eJournals motorik 45/3

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2022.art24d
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2022
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Quantitative Gesundheitsparameter in der psychomotorischen Reflexion am Beispiel der Herzfrequenzvariabilität

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2022
Ulf Henrik Göhle
Jan C. Schuller
Stefania Ferraro
Selbstreflexion im Bewegungsunterricht sowie in therapeutischen Settings kann von der Messung der Herzfrequenzvariabilität, die valide Rückschlüsse auf den Regulationszustand des autonomen Nervensystems zulässt, profitieren. Dies im Besonderen, wenn die Ergebnisse im de-zentrierten Modus eines dreistufigen Reflexionsmodells und in einem geeigneten semiotischen Format eingespeist werden. Aufbauend auf konzeptionellen Überlegungen berichten wir von ersten Ergebnissen aus der Praxis und diskutieren die Bedeutung physiologischer Daten für die Motologie und Psychomotorik.
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Zusammenfassung / Abstract Selbstreflexion im Bewegungsunterricht sowie in therapeutischen Settings kann von der Messung der Herzfrequenzvariabilität, die valide Rückschlüsse auf den Regulationszustand des autonomen Nervensystems zulässt, profitieren. Dies im Besonderen, wenn die Ergebnisse im de-zentrierten Modus eines dreistufigen Reflexionsmodells und in einem geeigneten semiotischen Format eingespeist werden. Aufbauend auf konzeptionellen Überlegungen berichten wir von ersten Ergebnissen aus der Praxis und diskutieren die Bedeutung physiologischer Daten für die Motologie und Psychomotorik. Schlüsselbegriffe: quantitative Gesundheitsparameter, Herzfrequenzvariabilität, Reflexions-Modelle, Semiotik, Selbstregulation, Musik Quantitative health-parameter in psychomotor reflection-- illustrated on heart rate variability data. Self-reflection in movement-classes, as well as in therapeutic settings can benefit from the measurement of heartrate-variability, that give valid feedback on the regulatory status of the autonomous nervous system. This works particularly well, if the results are fed into the reflection process in a de-centred mindset and in an appropriate semiotic format. Building on conceptual notions, we report from first results out of the practice and discuss the relevance of physiological data within psychomotor science. Keywords: quantitative health parameters, heart rate variability, models of reflection, semiotics, self-regulation, music [ 135 ] motorik, 45. Jg., 135-141, DOI 10.2378 / mot2022.art24d © Ernst Reinhardt Verlag 3 | 2022 [ FACHBEITRAG ] Quantitative Gesundheitsparameter in der psychomotorischen Reflexion am Beispiel der Herzfrequenzvariabilität Ulf Henrik Göhle, Jan C. Schuller und Stefania Ferraro metern zu analysieren. Die ersten Forschungsfragen, die sich hier ergeben, sind z. B., ob die »Smoothness« (dt. »Glätte«, vgl. Bagalà et al. 2013) von Bewegungen auch mit einem leib- Innerhalb der Motologie und Psychomotorik haben sich in den letzten Jahren Bestrebungen intensiviert, quantitative Daten zu erheben und damit über empirische Fragestellungen die bestehende Theorielandschaft weiterzuentwickeln. Derzeit befinden sich diese empirischen Aktivitäten noch in einer Pilotphase mit heuristischen Untersuchungen und Machbarkeitsstudien. So berichten Blessing und Vetter (2021) über einen Ansatz der Grafomotorik, bei dem mithilfe eines elektronischen Tablets, das die Schreibbewegung mit normalem Druckpapier und einem speziellen Induktionsstift bei herkömmlicher Kugelschreibermine digital aufzeichnet. Auf diese Weise können möglichweise psychomotorische Interventionen auf digitale Weise genauer in der Wirkung auf die Grafomotorik untersucht werden, u. a. weil kleinschrittige Veränderungen in der Schreibmotorik durch erneutes Abspielen und Analysieren besser erfasst und phänomenologisch mit den Selbstberichten der Versuchspersonen verglichen werden können. Des Weiteren eröffnet die »Motion-Tracking« Technologie (»Simi-Motion«), die seit kurzem dem Institut für Motologie und Sportwissenschaft der Universität Marburg zur Verfügung steht, bestehende diagnostische Verfahren substanziell zu erweitern sowie psychomotorische Situationen anhand von quantitativen Para- [ 136 ] 3 | 2022 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis lichen Einheitsgefühl einhergeht bzw., ob ein »dinghaftes« Erleben von Körper mit einem Verlust an Geschmeidigkeit korreliert. Ein weiteres Bestreben, das hier präsentiert und in Grundzügen konzeptionell reflektiert werden soll, besteht in der Einbeziehung von Ergebnissen aus Messungen der Herzfrequenzvariabilität (HRV) in (psychomotorische) Reflexionsprozesse. Dabei ist das semiotische Format, in dem die HRV-Ergebnisse in den Reflexionsprozess eingespeist werden, hier von besonderem Interesse. Ziel ist es, subjektive und objektive Ebenen der Reflexion in ein produktives Verhältnis zueinander zu bringen. Ausgangspunkt bei dem Aufbau dieses Ansatzes ist der Bewegungsunterricht in der künstlerischen Hochschulausbildung von SängerInnen. Bewegung in der künstlerischen Hochschulausbildung Das Fach »Bewegung« in der Abteilung Gesang und Musiktheater an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main (Hf- MDK) stellt eine besondere Herausforderung dar. Das »Instrument« Stimme besteht aus lebendigen Zellen und der primäre Ort der Klangerzeugung befindet sich für unser Auge nicht direkt sichtbar im Körper. Außerdem spielen in der Klangerzeugung viele, selbst den Stimmbändern weit entfernte, Körperstrukturen eine nicht zu unterschätzende Rolle (Rohmert 1991). Dass die Stimme darüber hinaus auch ein Spiegel unseres Seelenlebens ist, wird z. B. in der Praxis der Körperpsychotherapie nach Geuter (2018) akzeptiert. Daher ist das Fach »Bewegung« an einer Kunsthochschule gefordert, spezielle Ansätze, individualisierte Übungen und zeitgemäße Lehr- Formate zu entwickeln, die dieser Besonderheit des Instruments Stimme Rechnung tragen. Ein Klavier verändert sich nicht, wenn wir den Raum verlassen und nach einem Mittagessen zurückkommen, die Stimme als Instrument sehr wohl. Die Stimme reagiert viel stärker als andere Instrumente auf feinste Veränderungen psychophysiologischer Zustände, insbesondere auf Stress und damit einhergehende muskuläre Verspannungen. Die Kompetenz, körperliche Zustände wahrzunehmen, sinnvoll zu interpretieren und mit körperlichen Übungen oder auch mental angemessen (in Auftrittssituationen blitzschnell) reagieren zu können, ist ein wesentliches Lernziel des Bewegungsunterrichts. Auch wenn diese Kompetenz im künstlerischen Setting erfolgskritisch ist, so erscheint sie in unserem (psychosozialen) Alltag nicht minder hilfreich und die in der Praxis der Hochschullehre gewonnenen Erkenntnisse und Ansätze sind für die Psychomotorik und Motologie von Relevanz. Herzfrequenzvariabilität (HRV) im Bewegungsunterricht Die Aktivität unseres autonomen Nervensystems lässt sich über eine (hinreichend genaue) Pulsmessung berechnen (Hernando et al. 2018). Dabei werden die Abstände der Pulsschläge in Millisekunden erfasst und anschließend die Herzfrequenzvariabilität (HRV) statistisch ermittelt. Die Zeitstruktur der Pulsschläge spiegelt den Aktivierungszustand des autonomen Nervensystems mit seinen physiologischen Komponenten Sympathikus und Parasympathikus wider. Auf diese Weise kann auch das subjektive Körpergefühl mit den objektiven Messdaten verglichen werden, denn wir Menschen gewöhnen uns schnell an bestimmte Zustände, auch wenn diese suboptimal für das Lernen oder auf Dauer sogar ungesund sind. Hier tut sich für die psychomotorische Forschung ein faszinierendes Feld auf, da aufgrund des Prinzips der »Supervenienz« höhere, z. B. mentale Zustände mehrfach realisiert werden können. Das Zusammenspiel aus Physiologie, Körper und Geist ist hoch komplex und es erscheint sinnvoll, den Körper-Begriff für empirisch analysierbare Phänomene zu nutzen, während der Leibbegriff für hoch komplexe, emergente, nicht auf Kennwerte oder Zahlen reduzierbare Phänomene abzielt (Göhle 2021). Infolgedessen ist es Aufgabe der psychomotorischen Forschung, die Einzigartigkeit der Individuen empirisch zu beleuchten, auch weil da- [ 137 ] Göhle • Quantitative Gesundheitsparameter 3 | 2022 [ 137 ] Göhle, Schuller, Ferraro • Quantitative Gesundheitsparameter 3 | 2022 Das darauf aufbauende Reflexionsmodell geht von einem Dreischritt aus: 1. Ur-zentrierter Modus- - Der Akteur bzw. die Akteurin befindet sich in direkter Interaktion mit einem Objekt oder einem anderen Subjekt, dabei stellt der semiotische Prozess, der dieser Interaktion unterliegt, für die Beteiligten kein Problem dar. Wir könnten hier von einem »Vor-epistemischen Modus« sprechen, solange hier unsere Interpretationsfolien den authentischen (zwischenleiblichen) Kontakt nicht maßgeblich beeinflussen. 2. De-zentrierter Modus-- Hier verlassen die Beteiligten die authentische, unbehelligte Interaktion und nehmen eine theoretische Position ein. Verschiedene Arten des Feedbacks oder in unserem Falle HRV-Daten können reflektiert werden. Dabei wird eine erweiterte, möglichst objektive Betrachtungsweise angestrebt. Selbstverständlich ist ein rein objektiver Modus nie möglich, da auch Daten interpretiert werden müssen. 3. Re-zentrierter Modus- - Im re-zentrierten Modus können die epistemischen Schablonen (Feedback, Daten etc.) aus dem de-zentrierten Modus mit der Selbstwahrnehmung abgeglichen und integriert werden. Die Re-zentrierung ist ein Prozess der Komplexitätssteigerung: Während im de-zentrierten Modus bewusst eine Reduktion der Komplexität der Reflexion vorgenommen wurde, verlangt eine Re-zentrierung die Steigerung der Komplexität. Denn die de-zentrierten Informationen müssen dabei mit der Selbstregulation verknüpft werden, um ein facettenreicheres Bild des Selbst gewinnen zu können. Abbildung 1: Grundüberlegungen zur Semiotik und Selbstregulation (aus: Raeithel 1998, 167) mit die Praxis der Reflexion gewinnbringend erweitert werden kann. Der hier vorgestellte Ansatz strebt nun an, die Messung der Herzfrequenzvariabilität im Sinne eines »Extended Minds« in den Bewegungsunterricht für SängerInnen zu integrieren und einen Anwendungsbezug aufzubauen, der im komplexen Entwicklungsprozess praktikable Hilfestellung bietet. Das Konzept »Extended Mind« wurde von Bateson (1972) konzeptionell begründet und von Clark und Chalmers (1998) ausformuliert und besagt in Kürze, dass sich der Wahrnehmungs- und Wirkbereich des Menschen über den eigentlichen Körper hinaus erstreckt (durch Werkzeuge, Musikinstrumente, Technologien, wie z. B. Smartphones, aber auch Organisationen, Betriebe, Fabriken etc.). Für die Motologie und Psychomotorik erscheint dieser Ansatz deswegen von Relevanz, da auch hier routinemäßig körperliche Erfahrungen und Zustände zumeist subjektiv reflektiert werden, während ein »Extended Mind«-Ansatz nach Objektivität strebt. Es geht also darum, ein diagnostisches Werkzeug in der Selbstreflexion zu nutzen. Ein derart erweiterter Selbstreflexionsprozess birgt Potentiale, aber auch Gefahren, denen mithilfe einer dreistufigen Reflexion begegnet werden soll. Reflexionsmodell Das zugrunde liegende Reflexionsmodell wurde von Arne Raeithel (1998) in Grundzügen formuliert und von Göhle (2019) in die Motologie eingebracht. Es ist symboltheoretisch fundiert und passt so ideal zum Verstehenden Ansatz innerhalb der Motologie und Psychomotorik (vgl. dazu Seewald 1992, 2007). Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass wir Menschen über semiotisch, mit »Sinn« und »Bedeutung« aufgeladenen Werkzeugen oder Zeichen operieren, wie unter Abb. 1 (a) und (b) illustriert. Entscheidend für den hier verfolgten Ansatz ist nun die in untenstehender Grafik unter Abb. 1 (c) aufgezeigte semiotische Vermittlung in der Selbstregulation. Hierbei wirkt ein Zeichen, respektive Symbol auf das Subjekt im Sinne einer Selbstregulation ein. [ 138 ] 3 | 2022 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Die im Folgenden vorgestellte Innovation für den »de-zentrierten« Modus besteht darin, dass die einer »Extended Mind« ähnlichen Erweiterungen der Reflexion über diagnostische Technologien nicht in hoch abstrakte Zahlen münden, sondern das Prozesshafte von körperlichen Zuständen in den Fokus rücken. Diese Art Diagnostik strebt ein symboltheoretisch adäquates Einspeisen von erweiterter Introspektion in den Reflexionsprozess an, der gerade dadurch den Übergang von De-zentrierung in Re-Zentrierung unterstützen kann. Daten und Darstellung Die Messungen der Herzfrequenzvariabilität bieten nun eine gleich doppelte Chance: Sie beginnen damit, das Reflexionsmodell empirisch zu testen, sie können aber auch gleichzeitig das Reflexionsmodell im Detail genauer ausformulieren. Letzteres soll hier im Vordergrund stehen, da sich die empirische Datenlage noch im Aufbau befindet. Eine erste Analyse von Herzfrequenzdaten kann mit univariaten Methoden erfolgen. Hier wird die gesamte Abfolge von Inter-Beat-Intervallen (IBIs) auf eine einzige Zahl reduziert. Dabei kommen z. B. Streuungsmaße zum Einsatz, wie die Standardabweichung, die in diesem Fall als RMSSD (root mean square of successive differences between normal heartbeats) bezeichnet wird. Diese Datenreduktion auf eine einzige Zahl hat Vorteile- - das Ergebnis ist leicht fassbar- - jedoch auch Nachteile, weil wesentliche Aspekte in den Rohdaten- - insbesondere das Prozesshafte der Herzdaten- - durch die Datenreduktion verloren gehen. In diesem Fall befinden wir uns auf hoch abstraktem Terrain und im oben referierten Reflexionsmodell steht dann im Extremfall eine einzelne Zahl, die es im de-zentrierten Modus zu interpretieren gilt. In der Pilotphase des Forschungsprojekts an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst haben sich jedoch geometrische Darstellungen der HRV bewährt. Das Histogramm der IBIs zeigt in der Regel ein einziges ausgeprägtes Maximum, und die daraus resultierende annähernde Dreiecksform ergibt mit dem »Triangular interpolation of normal to normal intervals« (TINN) ein genaueres und anschaulicheres Maß als die univariaten Methoden. Eine weitere Methode besteht darin, jeweils aufeinanderfolgende IBIs in einem Streudiagramm darzustellen, das dann als Poincaré-Plot bezeichnet wird. Die resultierende Form der Punktwolke (länglich gestreckt oder rund / eiförmig) ermöglicht eine unmittelbar anschauliche und relativ leicht interpretierbare Repräsentation von HRV-Daten. Dabei weist, grob gesagt, eine kreisbzw. eiförmige Punktwolke auf hohe Regulationsfähigkeit oder einen entspannten Zustand hin, im Gegensatz zu einer schmalen und langgestreckten Form. Im nachstehenden Fallbeispiel (siehe Abbildungen 2, 3, 4, 5a, b, c) wurde eine dreiminütige HRV-Messung in Ruhe vor und nach einer Stunde im Fach »Atem- und Bewegungstechniken« mit dem Thema »Atemschule nach Schlafforst-Andersen« aufgezeichnet. Die Messungen zeigen zu Anfang einen RMSSD von 24,7 ms, was deutlich unter dem Normbereich der Alterskohorte der Versuchsperson liegt und auf eine sehr hohe Aktivierung des Sympathikus hinweist. Nach der Stunde betrug der RMSSD 79,2 ms, was oberhalb des Normbereichs liegt und auf eine starke Erholungsreaktion des Parasympathikus hindeutet. Die Daten wurden mittels eines Sensors am Brustgurt und dem HRV-System von Firstbeat® aufgezeichnet, die Rohdaten via Excel exportiert und mit dem Programmen Kubios Premium® und R-Studio weiterverarbeitet. Abbildung 2: Ergebnis zweier dreiminütiger HR-Messungen einer Versuchsperson vor (schwarz) und nach (blau) der Durchführung einer Atemübung. Nach den Atemübungen war die Variationsbreite der IBIs (Inter-Beat-Intervalle) größer und die Pulsfrequenz langsamer. [ 139 ] Göhle • Quantitative Gesundheitsparameter 3 | 2022 [ 139 ] Göhle, Schuller, Ferraro • Quantitative Gesundheitsparameter 3 | 2022 Zur Erstellung eines Histogramms werden die IBIs in Größenklassen eingeteilt und die Anzahl der IBIs in den Größenklassen durch die Länge der Balken dargestellt. Falls die IBIs eine geringe Variation aufweisen, präsentiert sich das resultierende Histogramm als ein schmales hohes (annäherndes) Dreieck. Eine starke Variation der IBIs sorgt für ein entsprechend breiteres und dafür niedriges Dreieck. Das Interessante an diesem Fallbespiel war nun, dass die Versuchsperson auf die Frage, wie gestresst sie sich fühle, ihren Zustand als »normal« bezeichnete und während der Atemübungen etwas missmutig fragte, »was die denn bringen sollen«. Die Versuchsperson hatte sich, so lässt sich vermuten, an hohe Stresszustände- - in diesem Falle sehr starke Sympathikus-Aktivität in einer Entspannungssituation- - gewöhnt, was auf dem (vorher im ur-zentrierten Modus bekannt gewordenen) biografischen Hintergrund plausibel erscheint. Gleichzeitig zeigt diese Vorgehensweise, dass bewusstseinsfähige, aber nicht-bewusstseinspflichtige Veränderungen in der Neurophysiologie des Körpers erst über den de-zentrierten Modus überhaupt reflektiert werden können. Die beschriebenen geometrischen Formen sind nun ein wichtiger Schritt, hoch abstrakte Zahlen in ein symbolisches Format zu überführen, das sich intuitiver verstehen lässt. Musik der Herzfrequenzvariabilität Schuller und Göhle (i. V.) beschreiben ein Verfahren, bei dem die IBI-Strukturen in hörbare Töne »übersetzt« werden. Im Gegensatz zu früheren Verfahren (z. B. Belora et al. 2004), bei denen die IBIs direkt linear in hörbare Frequenzen übersetzt wurden, werden die IBIs, entsprechend einem Histogramm, in Größenklassen aufgeteilt. Jede Größenklasse entspricht dabei einem Ton auf einer Klaviatur mit 88 Tönen (bzw. 4 Oktaven). Dieses Vorgehen ermöglicht es, eine Zeitreihe von IBIs in Notenschrift zu notieren und so hör- und spielbar zu machen. Die Größe der IBIs kann ebenso verwendet werden, um die Haltedauer einzelner Noten zu ermitteln. Im musikalischen Ergebnis ist die Größe der IBIs somit durch Tonhöhe und -dauer repräsentiert. Abbildung 5 a): Die Länge von 32 aufeinanderfolgender Inter-Beat-Intervalle. Die Messung erfolgte bei einer liegenden Versuchsperson im Ruhezustand. Reflexionsmodell erweitert Die Neuerung dieses Verfahrens gegenüber der bereits erprobten »Sonifikation« der Herzfrequenz (HR) (Ballora et al. 2004) liegt in der Abbildung 3: Histogramme der IBIs vor und nach der Durchführung einer Atemübung. Gleiche Daten wie in Abb. 2. Nach der Atemübung war die Variationsbreite der IBIs erheblich größer. Dies spiegelt sich in der Form der Histogramme wider (vorher: schmales und hohes »Dreieck«, nachher: breites und niedriges »Dreieck«, hier in blau eingezeichnet). Abbildung 4: Poincaré-Plot der Daten aus Abb. 2 und 3. Jeweils aufeinanderfolgende IBIs (RR[n] und RR[n+1)] werden im Streudiagramm gegeneinander aufgetragen. Die Variationsbreite der IBIs lässt sich am Längenverhältnis der Größen SD1 und SD2 (Standardabweichungen entlang der Hauptachsen) abschätzen. Vor der Atemübung betrug SD1/ SD2 0.46 und danach 0.64. [ 140 ] 3 | 2022 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Umsetzung in Melodien. Die Zeitstruktur der »Inter-Beat-Intervalle« wirkt sich direkt und unmittelbar auf die Struktur der Ton-Intervalle aus, so dass ein gestresster Zustand Melodien erzeugt, die weniger Tonumfang und Variabilität besitzen als die in einem ausgeglichenen oder entspannten Zustand. Ein aus den obigen Daten erzeugtes Klangbeispiel ist unter: https: / / true signal.life/ hrv/ Motorik2022Klangbeispiel.html abrufbar. Insbesondere im Kontext des Fachs »Bewegung« für SängerInnen macht diese weitere Übersetzung der Herzdaten in Melodien Sinn. Mit dieser Darstellung lässt sich der Prozess der Herzschläge sogar erneut abspielen und wird dadurch »erlebbar«, eine Parallele zum oben berichteten Verfahren der digitalen Aufzeichnung via Tablet in der Grafomotorik, bei dem der Schreibprozess erneut abgespielt und reflektiert werden kann. Das obige Reflexionsmodell können wir somit auf diesem Hintergrund um eine wichtige Detailfrage vertiefen: Die nach der symbolischen Vor-strukturierung der im de-zentrierten Modus einfließenden Daten. Die beschriebenen drei Formate: univariat, geometrisch und melodisch bilden einen symboltheoretisch bedeutsamen Dreischritt. Dieser übersetzt sukzessive abstrakte Zahlenwerte in eine leichter verständliche geometrische Form und letztlich in Musik, die damit den Zeitverlauf der Herzschläge förmlich wiederbeleben. Susanne K. Langer sieht Musik als »The most highly developed type of such purely connotational semantic« und führt weiter aus: »Musical understanding is not hampered by the possession of an active intellect, nor even by that love of pure reason which is known as rationalism or intellectualism; and vice versa, common-sense and scientific acumen need not defend themselves against any ›emotionalism‹ that is supposed to be inherent in a respect for music.« (Langer 1948, S. 82) Dieser erkenntnistheoretischen Linie, an der auch der Verstehende Ansatz anknüpft (Seewald 1992), lohnt sich an anderer Stelle erneut nachzugehen. Die besondere Stellung von Musik als symboltheoretisches Übergangsformat zwischen Bewegung und Sprache, macht sie für die oben beschriebenen Reflexionsprozesse hoch interessant. Denn die aus den individuellen Herzdaten resultierende Musik spiegelt einen quantitativen Aspekt der Einzigartigkeit des Individuums wider, der in den vorherigen statistischen Verarbeitungen verlorengegangen war, was diese Herangehensweise für einen Einsatz in der Motologie interessant macht. Damit wäre ein erster Schritt getan, quantitative Daten nach ihrer »leiblichen« Qualität abzusuchen. Fazit Die Motologie und Psychomotorik sind an der Schwelle eines neuen Entwicklungsschritts angekommen, bei dem die erneute Hinwendung zu Diagnostik eine entscheidende Rolle zu spielen scheint. Dass dabei nicht einfach Methoden anderer Fachdisziplinen kopiert, sondern auf das facheigene Anliegen, die Einzigartigkeit der Individuen nicht aus den Augen zu verlieren, hin adaptiert werden können, konnte am Beispiel der Herzfrequenzvariabilität im Fach »Bewegung« der künstlerischen Hochschulausbildung für SängerInnen gezeigt werden. Das Entscheidende in den hier berichteten Bemühungen liegt Abbildung 5 b): Die 32 IBIs in grafischer Darstellung über die Zeit. Abbildung 5 c): Die 32 IBIs in Notenschrift »übersetzt«. Der Ton erklingt umso tiefer, je länger das IBI ist. Die Tonhöhe ist auch in Abb. 5 b) ersichtlich. [ 141 ] Göhle • Quantitative Gesundheitsparameter 3 | 2022 [ 141 ] Göhle, Schuller, Ferraro • Quantitative Gesundheitsparameter 3 | 2022 darin, dass objektivierende Verfahren »übersetzt« werden in symbolische Formate, die das prozesshafte und einzigartige von körperlichen Zuständen wieder für uns Menschen erfahrbar werden lassen. Damit wäre ein erster Schritt getan, quantitative Daten auf neue Weise in die Reflexionskultur der Psychomotorik integrieren zu können. Dieser Beitrag durchlief das Peer-Review. Literatur Ballora, M.; Pennycook., B.; Ivanov, P. Ch. (2004): Heart Rate Sonification: A New Approach to Medical Diagnosis. 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Motologie und Psychomotorik- - Marburger Beiträge zu einer responsiven Fachentwicklung, Forschung und Theoriebildung (Band 1). Wissenschaftlicher Verlag Psychomotorik und Motologie, Marburg Clark, A. und Chalmers, D. (1998): The Extended Mind. Vol. 58, Nr. 1, pp. 7-19 Oxford University Press Hernando, D., Roca, S., Sancho, J., Alesanco, Á., & Bailón, R. (2018): Validation of the Apple Watch for Heart Rate Variability Measurements during Relax and Mental Stress in Healthy Subjects. Sensors, 18 (8), 2619, https: / / doi.org/ 10.3390/ s18082619 Geuter, U. (2018): Praxis Körperpsychotherapie. 10 Prinzipien der Arbeit im therapeutischen Prozess. Springer, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 662-56596-4 Göhle, U. H. (2021): Körper und Gesundheit aus einer motologischen Perspektive. In: Wendler, M., Schache, S., Fischer, K. (Hrsg.): Multidisziplinäre Perspektiven auf Körper und Gesundheit. Springer, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658- 32999-0_6 Göhle, U. H. 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Ulf Henrik Göhle studierte in London, Frankfurt am Main und Marburg die Fächer Musik, Sportwissenschaft, Instrumental und Gesangspädagogik und Motologie und lehrt das Fach »Bewegung« in der Abteilung Gesang und Musiktheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Dr. sc. nat. Jan C. Schuller studierte in Tübingen und Bremen Biologie und Statistik an der ETH Zürich, Promotion über Schlafforschung an der ETHZ, war tätig in internationalen klinischen Studien der Krebsforschung und Medikamentenentwicklung, ist Gründer von »True Signal« in Brüssel und als Gitarrist, Komponist und Maler tätig. Dipl.-Psych. Stefania Ferraro Psychologische Psychotherapeutin und Klinische Supervisorin (BDP). Studium an der Technischen Universität Berlin, Approbation im Vertiefungsverfahren Tiefenpsychologie. Therapeutische Arbeit mit-traumatisierten Mädchen und Frauen in eigener Praxis in Berlin- Schöneberg. Anschrift Prof. Dr. Henrik Göhle Prodekan FB3/ Professur für Bewegung Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main Eschersheimer Landstraße 29-39 60322 Frankfurt am Main Mail: henrik.goehle@hfmdk-frankfurt.de Copyright: Rolana Kunske