motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2022.art06d
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2022
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Motologie und Material
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2022
Stephan Berg
Der Umgang mit Materialien ist ein wichtiger Bereich von Motologie und Psychomotorik. Dieser Beitrag versucht nun vom bekannten Terrain der »Materialkompetenz« (vgl. u. a. Kuhlenkamp 2017) ausgehend stärker die Schnittstelle Mensch und Gegenstand innerhalb von Arbeitsprozessen in den Blick zu nehmen. Ziel ist es, den Umgang mit Dingen als ein relevantes Feld einer motologischen Gesundheitsförderung theoretisch zu umreißen und mit praxisorientierten Beispielen zu veranschaulichen. Bisher ist dieses Thema im deutschsprachigen Fachdiskurs kaum beachtet worden, es könnte sich aber passfähig in angrenzende Diskurse um Materialbewusstsein in Arbeitsprozessen und Leibphänomenologie einfügen.
7_045_2022_1_0006
Zusammenfassung / Abstract Der Umgang mit Materialien ist ein wichtiger Bereich von Motologie und Psychomotorik. Dieser Beitrag versucht nun vom bekannten Terrain der »Materialkompetenz« (vgl. u. a. Kuhlenkamp 2017) ausgehend stärker die Schnittstelle Mensch und Gegenstand innerhalb von Arbeitsprozessen in den Blick zu nehmen. Ziel ist es, den Umgang mit Dingen als ein relevantes Feld einer motologischen Gesundheitsförderung theoretisch zu umreißen und mit praxisorientierten Beispielen zu veranschaulichen. Bisher ist dieses Thema im deutschsprachigen Fachdiskurs kaum beachtet worden, es könnte sich aber passfähig in angrenzende Diskurse um Materialbewusstsein in Arbeitsprozessen und Leibphänomenologie einfügen. Schlüsselbegriffe: Materialkompetenz, Gesundheitsförderung, Phänomenologie, Intentionalität, Materialität und Individualität. Motology and Material The use of materials is an important element of motology and psychomotricity. Beginning from the concept of »Materialkompetenz« (see e. g. Kuhlenkamp 2017), this paper focuses on human-object interactions within working procedures. It establishes a theoretical framework and gives practical examples, for this relevant part of motological health promotion. While the topic has been paid little attention in the German literature so far, it dovetails with related debates on the awareness of materials in work processes and body phenomenology. Keywords: material skills, health promotion, phenomenology, materiality and individuality [ 33 ] motorik, 45. Jg., 33-39, DOI 10.2378 / mot2022.art06d © Ernst Reinhardt Verlag 1 | 2022 [ FACHBEITRAG ] Motologie und Material Gesundheitsbezogene Überlegungen zur Schnittstelle Mensch und-Gegenstand Stephan Berg Zur Schnittstelle Individuum und Gegenstand lassen sich eine Vielzahl von Fragen und Perspektiven entwickeln, z. B. aus dem Bereich der Robotik, der Kulturanthropologie, der Psychoanalyse, dem Industriedesign oder dem Marketing. An dieser Stelle erfolgt notgedrungen eine Fokussierung auf den Kontext der arbeitsbezogenen Gesundheitsförderung. Hierfür soll zunächst knapp skizziert werden, welche Bedeutung Gegenstände im Arbeitsprozess (Stichwort Ergonomie) für aktuelle Konzepte der Gesundheitsförderung haben. Anschließend wird dann eine erweiterte Sichtweise auf den Umgang mit Dingen entwickelt, welche die mediale Beziehung Mensch-Gegenstand in den Mittelpunkt rückt. Dazu werden leibphänomenologische und aktuelle anthropologische Positionen (Ingolds »Ecology of Materials«), aber auch ein Konzept aus den Anfängen der Psychomotorik zu einem integrativen Gesamtschema verbunden. Die Bedeutung von Arbeitsmitteln für die Gesundheitsförderung Ergonomie ist ein zentraler Bereich der Arbeitsmedizin und bildet damit eine der ältesten Säulen der betrieblichen Gesundheitsförderung (vgl. Lenhardt/ Rosenbrock 2014; Ulich / Wülser 2018). Insbesondere durch das im Jahr 1996 ins Leben gerufene European Network for Workplace Health Promotion (ENWHP) soll ein wesentliches Ziel der WHO- - die Schaffung gesundheitsfördernder Arbeitsbedingungen- - umgesetzt werden. Arbeitsschutzgesetz, Arbeitssicherheitsgesetz aber vor allem auch das Präventionsgesetz (SGB V) bieten hier die rechtliche Grundlage, um [ 34 ] 1 | 2022 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis ergonomische Maßnahmen innerhalb einer betrieblichen Gesundheitsförderung durchführen zu können. Die ins Auge gefassten Belastungen am Arbeitsplatz lassen sich sinnvollerweise in die vier Bereiche Arbeitsmittel, Arbeitsumgebung, Arbeitsweise und Arbeitsorganisation unterteilen (vgl. Türk-Espitalier 2015). Unter Arbeitsmittel fallen etwa die Bestuhlung, Werkzeuge, Bildschirme usw. Ergonomische Anpassungen der Arbeitsmittel an die spezifischen physiologischen Gegebenheiten der Beschäftigten-- wie Stühle oder Tische-- sind mittlerweile ein eigenes Marktsegment. Insbesondere aus einer pathogenetisch orientierten Sichtweise ist die Identifizierung von Belastungen am Arbeitsplatz, verursacht durch ungünstige ergonomische Bedingungen, absolut zentral. Die Wichtigkeit einer ergonomischen Perspektive soll nicht bestritten werden, sie orientiert sich aber am Begriff des Körpers. Die damit einhergehende Grenzziehung zwischen Mensch und Gegenstand führt dazu, dass etliche Erfahrungen von Beschäftigten, welche z. B. Maschinen oder Werkzeuge als Teil ihres Körpers empfinden, begrifflich nicht gefasst werden können. Nachstehend erfolgt daher nun eine Annäherung an die genannte Schnittstelle anhand einer motologisch-phänomenologischen Perspektive. Schnittstelle Mensch / Gegenstand-- eine Annäherung Um hier eine pragmatische Annäherung zu schaffen wird im Folgenden der Weg über die Unterscheidung zweier gegensätzlicher Positionen gewählt. Diese sind nicht als unvereinbare Gegensätze zu verstehen, sondern sie bilden den Hintergrund zweier unterschiedlicher Grundfragen zum instrumentellen Umgang mit dem Gegenstand. Die erste Position fragt eher: Wie muss der Handelnde sein, damit Gegenstand und Mensch zueinander passen? Die zweite Position hingegen fragt: Wie muss der Gegenstand sein, damit die Passung der Schnittstelle gelingt? Neben dem ergonomischen Fokus als Verbesserung der Anpassung spielt hier auch die Individualität des Dinges hinein. Beide Betrachtungsweisen sollen im Folgenden genauer gefasst werden. Für die erste, phänomenologisch geprägte Position hat das Ding keine eigene Individualität, es wechselt lediglich durch die menschliche Intention seine Seinsweise. Diese intentionale Gerichtetheit auf einen Gegenstand ist für manche Tätigkeiten Herzstück der täglichen Arbeit, etwa der Tennisschläger für SportlerInnen oder das häufig maßgefertigte Scheren-Set für FriseurInnen. Am Beispiel von MusikerInnen wird besonders deutlich, was damit gemeint sein könnte, es scheint aber auch für andere Tätigkeiten in Abstufungen relevant. Von »welcher Seite« nämlich das Instrument erschaut wird, ist von großer Bedeutung für das Musizieren im engeren und für die Gesundheit am Arbeitsplatz im weiteren Sinne. Denn ob das Instrument als Belastung und Ursache von Schmerzen, als relativ neutrales »Arbeitswerkzeug« oder als glücklich gefundenes Objekt jahrelanger Instrumentensuche behandelt bzw. intendiert wird, verändert den Umgang mit dem Ding erheblich. Die zweite Position weist den Dingen eine spezifische Individualität zu, etwa in Form von Strebungen in einem Material. So kennzeichnet das Beispiel Tintenglas eine Neigung zu Bruch zu gehen. Aufgrund dieses inhärenten Zuges und Dranges in dem Ding, der spezifischen In- »So unterscheidet Husserl bereits in der V. Logischen Untersuchung (HUA XIX/ 1, 414) zwischen dem ›Gegenstand, welcher intendiert ist‹ und dem ›Gegenstand, so wie er intendiert ist‹. Der Gegenstand ist nicht einfach ein und derselbe, er erweist sich als derselbe im Wechsel von Gegebenheits- und Intentionsweisen, in denen er aus der Nähe oder aus der Ferne, von dieser oder von jener Seite erschaut, in denen er wahrgenommen, erinnert, erwartet oder phantasiert wird, in denen er beurteilt, behandelt oder erstrebt, in denen er als wirklich behauptet, als möglich oder zweifelhaft hingestellt oder negiert wird« (Waldenfels 1992, 15). [ 35 ] Berg • Motologie und Material 1 | 2022 [ 35 ] Berg • Motologie und Material 1 | 2022 stabilität, muss es entsprechend vorsichtig behandelt werden (vgl. Soentgen 1997). Die Beziehung zu Gegenständen ist somit nicht (nur) ein intentionaler Akt, sondern dem Handelnden steht in Form seines Arbeitsmaterials eine Art eigenständige, mit Neigungen versehene Individualität gegenüber. Zur zweiten Position gehört auch die Eigenschaft des Materials, Signale aussenden zu können. »Auch materielle Gegebenheiten werden als bzw. wie Subjekte wahrgenommen, die ein ›Eigenleben‹ haben und weder vollständig berechenbar noch einseitig manipulierbar sind« (Böhle et al. 2012, 36). Dieses Eigenleben kann bei entsprechendem Erfahrungswissen gespürt und gedeutet werden, sinnlich-spürendes Wahrnehmen von Maschinen und Geräten erweist sich als bedeutender Faktor in Arbeitsprozessen. »Das Empfinden und Spüren bezieht sich also nicht nur auf ein ›inneres Erleben‹, sondern informiert die Akteure über Qualitäten der Außenwelt. Anhand des ›schrägen Tons‹ eines Geräuschs wird erkannt, dass Verarbeitungsfehler auftreten oder sich ankündigen« (Böhle / Porschen 2011, 59). Um die zu Anfang gestellten Fragen vertiefen zu können, erfolgt nun eine Auseinandersetzung mit phänomenologischen Standpunkten zum Gebrauch von Dingen. Zum Umgang mit den Dingen-- das Phänomen der Einleibung In gewohnten Handlungen erfolgt die Eingliederung der Dinge in das motorische und perzeptive Körperschema. Jedes Werkzeug kann sich in eine »empfindungsbegabte Verlängerung unseres Körpers« (Polanyi 1985, 23) verwandeln. »Der Druck auf die Hand und der Stock sind nicht mehr gegeben, der Stock ist kein Gegenstand mehr, den der Blinde wahrnähme, sondern ein Instrument, mit dem er wahrnimmt. Er ist ein Anhang des Leibes, eine Erweiterung der Leibsynthese« (Merleau-Ponty 1966, 182). Typisch für das Phänomen der Einleibung ist nicht allein die empfindungsbegabte Eingliederung, sondern ebenso eine Intentionalität des Leibes, die auf die Dinge abzielt ohne intellektuelle Reflexion. Daher ist es möglich, dass etwa der einverleibte Taststock des sehbehinderten Menschen nicht als Gegenstand erscheint, sondern gleichsam ganz im erlebten »Hantierungsraum« (ebd., 174) der Hand verschwindet. »Was einverleibt ist, ist aufgehoben in dem, was wir durch es erschließen, uns als solches nicht zugänglich und so auch der Kritik verschlossen« (Neuweg 2015, 74). Bestimmte Neigungen des Gegenstandes verlieren aber in dieser Sichtweise an Bedeutung, ebenso wie die Möglichkeit, von sich aus eine Art Appell aussenden zu können. Dass sich jedoch der Aufforderungscharakter von Dingen in das Verhältnis Individuum-Gegenstand einmischt, ist sicherlich eine bekannte theoretische Bezugsquelle und praktische Gewissheit in der Psychomotorik. Der Aufforderungscharakter der Dinge Die Sichtweise, dass Objekte Menschen zu einem bestimmten Verhalten veranlassen, geht von einer wechselseitigen Bezogenheit beider Seiten aus. Dinge »wollen« im Feld gestalthaft wahrgenommener Informationen, dass etwas mit ihnen getan wird. Das Seil fordert zum (Ver) Knoten auf, der Ball zum Werfen oder Rollen. Diese Sichtweise ist von Kurt Lewin in den Diskurs eingeführt und insbesondere durch Gibson Ende der 1970er Jahre vertieft worden (Gibson 1982, 150). Es geht darum, Handeln nicht nur als Informationsverarbeitungsprozess zu verstehen, sondern eingebunden in einen gegenständlichen, durch Dinge »auffordernden« Kontext. Auch Motologie und Psychomotorik wurde nachweislich durch diese Auffassung beeinflusst (vgl. Fischer 2009). Beispielsweise werden dem Pedalo oder den Bauklötzen eindeutig appellhafte, die Kinder in ihrem welterschließenden Spiel auffordernde Eigenschaften zugesprochen. Hierbei richtet sich die Frage vor allem auf den Charakter der Gegenstände, das Individuum selbst bleibt dabei merkwürdig unbefragt. Nachstehend wird daher das Arbeitskonzept von Gindler skizziert, welches eine besondere Auseinandersetzung mit dem Aufforderungscharakter von Dingen bietet. [ 36 ] 1 | 2022 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Abb. 1: Materialien in der Psychomotorik Gegenstand-- was willst du von mir? Ein Rückgriff auf Elsa Gindler Gindler (1885-1961) gehört zu den Ursprüngen der Psychomotorik/ Motologie (Seewald 2002) und entwickelte ihr Arbeitskonzept in enger Zusammenarbeit mit dem Musiker Heinrich Jakoby. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was will gerade diese Sache von mir? (Arps-Aubert 2010, 247). Diese Fragerichtung führte zu einer Arbeit, die nicht nach einzelnen Handlungen einer Person fragt, sondern nach dem Zustand, in den ein Mensch kommen muss, um mit einem Gegenstand (einer Aufgabe) zweckmäßig umgehen zu können. Mit ihrem Kernsatz »Werden Sie erfahrbereit« (Seewald 2002) betont sie einen menschlichen Zustand, der gewissermaßen reziprok zum Aufforderungscharakter der Dinge steht. Im Wahrnehmen, was sich meldet, kann der Appell eines Gegenstandes vom Individuum gehört und verstanden werden. In Erinnerung an Gindler wird somit eine wichtige Erweiterung des Aufforderungskonzeptes möglich. Ursprünglich bezog sich der Appell der Dinge auf die gestalthafte Wahrnehmung in einem Feld von Informationen. »Durch den Wahrnehmungsakt tritt das Individuum in Beziehung zu seiner Umwelt, es entdeckt, was die Umwelt anzubieten hat« (Fischer 2009, 63). Unklar bleibt dabei aber, ob es eine geeignete oder ungeeignete menschliche Verfassung für die Wahrnehmung von Aufforderungen gibt. Mit dem Begriff des Zustandes öffnet sich hingegen eine Subjektperspektive, die letztendlich erst ermöglicht, das Spüren in die Aufforderung einzuführen. Körper- und Bewegungsarbeit ist dann weniger- - wie in der psychomotorischen Arbeit mit Kindern- - wahrnehmungsgeleitete Erkundungsaktivität von Gegenständen im Mensch-Umwelt-Gefüge. Die Arbeit mit dem Medium Bewegung dient vielmehr in der Sprache Gindlers dazu, einen zweckmäßig reagierbereiten Gesamtzustand zu entwickeln, der vor allem durch »antennige«, d. h. auf die Gegenstände hin orientierte Empfangsbereitschaft gekennzeichnet ist. »Beim Tasten und Greifen ist es das tastende, erfahrungsbereite In-Kontakt-Kommen mit dem Objekt und nicht ein An-fassen und Be-greifen mit überflüssigem Druck« (Jakoby 1994, 12). Folgendes Praxisbeispiel zeigt die Relevanz dieser Überlegungen für den Kontext der Gesundheitsförderung. Praxisbeispiel 1: Greifen und Tasten ViolinistInnen setzen die Finger der linken Hand auf das Griffbrett. Die originale italienische Bezeichnung für diesen Teil der Geige ist jedoch tastro, eine wörtliche Übersetzung müsste also Tastbrett lauten. Tatsächlich kann ein tastendes Aufsetzen der Finger neuropathischen Schmerzen im Bereich der Fingerbeere, dem sog. durchgespielten Finger vorbeugen. Diese schmerzhafte musikermedizinische Erkrankung ist »höchstwahrscheinlich durch eine mechanische Druckschädigung feinster somatosensorischer, insbesondere nozizeptiver Nervenenden im Bereich der Fingerbeere bedingt« (Altenmüller / Jabusch 2012, 199). Perkussives ›Klopfen‹ der Finger und feste Greifbewegungen gelten als Risikofaktoren (ebd.). Das In-Kontakt-Kommen mit dem Objekt kann hier als Be-tasten des Tastbrettes (nicht Griffbrettes) den risikoreichen überflüssigen Druck vermeiden helfen. Unterstützt wird diese Aussage durch Forschungsergebnisse, die zeigen, dass ein Großteil der Gei- [ 37 ] Berg • Motologie und Material 1 | 2022 [ 37 ] Berg • Motologie und Material 1 | 2022 gerInnen die doppelte Menge an notwendiger Kraft [N] aufbringt, um die Saite herunterzudrücken. Bereits die Hälfte der Kraft würde ausreichen, die volle Schwingungsfähigkeit des Tones zu gewährleisten (Deutsche Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin). Abb. 2: Schwingende Saite einer Violine Gekonnter Umgang mit den Dingen gelingt im Wechsel zwischen antenniger Ausrichtung auf die Dinge hin und dem Spüren in Form einer Widerfahrnis, dass sich etwas meldet. Eine Sichtweise, die an das Konzept der »reflexiven Leiblichkeit« mit seiner intentionalen »Ausrichtung auf den Gegenstand im Sinne des »absichtsvollabsichtslos«« (Seewald 2010, 297) erinnert. Allerdings werden die Gegenstände hierbei nicht in ihrer Materialität betrachtet. Daher wird nun abschließend die Verhältnisbestimmung Individuum / Gegenstand noch durch eine Sichtweise des Anthropologen Ingold vervollständigt. Dieser untersucht das Handlungspotenzial organischer und anorganischer Materialien, ihr Werden und ihre Korrespondenz-- kurz: die Ökologie von Materialien. Ecology of Materials (Ingold) In seiner Publikation The Life of Lines (2015) nimmt Ingold folgende Interpretation der Schnittstelle von Individuum und Gegenstand (anhand eines Cellos) vor: In dieser Position ist die Wechselwirkung und sogar eine Art Vermischung der Materialien zentral, ohne dass dabei der Gegenstand zu einem Akteur wird. Vielmehr interessiert sich Ingold für die Lebendigkeit des Materials, für seine ökologische Materialität. Menschen spüren beim Umgang mit Dingen diese als ein Bündel lebendiger Materialien (Holz, Metall, Harz). Die Wechselwirkung Individuum / Gegenstand wird maßgeblich durch die Materialität des Dinges beeinflusst. Ein adäquater Umgang mit Dingen ist für Ingold eine achtsame und praktische Beschäftigung mit dem Zusammenwirken der Materialien in Resonanz mit wechselnden Umweltbedingungen (z. B. Wetter). Daraus resultiert ein Know-how, das für ihn die Lücke zwischen Handwerk (craftsmanship) und Gelehrsamkeit (scholarship) schließt. Sicherlich ist an dieser Stelle zu fragen, ob dieser Zugang zur Materialität von Dingen in einer zunehmend virtuellen und digitalen Welt noch relevant ist. Weitere Forschung hinsichtlich einer Art »digitaler Materialität« bilden hier für den Fachdiskurs ein möglicherweise lohnendes Thema für die Zukunft. Zusammenfassung Dieser Beitrag hat den Versuch unternommen, das Verhältnis zwischen Individuum und Gegenstand auszudifferenzieren. Deutlich wurde, dass hierbei die Intentionalität der Dinge für die Phänomenologie und der Appellcharakter für die Motologie / Psychomotorik bedeutsam sind. Diese beiden Aspekte wurden durch zwei zusätzliche Sichtweisen erweitert, sodass nun die »When I begin to play, the instrument no longer feels like an ›instrument‹ at all. Rather it feels like a bundle of materials-- wood, bow hair, metal, rosin and air- - that seems literally to explode as I begin to play, blasting off into the immensity of auditory space. It is, as you put it in your question, in a permanent state of deconstruction and reconstruction. When I play, then, I am not so much playing an instrument as mixing the materials (elasticities, flows, frictions, etc.) of my own body with the wood, rosin, metal, hair and the resonant air« (Ingold in: Löffler & Sprenger 2016, 88). [ 38 ] 1 | 2022 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Ausgangsfrage genauer gestellt werden kann und damit über klassische Fragen der Ergonomie hinausweist (Schmitdke 1993). Für die erste Frage, die den Fokus eher auf das Individuum richtet, damit es zu einer Passung kommt, sind vor allem Intentionalität und Empfangsbereitschaft zentral. Für eine Fragerichtung, die im Passungsverhältnis eher auf den Gegenstand fokussiert, erweisen sich die Individualität und die Materialität als zentral. Die folgende Grafik 1 fasst die herausgearbeiteten Positionen überblicksartig zusammen: Grafik 1: Das Verhältnis von Mensch und Gegenstand Abschließende praxisrelevante Überlegungen Das entwickelte Schema eignet sich, um gesundheitsrelevante Fragestellungen zur Ergonomie am Arbeitsplatz genauer formulieren und nach Lösungsmöglichkeiten suchen zu können. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Praxisbeispiel 2: Der Umgang mit der Computermaus Im Rahmen des Forschungsprojektes Prevention of Muscle Disorders in Operation of Computer Input Devices, ETH Zürich, untersuchte eine ForscherInnengruppe Zusammenhänge zwischen häufig auftretenden Beschwerden der Nackenmuskulatur und Doppelklicks mit der Computermaus (Schnoz 2010). Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass bei einem Doppelklick bei vielen Personen auch die Nackenmuskulatur (absteigender Trapezius) koaktiviert wird- - der Nacken klickt sozusagen mit. Bei der Nutzung eines digitalen Stiftes hingegen ist die Koaktivierung der Nackenmuskulatur (gemessen mit EMG) für die gleiche Tätigkeit (Doppelklick) bei diesen Personen weit geringer. Insgesamt stand bei dieser Untersuchung die Frage im Raum, ob die Koaktivität des Nackens den gesamten Arbeitsalltag überdauert, von den Personen aber nicht wahrgenommen wird, da sie aufgrund ihres geringen Ausmaßes unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt. Auf die im Ganzen interessanten Forschungsergebnisse kann hier nur verwiesen werden (ebd.). Das entwickelte Schema ermöglicht nun, daran anschließende Fragen zu stellen. Wie werden die Arbeitsmittel von einer Person an einem bestimmten Arbeitsplatz intendiert? Ist die Intentionalität dem digitalen Stift gegenüber möglicherweise anders? Wie wird die Computermaus beurteilt, behandelt oder wahrgenommen? Gelingt es der Person, durch ein adäquates In-Kontakt-Kommen mit der Maus nur so viel Kraft [N] dosiert aufzubringen, um die Klicks ohne überschüssige Kraft auszulösen? Durch welche Materialität zeichnen sich die Arbeitsmittel aus? Oder erlebt die Person sogar, dass die Maus oder der Pen besondere Neigungen haben (wie z. B. »an manchen Tagen will die Maus einfach nicht klicken«), die auf eine bestimmte Individualität hinweisen? Derartige Fragen lassen sich durchaus als Ausgangpunkt für Bewegungssituation nutzen hinsichtlich einer tätigkeitsbezogenen Gesundheitsförderung (vgl. ausführlich: Berg 2019). In diesem Sinne verweist die geschilderte Problematik auch auf die Bedeutung, die eine Schulung der Körperwahrnehmung und Prozesse des Bewegungslernens für eine arbeitsbezogene Gesundheitsförderung haben. Um ein Mitklicken des Nackens zu verhindern, scheint es für manche Personen notwendig, differenzierte und der Körperwahrnehmung zugängliche Bewegungsmuster für repetitive Arbeitsabläufe zu entwickeln. Das Spüren von Bewegungsqualitäten in Arbeitsprozessen (z. B. mühelos, flüssig) gewinnt an Relevanz und kann von der Motologie als Beitrag für die betriebliche Gesundheitsförderung geleistet werden. Daran schließen sich [ 39 ] Berg • Motologie und Material 1 | 2022 [ 39 ] Berg • Motologie und Material 1 | 2022 perspektivisch Forschungsfragen an, ob etwa Einleibungsphänomene- - z. B. der Computermaus als subjektiver Verlängerung der Hand- - auch Einflüsse haben auf mögliche Koaktivierung der Trapeziusmuskulatur. Die motologische Gesundheitsförderung rückt damit näher an den Arbeitsplatz heran, nicht als Norm oder Kontrolle, sondern im Blick auf den Umgang mit Gegenständen innerhalb von Arbeitsprozessen. Auf diese Weise erlangt ein tradierter Begriff der Psychomotorik- - die »Materialkompetenz«- - eine neue Konnotation und Kontextualisierung. Dieser Beitrag durchlief das Peer Review. Literatur Altenmüller, E., Jabusch, H. C. (2012): Neurologie. In: Spahn, C., Richter, B., Altenmüller, E. (Hrsg.): Musikermedizin. Diagnostik, Therapie und Prävention von musikerspezifischen Erkrankungen. Schattauer, Stuttgart, 187-227 Arps-Aubert, E. (2010): Das Arbeitskonzept von Elsa Gindler. Dargestellt im Rahmen der Gymnastik der Reformpädagogik. Verlag Dr. Kovac, Hamburg Berg, S. (2019): Motologisch orientierte Gesundheitsförderung in Organisationen- - dargestellt am Beispiel eines Orchesters. Inaugural-Dissertation, Philipps-Universität Marburg Böhle, F., Porschen, S. (2011): Körperwissen und leibliche Erkenntnis. In: Keller, R, Meuser, M. (Hrsg.): Körperwissen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden Böhle, F., Orle, K., Wagner, J. 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(1992): Einführung in die Phänomenologie. Fink., München Der Autor Dr. phil. Stephan Berg, Motologe (M. A.) & Musiker (Diplom Instrumentalpädagoge) Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft und Motologie, Arbeitsbereich Motologie & Psychomotorik, Philipps- Universität Marburg. Kontakt bergste@staff.uni-marburg.de
