruck, »[…] daß [sic] wir fast nie die Zeit finden, das zu tun, was wir wirklich tun wollen […]« (Rosa 2013, 93). Videokonferenzen und die dazugehörigen digitalen Werkzeuge zur Kooperation zeigen eine reichhaltige Palette an Möglichkeiten auf. Übertragen auf den Gedanken von Rosa könnte hier davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmenden aber kaum die Zeit haben die zahlreichen Möglichkeiten auch vollständig zu realisieren. Dem entgegen steht die Fähigkeit dem nachzuspüren, was wirklich authentisch oder wichtig ist (Rosa 2013). Das bezieht sich hier weniger im direkten Sinne auf die Vielfalt an technischen Möglichkeiten, sondern vielmehr im übertragenen Sinne auf die Möglichkeiten der Identitätsentwicklung von Studierenden, die in ihrem Handeln in Situationen eingebettet sind. Schmitz definiert Philosophie als das »[…] Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung […]« (Schmitz 2016, 365). Wird dieses Philosophieverständnis auf ein Bildungsverständnis übertragen, so wird deutlich, dass ein Studium als Selbstfindungsprozess gedeutet werden kann. Wissen wird demnach aus einer dynamischen Beziehung zwischen dem Subjekt und seiner Umgebung hervorgebracht. Dabei liegt die Betonung bei Schmitz auf »seiner Umgebung«, es ist nicht ir- [ 20 ] 1 | 2022 Forum Psychomotorik gendeine rein objektive Umgebung, sondern es ist zudem die Umgebung, die erst durch das affektive Betroffensein in der Auseinandersetzung mit der Umgebung zur eigenen Welt wird. Eine Parallele zu Rosa ist hier zu erkennen, wenn er von der Fähigkeit spricht, sich die Welt »anzuverwandeln« (Rosa 2013, 102). Die qualitative Studie von Pietsch (2017) ergibt, dass Studierende mit der Suche »nach einem sinngebenden und identitätsstiftenden Ort« (Pietsch 2017, 290) ins Studium einsteigen. Sie erleben hier eine persönliche Transformation, die mit dem Aufbau von Orientierungsstrukturen und dem Zugewinn von kognitiven und emotionalen Handlungswissen einhergeht. Schlussfolgern lässt sich daraus für den Bildungskontext, dass die Umgebung möglichst vielfältig, sozial und atmosphärisch bedeutsam gestaltet werden müsste. So bekommen Studierende die Gelegenheit, sich tatsächlich selbst in ihrer Umgebung zu finden, anstatt sich von ihr und damit von sich selbst zu entfremden. Selbstentfremdung und soziale Entfremdung In Präsenzseminaren lässt sich eine räumliche Tiefe vorfinden, die dazu führt, dass die anwesenden Personen einigen Personen körperlich näher sind als anderen. Die sich zufällig ergebenen oder gezielt gestalteten Sitzordnungen bringen soziale Konstellationen wie Tischnachbarschaften hervor, die vor, während und nach der Veranstaltung informellen Austausch ermöglichen. In Videokonferenzen sind die Teilnehmenden hingegen in einem gleichmäßigen und zweidimensionalen Raster angeordnet. Hier ist es nur eingeschränkt möglich jemandem räumlich näher zu sein als anderen. Die Gestaltung von Nähe und Distanz durch die räumliche Tiefe und der Aufbau von informellen Konstellationen sind in der aktuellen Videokonferenzsoftware nur dann in abgewandelter Form möglich, wenn Teilgruppen gezielt eingesetzt werden. Was dabei zu fehlen scheint, ist der soziale Prozess einer spontanen Gruppenbildung, der in Präsenzräumen durch die Möglichkeit geprägt ist, dass die Anwesenden sich Blicke »zuwerfen«, indem sie nonverbal kommunizieren können. Der Blick spielt in der Theorie der leiblichen Kommunikation nach Schmitz eine tragende Rolle: »Der Blick des Anderen trifft mich engend, ich werfe ihm den meinen, in die Weitung übergehend, zurück, der den Anderen engt, und so spielt sich die Verschränkung von Engung und Weitung zum gemeinsamen vitalen Antrieb ein« (Schmitz 2016, 188). Die Teilnehmenden sind in der Videokonferenz nicht (oder viel weniger ausgeprägt) in eine durch leibliche Kommunikation gestaltete gemeinsame Situation eingebettet. Hier ist es nicht wie bei Rosa (2013) die Anzahl der Beziehungen, die die Qualität der Beziehung einschränkt, sondern der durch die technische Reduktion hervorgerufene Qualitätsverlust in der Beziehungsgestaltung. Die Distanz zwischen den Teilnehmenden ist anders als in Präsenzsituationen auf den Nahbereich fixiert und gleichförmig. Für eine Präsenzveranstaltung wäre es unnatürlich und überlastend immer alle Gesichter gleichzeitig, in immer dem gleichen Nahbereich zu betrachten und von diesen Gesichtern ununterbrochen angesehen zu werden (Bailenson 2021). Konklusion Im Gegensatz zum digitalen Raum der Videokonferenzen lassen sich die folgenden Vorteile von Seminaren in Präsenzräumen herausarbeiten: ■ Der Präsenzraum hebt die Trennung zwischen Körpern auf und die Situation kann spürbar zu einer gemeinsamen werden. Besonders durch die Zwischenräume abseits des Seminarraumes. ■ Der Präsenzraum hat durch seine gestaltbare Struktur und durch seine Handlungsmöglichkeiten eine symbolische Bedeutung für die zwischenmenschliche Interaktion. ■ Der Präsenzraum gibt Studierenden Gelegenheiten sich auf ihr Sich-finden in ihrer Umgebung einzulassen. ■ Der Präsenzraum gibt Raum für den leiblichen Blick, der durch Annäherung spontane sozi- [ 21 ] Schäfer • Der Beitrag von Onlineseminaren zur-Selbst- und Weltentfremdung 1 | 2022 [ 21 ] Schäfer • Der Beitrag von Onlineseminaren zur-Selbst- und Weltentfremdung 1 | 2022 ale Situationen und Bedeutsamkeit herstellen kann. Daran anschließend lässt sich feststellen, dass Videokonferenzen die genannten Vorteile nur eingeschränkt in den digitalen Raum übertragen können. Stattdessen wird behauptet, dass durch das Ausbleiben der Vorteile von einem möglichen Beitrag von Onlineseminaren zu einer Selbst- und Weltentfremdung von Studierenden gesprochen werden kann. Diese Behauptung muss vor dem Hintergrund einiger Limitationen eingeordnet werden, die die vorliegende Arbeit mit sich bringt. Die zentrale Ausgangsbasis mit dem Essay von Rosa (2013) ist ein Text, der nach Aussage des Autors eine »einseitige und tendenziöse Darstellung spätmodernen Lebens ist« (Rosa 2013, 102). Eine gezielte Abgrenzung von einzelnen Positionen Rosas ist nicht erfolgt, stattdessen wurden die Grundgedanken als Struktur übernommen und mit eigenen Überlegungen bezogen auf den Gegenstand angereichert. Darüber hinaus ist nicht berücksichtigt worden, dass Videokonferenzen grundsätzlich zahlreiche Chancen bieten können, wie z. B. das Verhindern von potenziell gesundheitsgefährdenden Kontakten in der aktuellen Pandemie bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Hochschulbetriebs. Zudem erscheint es wichtig darauf hinzuweisen, dass Onlineseminare nicht nur mit Videokonferenzen als synchrone Lernformate gestaltet werden, sondern darüber hinaus auch asynchrone Lernformate zum Einsatz kommen (Sammet & Wolf 2019). Des Weiteren wird Videokonferenzsoftware stetig weiterentwickelt, sodass es möglich erscheint, dass die Leiblichkeit hier in Zukunft mehr Berücksichtigung finden kann. Aus psychomotorischer Perspektive erscheint es wichtig diese Weiterentwicklung mitzugestalten. Literatur Bailenson, J. N. (2021): Nonverbal overload: A theoretical argument for the causes of Zoom fatigue. Technology, Mind, and Behavior 2 (1), http: / / dx.doi. org/ 10.1037/ tmb0000030 Coeckelbergh, M. (2013): Human Being @ Risk. Springer Netherlands, Dordrecht, http: / / dx.doi. org/ 10.1007/ 978-94-007-6025-7 Gilch, H., Beise, A. S., Krempkow, R., Müller, M., Stratmann, F., Wannemacher, K. (2019): Digitalisierung der Hochschulen: Ergebnisse einer Schwerpunktstudie für die Expertenkommission Forschung und Innovation, Berlin Hasse, J., Müller, O. (2016): Zur Spürbarkeit von Architektur. In: Großheim, M., Hild, A. K., Lagemann, C., Trcka, N. (Hrsg.): Leib, Ort, Gefühl. Perspektiven der räumlichen Erfahrung. Verlag Herder GmbH, 305-344 Kuhlenkamp, S. (2017): Lehrbuch Psychomotorik. Ernst Reinhardt Verlag, München / Basel Löw, M., Sturm, G. (2019): Raumsoziologie. In: Kessl, F., Reutlinger, C. (Hrsg.): Handbuch Sozialraum. Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit Bd. 14. Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden, 3-21, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-19983-2_1 Mihajlovic, D. (2020): Hochschule als tragende Säule von Gesellschaft. In: Demantowsky, M., Lauer, G., Schmidt, R., te Wildt, B. (Hrsg.): Was macht die Digitalisierung mit den Hochschulen? De Gruyter, 119- 126, http: / / dx.doi.org/ 10.1515/ 9783110673265-011 Pietsch, V. (2017): Das Selbst im Wandel. In: Pfaff- Czarnecka, J. (Hrsg.): Das soziale Leben der Universität. transcript Verlag, 269-294, http: / / dx.doi. org/ 10.14361/ 9783839433485-011 Rosa, H. (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. 1. Aufl. Suhrkamp, Berlin Sammet, J., Wolf, J. (2019): Vom Trainer zum agilen Lernbegleiter. Springer Berlin Heidelberg, Berlin, Heidelberg, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978-3-662- 58510-8 Schmitz, H. (2016): Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Verlag Karl Alber, Freiburg / München Schmitz, H. (2011): Der Leib. Grundthemen Philosophie. De Gruyter, Berlin / Boston, http: / / dx.doi.org/ 10.1515/ 9783110250992 Schmitz, H. (1997): Höhlengänge. Akademie Verlag, Berlin, http: / / dx.doi.org/ 10.1515/ 9783050074115 Der Autor Matthias Schäfer Sozialpädagoge (B.A), Lehrbeauftragter für das Thema »Embodiment in der Sozialen Arbeit« an der Fachhochschule Dortmund, Student im Masterstudiengang Soziale Nachhaltigkeit und demographischer Wandel an der Fachhochschule Dortmund. Kontakt m.schaefer@ruhrbewegung.de