motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2022.art34d
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2022
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Fachbeiträge aus Theorie und Praxis: Macht - (k)ein Thema in psychomotorischen Angeboten?
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2022
Peter Keßel
Im vorliegenden Beitrag wird das Thema Macht aus soziologischer Perspektive betrachtet und mit geläufigen psychomotorischen Praxissituationen in Verbindung gebracht. Im Fokus stehen vor allem das Machtgefälle zwischen psychomotorischen Fachkräften und Kindern und damit assoziierte Dynamiken. So ist Macht nicht nur ein Entwicklungsthema für Kinder, sondern ebenso ein bedeutsames Thema der Begleitung psychomotorischer Angebote. Ein Bewusstsein dafür und die reflektierte Auseinandersetzung damit sollen helfen, die Entwicklung der Kinder professionell und bestmöglich unterstützend zu begleiten.
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Zusammenfassung / Abstract Im vorliegenden Beitrag wird das Thema Macht aus soziologischer Perspektive betrachtet und mit geläufigen psychomotorischen Praxissituationen in Verbindung gebracht. Im Fokus stehen vor allem das Machtgefälle zwischen psychomotorischen Fachkräften und Kindern und damit assoziierte Dynamiken. So ist Macht nicht nur ein Entwicklungsthema für Kinder, sondern ebenso ein bedeutsames Thema der Begleitung psychomotorischer Angebote. Ein Bewusstsein dafür und die reflektierte Auseinandersetzung damit sollen helfen, die Entwicklung der Kinder professionell und bestmöglich unterstützend zu begleiten. Schlüsselbegriffe: Macht, Kontrolle, Begleitung, Beziehung, Psychomotorik, Reflexion, Sitzkreis Power and control-- a subject in psychomotor activities or not? An invitation on a debate with a few reflected subject in psychomotor activities with children In the present contribution the subject power is considered from a sociological perspective. It is getting connected with common psychomotor situations in practice. Mainly the power imbalance between professional adult accompaniment and children and the related dynamics are focused. Power is not only a developmental theme for children. It is also a meaningful subject for accompaniment in psychomotor activities. The awareness and the reflective consideration of this should help to accompany the development of children professionally and promoting best possible. Keywords: power, control, accompaniment, relationship, psychomotricity, reflection, circular seating [ 187 ] motorik, 45. Jg., 187-193, DOI 10.2378 / mot2022.art34d © Ernst Reinhardt Verlag 4 | 2022 [ FACHBEITRAG ] Macht-- (k)ein Thema in psychomotorischen Angeboten? Eine Einladung zur Auseinandersetzung mit einem wenig reflektierten Thema in psychomotorischen Angeboten mit Kindern Peter Keßel zu Interviewanalysen von Sutterlüty (2003) aufgezeigt, dass Gewalt eine Reaktion in Interaktionssituationen sein kann, wenn diese im Kon- Macht ist ein Thema, das in Psychomotorik und Motologie vor allem im Zusammenhang mit dem Verstehenden Ansatz und seinen Bezügen zu Entwicklungsthemen einen festen Platz hat. Macht seitens psychomotorischer Fachkräfte in der Begleitung von Kindern in den Blick zu nehmen, mag zunächst irritieren. Wird da nicht nur mit der Macht »gespielt«? Psychomotorische Angebote sind zumeist von wertschätzenden Beziehungen und einem dialogischen Geschehen geprägt (Keßel 2014, 24). Wo sollte dann Macht seitens der Begleitperson zum Tragen kommen? Dafür ist ein Einblick in einzelne Aspekte des soziologischen Machtdiskurses relevant. Dieser soll dem Verständnis dienen, inwieweit auch psychomotorische Begleitung eines bewussten und reflektierten Umgangs mit Macht bedarf, um entwicklungsförderliche Beziehungen im psychomotorischen Kontext zu gestalten. Weiterführend werden konkrete Bezüge zu Praxissituationen im Rahmen psychomotorischer Entwicklungsförderung dargestellt und mit Hilfe der theoretischen Bezüge analysiert. Was ist Macht? Macht (und Ohnmacht) wird beispielsweise in der psychomotorischen Gewaltprävention (Jessel 2008) thematisiert. Dabei wird mit Bezug [ 188 ] 4 | 2022 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis text von Macht und Ohnmacht wahrgenommen werden (Jessel 2008, 180). Diese häufig negative Konnotation von Macht zeigt sich auch in Max Webers klassischer Definition von Macht, nach der diese jede Chance bedeute, »innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen« (Weber 1976, 71). Die negative Konnotation des Begriffs erklärt Elias (1971, 76) unter anderem mit der gesellschaftshistorisch betrachtet meist äußerst ungleichen Verteilung von Machtgewichten. Machtbalancen, die die Verteilung von Macht beschreiben, bilden jedoch »ein integrales Element aller menschlichen Beziehungen« (Elias 1971, 76f ) und sind »somit ein ubiquitäres Phänomen« (Wolf 2016, 174). Folglich ist auch in pädagogischen und therapeutischen Beziehungen immer von einem Machtdifferential, also einer Ungleichverteilung von Macht, auszugehen, vor allem zwischen Kindern und Erwachsenen. Macht entsteht durch jedwede Form von Abhängigkeit. Mit Abhängigkeit ist kein Ausgeliefertsein gemeint, sondern sie beschreibt zunächst einmal nur, »dass dem einen Menschen nicht vollkommen gleichgültig ist, was der andere denkt, tut oder fühlt. Besteht gegenseitig eine vollkommene Gleichgültigkeit, spielt Macht keine Rolle, dann würde man aber auch sinnvollerweise nicht von einer Beziehung sprechen« (Wolf 2016, 175). Für die professionelle Beziehung deutet sich darin bereits an, dass Macht nichts ist, was die eine oder die andere Person hat. Es darf angenommen werden, dass psychomotorische Fachkräfte keine Gleichgültigkeit gegenüber den begleiteten Kindern empfinden und somit von Interdependenzen auszugehen ist. Abb.1: Übliches Machtdifferential zwischen Erwachsenem und Kind (nach Wolf 2016, 177) Um das exemplarische Machtdifferential in Abbildung-1 (bei der mit Pfeilen die Abhängigkeitsverhältnisse dargestellt werden- - das Kind hat eine deutlich höhere Abhängigkeit) inhaltlich zu füllen und aufzuzeigen, worin auch Machtanteile beim Kind liegen, ist ein Blick auf Machtquellen hilfreich. Die Quellen von Macht ergeben sich, wie oben beschrieben, aus Abhängigkeiten. Und »jedes Bedürfnis, auf dessen Befriedigung ein anderer Mensch Einfluss hat, [kann] eine Abhängigkeit hervorbringen« (Wolf 2016, 186). In Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen sind meistens der Überhang an Orientierungsmitteln (Wissen), die Entscheidung über (emotionale) Zuwendung, die Verteilung von Anerkennung, die Möglichkeit der Sinnkonstruktion und die körperliche Überlegenheit auf Seiten der Erwachsenen als Machtquellen (Wolf 2016) sehr bedeutsam. Je nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Setting und Personenkonstellation können auch andere Machtquellen auf der Mikroebene, also zwischen zwei Menschen wirksam werden. Worauf beruht nun aber der Machtanteil des Kindes in Abb. 1-- also die Abhängigkeit des Erwachsenen vom Kind? Im Normalfall sucht das Kind die Zuwendung der erwachsenen Bezugsperson- - diese wiederum steht unter Umständen aber ebenso in einer emotionalen Abhängigkeit, indem sie ihre Zuwendung auch erwidert bekommen möchte. Ein Kind, das sich einem Angebot entzieht oder massiv widersetzt, kann die Sinnkonstruktion des Erwachsenen in Frage stellen und damit herausfordern. Die Bezugsperson ist möglicherweise von der Attraktivität ihres Angebots überzeugt und ebenso von dem Interesse des Kindes daran. Diese Annahme kann durch das Verhalten des Kindes jedoch stark in Frage gestellt werden. So gesehen balanciert sich die Machtverteilung für sämtliche Bedürfnisse innerhalb der Beziehung und des Settings immer wieder interdependent und situativ aus. Im Rahmen von Entwicklung verschiebt sich diese Machtverteilung über die Zeit, womit deutlich wird, dass Machtverteilung nicht statisch ist (Wolf 2016, 178). Sie kann sich aber auch sehr plötzlich ändern, wenn beispielsweise ein Kind ein für das Spiel zentral notwendiges Material bei sich behält und nicht bereit ist, abzugeben. Damit hat das Kind unter Erwachsener Kind Maß der Abhängigkeit vom Gegenüber in Länge des Pfeils dargestellt. [ 189 ] Keßel • Macht-- (k)ein Thema in psychomotorischen Angeboten? 4 | 2022 [ 189 ] Keßel • Macht-- (k)ein Thema in psychomotorischen Angeboten? 4 | 2022 terperspektive bestimmte Potential eines Systems, das Verhalten oder Denken eines anderen Systems dem eigenen Willen entsprechend zu determinieren« (Kraus 2021, 103). Diese instruktive Macht kann immer nur wirksam sein, wenn die zu instruierende Person diese Macht akzeptiert, bestätigt und sich dieser unterwirft. Ein einfaches Beispiel aus der psychomotorischen Praxis mag dies veranschaulichen: Wenn ein Kind von einer Fachkraft gebeten wird, die Materialien am Ende der Stunde mit aufzuräumen, kann sich das Kind der Aufforderung verweigern. Falls das Kind die Sinnkonstruktion der Fachkraft nicht teilt (bzw. sich dieser nicht unterwirft), kann das Kind die erwachsene Person in eine Ohnmachtssituation bringen. Selbst bei Androhung des Ausschlusses vom Angebot oder von körperlicher Gewalt (was beides hoffentlich niemals einer professionellen psychomotorischen Fachkraft in den Sinn kommen würde) könnte das Kind sich verweigern und die angedrohten Sanktionen in Kauf nehmen, ohne letztendlich der Instruktion nachzukommen. Etwas anders gelagert ist das bei destruktiver Macht. »Als destruktive Macht gilt das aus einer Beobachterperspektive bestimmte Potential eines Systems, die Möglichkeiten eines anderen Systems dem eigenen Willen entsprechend zu reduzieren« (Kraus 2021, 103). Damit sind Machtmittel gemeint, die unabhängig von der Akzeptanz des Gegenübers sind. Zur Veranschaulichung sei auf dieselbe Situation zurückgegriffen. Die psychomotorische Fachkraft könnte darauf hinweisen, dass beim nächsten Mal dem Kind nur die Materialien zur Verfügung stehen würden, die es nun auch aufräumt. Das Kind kann hier ebenso nicht zum Aufräumen instruiert, jedoch können die Möglichkeiten des Kindes in der Zukunft (nächstes Mal) reduziert werden. Das kann vom Kind nicht verhindert werden, da die Macht über die Verfügungstellung des Materials in der Regel nicht beim Umständen die Macht über die Weiterführung eines Spiels allein bei sich. Macht und Konstruktivismus Geradezu konstituierend ist bei diesen Überlegungen der »Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Abhängigkeit und der Wirkung als Machtquelle« (Wolf 2016, 190): Wird eine Abhängigkeit von keinem der Beteiligten wahrgenommen, wird diese auch nicht als Machtquelle wirksam werden. Will jemand aber mächtig in einer Beziehung sein, wird häufig die Aufmerksamkeit der abhängigeren Person auf diese Abhängigkeit gelenkt. Eine Machtquelle kann darüber hinaus sehr wohl wirksam sein, obwohl diese Machtquelle der mächtigeren Person überhaupt nicht bewusst ist, ihr vom Gegenüber diese aber zugeschrieben wird. Entsprechend kann die körperliche Überlegenheit einer erwachsenen Bezugsperson für diese selbst absolut bedeutungslos sein, weil die eigene Haltung den Einsatz dieser Überlegenheit gegenüber Kindern vollkommen abwegig erscheinen lässt- - seitens der Kinder die körperliche Überlegenheit der Bezugsperson aber zugeschrieben wird und vielleicht aufgrund von Erfahrungen mit anderen Erwachsenen der Einsatz dieser Überlegenheit durchaus realistisch erscheint. Diese Abhängigkeit kann sogar machtrelevant sein bzw. bleiben, wenn sie objektiv gar nicht (mehr) besteht, aber von ihrer Gegenwärtigkeit ausgegangen wird (ebd.)- - die Kinder mit zunehmendem Alter irgendwann faktisch körperlich überlegen sind, dies aber noch niemandem bewusst ist. Es geht demnach immer auch um Machtkonstruktionen. In diesem Zusammenhang soll ein letzter Aspekt die allgemeineren Ausführungen zum Thema Macht abrunden. Eine systemischkonstruktivistische Perspektive zeigt in Machtmodellen auf, dass Macht ohne die Bereitschaft des Gegenübers zur Unterwerfung nicht möglich ist, »Macht und Unterwerfung sind komplementär« (Portele 1989, 193). Eine Weiterführung dieser Überlegung führt zur Differenzierung zwischen instruktiver und destruktiver Macht. »Als instruktive Macht gilt das aus einer Beobach- Macht ist ohne die Bereitschaft des Gegenübers zur Unterwerfung nicht möglich. [ 190 ] 4 | 2022 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Kind liegen dürfte. Beim Kind bleibt dennoch die Möglichkeit, seinerseits das Aufräumen zu verweigern und z. B. das weitere Interesse an der Teilnahme am Angebot zu negieren etc., wodurch schnell ein Machtkampf entstehen kann. Mit dieser Perspektive sei aufgezeigt, dass das Ausspielen von destruktiver Macht ebenfalls keine uneingeschränkt empfehlenswerte Maßnahme wäre, da auch hier ein Machtdifferential im Mittelpunkt steht. Machtverhältnisse in psychomotorischen Angeboten mit Kindern Beziehung und Dialog gelten als wesentliches Merkmal der psychomotorischen Arbeit, wobei die DialogpartnerInnen gleichberechtigt sind und sich gegenseitig bereichern (Kuhlenkamp 2017, 124f ). In dieser Vorstellung von Psychomotorik wird ein implizites Streben nach Reduzierung des Machtüberhangs ersichtlich, das kennzeichnend für pädagogische (und auch therapeutische) Beziehungen sein sollte (Wolf 2016, 211). Bereits in den Anfängen der Psychomotorik ist dieser Ansatz erkennbar, wenn man Kiphards Clownsrolle genauer betrachtet. Der Clown reduziert bzw. hebt »das Leistungsgefälle zwischen ihm [dem Kind mit Behinderung] und dem mächtigen Erwachsenen« (Kiphard 1989, 220) auf. Das mag ein Abgleich mit Machtdimensionen weiter verdeutlichen, die Hansen et al. (2011, 28f ) für die pädagogische Arbeit im Rahmen von Partizipationsprozessen darlegen: ■ Handlungs- und Gestaltungsmacht ■ Verfügungsmacht ■ Definitions- oder Deutungsmacht ■ Mobilisierungsmacht Die Handlungs- und Gestaltungsmacht zeigt sich in der Konstellation der Gruppenzusammensetzung, der Gestaltung der Umgebung, der Festlegung von Abläufen und Lenkung von Gruppenprozessen. Die Verfügungsmacht meint einen exklusiven Zugriff auf Ressourcen (Materialien) und die Möglichkeit, den Zugang dazu für die Kinder zu strukturieren. Beides sind Machtformen, die in psychomotorischen Angeboten eher geringgehalten werden, da die Kinder die Gelegenheit bekommen, ihre Spielumgebung mitzugestalten. Im dialogischen Miteinander sind die Kinder durchgehend in Entscheidungsprozesse mit eingebunden, dennoch bleibt auch die Aufgabe der Strukturierung im gewissen Maße bei der psychomotorischen Fachkraft, z. B. im Sinne einer vorbereiteten Umgebung (Keßel 2014, 26). Die Definitions- und Deutungsmacht, die sich in vorgegebenen Meinungsbildern zeigt (beispielsweise in binären Entscheidungen wie richtig oder falsch), wird in psychomotorischen Angeboten im besonderen Maße vermieden (z. B. Zimmer 2019, 144). Wenn ein Kind beispielsweise zum ersten Mal von einer höheren Plattform springt als zuvor, liegt es beim Kind, ob das eine gute Idee war oder nicht. Höher muss in dem Fall nicht zwingend besser sein, man kann sich dabei weh tun oder in Gefahr bringen- - es kann aber auch als Überwinden und Sich-Trauen ein positiver Entwicklungsschritt sein. Die Mobilisierungsmacht gegenüber Kindern zeigt sich, wenn jemand sie leicht dazu bewegen kann, seinen Vorstellungen und Ideen zu folgen (Hansen et al. 2011, 29). Diese Machtdimension steht den Vorstellungen psychomotorischer Arbeit im besonderen Maße entgegen. So sollen die Kinder rekurrierend auf das humanistische Menschenbild, das für die meisten psychomotorischen Angebote die Grundlage darstellt, nicht einem vorgegebenen Weg folgen, sondern von anderen Menschen begleitet ihren eigenen Weg gehen (Gutberlet 2005, 273) wie Abb. 2 verdeutlicht. Dieser Grundgedanke findet sich in den meisten Ansätzen der Psychomotorik wieder. Im Kindzentrierten Ansatz der Psychomotorik (Volkamer / Zimmer 1986) ist die Non-Direktivität ein zentraler Aspekt. Direkt auf Macht Bezug genommen wird in der systemischen Sichtweise, wenn von einer »Anerkennung der partiellen Ohnmacht« (Hilbers 2000, 30) geschrieben wird, da eine direktive Steuerung von Systemen nicht möglich ist. Im Verstehenden Ansatz geht es darum, im Dialog, im Wechselspiel von Führen und Folgen, einen gemeinsamen Weg zu finden (Seewald 2000, 530f ): »Es gibt hier keine vorab feststehenden Pläne und keine selbst erstellten Ziele« (Seewald 2007, 115). Die Ziele sollen sich erst im Prozess entwickeln-- womit aber Abb. 2: Macht und Kontrolle verhindern den eigenen Weg (Abbildung: Natascha Welz / Comic&Illustration) [ 191 ] Keßel • Macht-- (k)ein Thema in psychomotorischen Angeboten? 4 | 2022 [ 191 ] Keßel • Macht-- (k)ein Thema in psychomotorischen Angeboten? 4 | 2022 genheit bekommen, ihre Spielumgebung mitzugestalten. Im dialogischen Miteinander sind die Kinder durchgehend in Entscheidungsprozesse mit eingebunden, dennoch bleibt auch die Aufgabe der Strukturierung im gewissen Maße bei der psychomotorischen Fachkraft, z. B. im Sinne einer vorbereiteten Umgebung (Keßel 2014, 26). Die Definitions- und Deutungsmacht, die sich in vorgegebenen Meinungsbildern zeigt (beispielsweise in binären Entscheidungen wie richtig oder falsch), wird in psychomotorischen Angeboten im besonderen Maße vermieden (z. B. Zimmer 2019, 144). Wenn ein Kind beispielsweise zum ersten Mal von einer höheren Plattform springt als zuvor, liegt es beim Kind, ob das eine gute Idee war oder nicht. Höher muss in dem Fall nicht zwingend besser sein, man kann sich dabei weh tun oder in Gefahr bringen- - es kann aber auch als Überwinden und Sich-Trauen ein positiver Entwicklungsschritt sein. Die Mobilisierungsmacht gegenüber Kindern zeigt sich, wenn jemand sie leicht dazu bewegen kann, seinen Vorstellungen und Ideen zu folgen (Hansen et al. 2011, 29). Diese Machtdimension steht den Vorstellungen psychomotorischer Arbeit im besonderen Maße entgegen. So sollen die Kinder rekurrierend auf das humanistische Menschenbild, das für die meisten psychomotorischen Angebote die Grundlage darstellt, nicht einem vorgegebenen Weg folgen, sondern von anderen Menschen begleitet ihren eigenen Weg gehen (Gutberlet 2005, 273) wie Abb. 2 verdeutlicht. Dieser Grundgedanke findet sich in den meisten Ansätzen der Psychomotorik wieder. Im Kindzentrierten Ansatz der Psychomotorik (Volkamer / Zimmer 1986) ist die Non-Direktivität ein zentraler Aspekt. Direkt auf Macht Bezug genommen wird in der systemischen Sichtweise, wenn von einer »Anerkennung der partiellen Ohnmacht« (Hilbers 2000, 30) geschrieben wird, da eine direktive Steuerung von Systemen nicht möglich ist. Im Verstehenden Ansatz geht es darum, im Dialog, im Wechselspiel von Führen und Folgen, einen gemeinsamen Weg zu finden (Seewald 2000, 530f ): »Es gibt hier keine vorab feststehenden Pläne und keine selbst erstellten Ziele« (Seewald 2007, 115). Die Ziele sollen sich erst im Prozess entwickeln-- womit aber Abb. 2: Macht und Kontrolle verhindern den eigenen Weg (Abbildung: Natascha Welz / Comic&Illustration) auch das Aufgeben einer direkten Kontrolle verbunden ist (ebd.), was in der professionellen Identität und dem eigenen Rollenverständnis verunsichern kann. Mögliche blinde Flecken am Beispiel des Sitzkreises In der Psychomotorik sind durchaus Angebotsstrukturen etabliert, die es sich aus der Perspektive von Macht und der damit verbundenen Kontrolle zu hinterfragen lohnt. So ist auch in psychomotorischen Angeboten ein Sitzkreis zu Beginn als Anfangskreis oder zum Abschluss für eine Reflexionsrunde durchaus üblich (z. B. Zimmer 2019, 158). Solche Rituale können Vertrauen, Sicherheit und Orientierung geben. Ihnen wird darüber hinaus ein gemeinschaftskonstituierender Charakter zugeschrieben (Zirfas / Wulf 2001, 204). Kreisformationen können die freie Wahl ermöglichen, aktiv teilzunehmen oder zuhörend in der Gruppe dabei zu sein. Sie haben aber auch eine Schattenseite: »Der Kreis ermöglicht, dass alle sich ansehen können, was gleichzeitig auch mit hoher Kontrolle verbunden ist, da man sich nicht zurückziehen kann« (Hemmerling 2007, 161f ). Der gemeinsame, nach außen geschlossene Schutzkreis beinhaltet somit immer auch einen Vorführraum nach innen, der mit der Möglichkeit des Ertappt-Werdens und eines Gesichtsverlusts verbunden ist (Magyar-Haas / Kuhn 2011, 27). Individualisierende Hervorhebungen im Kreis, beispielsweise durch namentliche Ansprache, können wertschätzend sein, aber Handlungsaufforderungen oder latente Ermahnungen weisen auf eine damit einhergehende potenzielle Machtsituation hin. Da der Dialog in psychomotorischen Angeboten weit über das Verbale hinausgeht (z. B. Eckert 2004), sind die anderen Kommunikationskanäle sehr empathisch zu reflektieren. Zu direkter Blickkontakt kann ängstliche Kinder einschüchtern oder auch den Abbruch von aufkeimenden Kontakten zur Folge haben (Hammer 2001, 108). Ein Blick, dem in Kreissituationen nicht entgangen werden kann, wird von Kindern möglicherweise als Eindringen in den persönlichen Schutzraum wahrgenommen, der dann im Kreis eben nicht mehr gegeben ist. Die Möglichkeit, über den Blick Macht und Kontrolle auszuüben (ebd.), ist im Kreis im besonderen Maße gegeben. Kinder, die diese Erfahrung bereits gemacht haben, entziehen sich dieser Situation unter Umständen bewusst. In dem Fall wird deutlich, dass eine psychomotorische Fachkraft in der Begleitung dann keine instruktive Macht hat und möglicherweise destruktive Machtformen sucht, die aber schon der Einstieg in ein von allen Seiten unerwünschten Machtkampf wären. Reflektierter Umgang mit Macht Ein Machtgefälle zwischen der psychomotorischen Fachkraft und den Kindern ist implizit an vielen Stellen in Psychomotorik und Motologie thematisiert, wenn beispielsweise von der »Umkehrung üblicher Einfluss- und Machtbeziehungen« (Zimmer 2019, 83) im Spiel geschrieben wird. Hölter (2002, 80) zeigt auf, dass bereits in den Anfängen der Psychomotorik bei Kiphard das Spiel mit der Umkehrung der Machtverhältnisse ein Thema war. Im Verstehenden Ansatz gibt es mit Bezug zu Erikson (1965) intensive Auseinandersetzungen mit dem Thema Macht-- [ 192 ] 4 | 2022 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Ohnmacht, beispielsweise als mörderisches Monsterspiel (Hammer 2004, 183). Um Kindern die Bespielung dieser Themen zu ermöglichen, muss die psychomotorische Fachkraft damit umgehen, eine Kontrolle erster Ordnung zu verlieren: nur die Kinder können wissen (oder ein Gespür dafür haben), welche Themen sie aus sich heraus bespielen möchten. Seewald (2022) schreibt, dass man aber »eine Kontrolle zweiter Ordnung behalten [kann], die nicht starr ist, sondern mit dem Prozess mitgehen kann« (Seewald 2022, 55). Mit dieser gezielten Kontrollabgabe (und damit auch Machtabgabe) umgehen zu können, erfordert Zeit und Erfahrung- - aber mit der Zeit kann sich ein Vertrauen entwickeln, »im Prozess mit schwimmen zu können« (ebd.). Im Spiel mit Kindern gibt es viele Situationen, in denen die Kinder das Machtgefälle aufzuheben versuchen. Mal wird im Spiel eine erwachsene Person in ein Gefängnis gesperrt, mal gefesselt und manchmal auch vergiftet. Dafür ist aber die Abgabe der Kontrolle (bzw. Macht) erster Ordnung unabdingbar. Ein reflektierter Umgang mit diesen Situationen eröffnet den Kindern einen weiten Erfahrungshorizont, den sie sonst nicht oft geboten bekommen. Denn im »Zugestehen« unerlaubte, »unerhörte« Dinge spielerisch umzusetzen, steckt für Kinder auch die Chance, die andere Seite der (All-)Macht leiblich zu spüren: die Verantwortung, die damit verbunden ist. Die Notwendigkeit des Machtüberhangs In diesem Beitrag wurde zunächst verdeutlicht, dass in pädagogischen und therapeutischen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern immer von Machtungleichheiten auszugehen ist. Ebenso wurde aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive aufgezeigt, wie dynamisch diese Machtbalancen sein können und wie sich Machtkämpfe entwickeln können. In psychomotorischen Angeboten bekommen Kinder die Gelegenheit, sich spielerisch mit Entwicklungsthemen um Macht auseinanderzusetzen und Machtverhältnisse umzukehren. Dazu ist die Aufgabe einer Kontrolle (und damit Macht) erster Ordnung seitens der psychomotorischen Fachkraft notwendig. Es geht dabei aber nie darum, Machtüberhänge komplett abzubauen. Der Machtüberhang des Erwachsenen ist notwendig, um den Kindern in der Beziehung »hinreichende Stabilität und Berechenbarkeit der Lebensbedingungen« (Wolf 2016, 205) zu schaffen. Denn die beschriebenen Situationen, in denen mit Macht gespielt wird, sind mit emotionalen Zuständen verbunden, die auch ins Konflikthafte und Bedrohliche gehen könnten, wenn die begleitende Person dem Kind nicht die emotionale Stabilität dafür als Anker anbieten kann (ebd.). Dies wird auch aus der verstehenden Perspektive in Psychomotorik und Motologie mit Bezügen zu psychoanalytischen Arbeiten betont (z. B. Berg 2004, 107f ). Das bestehende und notwendige Machtdifferential erfordert von der psychomotorischen Fachkraft ein Höchstmaß an Reflexionsfähigkeit und ist durch eine nachweisbare Orientierung an den Interessen und Entwicklungschancen der Kinder zu legitimieren (Wolf 2016, 208). Dieser Anspruch bildet sich in psychomotorischen Prinzipien (z. B. Keßel 2014) deutlich ab. Daher wäre für die psychomotorische Praxis insgesamt anzustreben, Macht im Kontext reflexiver Überlegungen explizit in den Blick zu nehmen. Dieser Beitrag durchlief das Peer Review. Literatur Berg, I. (2004): Aggressivität bei Kindern aus psychoanalytischer Sicht. Möglichkeiten sinnverstehender psychomotorischer Intervention. In: Eckert, A. R., Hammer, R. (Hrsg.): Der Mensch im Zentrum. Beiträge zur sinnverstehenden Psychomotorik und Motologie. Aktionskreis Literatur und Medien, Lemgo, 97-119 Eckert, A. R. (2004): Menschen psychomotorisch verstehen und begleiten. In: Eckert, A. R., Hammer, R. (Hrsg.): Der Mensch im Zentrum. Beiträge zur sinnverstehenden Psychomotorik und Motologie. Aktionskreis Literatur und Medien, Lemgo, 59-73 Elias, N. (1971): Was ist Soziologie? 2. Aufl. Juventa, München Erikson, E. H. (1965): Kindheit und Gesellschaft. 2.-Aufl. Klett, Stuttgart Gutberlet, M. (2005): Empathie, Wertschätzung und Kongruenz im Personzentrierten Ansatz: Mehr und etwas anderes als in den theorie-/ technikzentrierten Ansätzen. Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung (4), 270-276 [ 193 ] Keßel • Macht-- (k)ein Thema in psychomotorischen Angeboten? 4 | 2022 [ 193 ] Keßel • Macht-- (k)ein Thema in psychomotorischen Angeboten? 4 | 2022 Hammer, R. (2004): Der Verstehende Ansatz in der Psychomotorik. In: Köckenberger, H., Hammer, R. (Hrsg.): Psychomotorik. Ansätze und Arbeitsfelder. modernes lernen, Dortmund, 164-186 Hammer, R. (2001): Bewegung allein genügt nicht. Psychomotorik als grundlegendes Prinzip der Alltagsgestaltung. modernes lernen, Dortmund Hansen, R., Knauer, R., Sturzenhecker, B. 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Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 4, 191—208, https: / / doi.org/ 10.1007/ s11618-001-0023-1 Der Autor Peter Keßel Dipl.-Motologe, Referent für Transfer und Vernetzung am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung e. V. (nifbe), 2.-Vorsitzender der Deutschen Akademie-- Aktionskreis Psychomotorik e. V. (dakp) Anschrift Peter Keßel Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung e. V. Jahnstr. 79 D-49080 Osnabrück peter.kessel@nifbe.de
