Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Auf den Punkt gebracht: Das aktuelle Stichwort: Selbstbestimmung
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Peter Keßel
Selbstbestimmung erscheint im psychomotorisch-motologischen Diskurs ein vertrautes Thema zu sein.
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[ 90 ] 2 | 2023 motorik, 46. Jg., 90-92, DOI 10.2378 / mot2023.art16d © Ernst Reinhardt Verlag [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Das aktuelle Stichwort: Selbstbestimmung Peter Keßel Selbstbestimmung erscheint im psychomotorisch-motologischen Diskurs ein vertrautes Thema zu sein. Dabei kann zwischen einem motivationspsychologischen und einem entwicklungspsychologischen Fokus unterschieden werden. Aus der Arbeit mit Kindern mit geistiger Behinderung heraus formuliert Irmischer (1981), dass sich die SchülerInnen eher aktiv mit den Aufgaben und Angeboten beschäftigen, »[…] wenn sie bei der Auswahl selbstbestimmend beteiligt sind« (Irmischer 1981, 19). Wenn die SchülerInnen sich direkt von den Aufgaben angesprochen fühlen, wären sie am ehesten motiviert (ebd.). Die motivationspsychologische Auseinandersetzung mit Selbstbestimmung ist mit der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993) im pädagogisch-therapeutischen Feld prominent geworden. Sie machen darin deutlich, dass extrinsische und intrinsische Motivation keine Gegensätze darstellen. So gibt es auch Formen extrinsischer Motivation, die einen hohen Grad von Selbstbestimmung im Handeln ermöglichen. Dafür ist jedoch eine Identifikation mit den Zielen, Normen und Handlungsstrategien in der Situation Voraussetzung. Während intrinsisch motivierte Handlungen als autotelisch bezeichnet werden, sie also ihr Ziel in der Tätigkeit selbst haben, bleibt extrinsisch motivierten Handlungen trotz einer möglichen Freiwilligkeit eine instrumentelle Funktion anhaften (ebd.). Der hohe Wert intrinsisch motivierter Tätigkeiten im Rahmen psychomotorischer Angebote kann auch als zentrale Stärke von psychomotorischer Entwicklungsförderung gesehen werden (Keßel 2019). Unter dem Fachbegriff »Autonomie« spielt Selbstbestimmung in der Entwicklungspsychologie eine große Rolle. Autonomie findet sich im humanistischen Menschenbild wieder, auf das in psychomotorischen Veröffentlichungen rekurriert wird. Demnach verweist Autonomie auf ein »[…] stark ausgeprägtes Streben des Organismus […], sich selbst und die Umwelt zu beherrschen und dadurch unabhängig von äußerer Kontrolle zu werden« (Völker 1980, 16). Von diesem Menschenbild wurde unter anderem mit »Erziehung zu Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung in sozialer Integration« (Irmischer 1987, 19) das Richtziel der Motopädagogik abgeleitet. Voraussetzung dafür ist, dass Kinder ernst genommen und mit ihnen gemeinsam Angebote gestaltet werden, was zum Prinzip der Kindorientierung führt (ebd.). Weitgehende Selbstbestimmung ist eines der Hauptmerkmale psychomotorischen Vorgehens. [ 91 ] Keßel • Das aktuelle Stichwort: Selbstbestimmung 2 | 2023 Assistenzhandlungen sollten vermehrt bewusst in den Blick genommen und die Sensibilität dafür erhöht werden. Spätestens mit dem Verstehenden Ansatz in Psychomotorik und Motologie und seiner Bezugnahme auf die entwicklungspsychologische Identitätstheorie von Erikson (1979) ist der Begriff der Autonomie ein zentraler Begriff im Fachdiskurs geworden. Autonomie bildet hier mit dem Gegenpol Scham und Zweifel das Spannungsfeld der psychosozialen Krise im zweiten und dritten Lebensjahr. In offenen Bewegungssituationen können sich im kindlichen Spiel Verhaltensweisen und Aktivitäten zeigen, die die Themen der psychosozialen Krisen (wie z. B. Autonomie versus Scham und Zweifel) darstellen und ein Bespielen dieser Themen (auch im höheren Alter) indizieren (Hammer 2004). Implizites Ziel der Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungsthemen seitens des Kindes ist die Integration von Widersprüchen (Seewald 2007) bzw. ein Ausbalancieren der beiden Gegenpole, um für die weitere Entwicklung und ontogenetisch folgende psychosoziale Krisen eine gute Basis zu haben. Rückblickend formuliert auch Kiphard »weitgehende Selbstbestimmung im Handeln, statt Fremdbestimmung« (2004, 31) als eines der Hauptmerkmale psychomotorischen Vorgehens. In der kindzentrierten psychomotorischen Entwicklungsförderung verschmelzen der motivations- und der entwicklungspsychologische Fokus auf Selbstbestimmung endgültig. In den allgemeinen Prinzipien wie eigene Entscheidung über die Teilnahme, Handlungsimpulse kommen vom Kind, Vermeiden von Bewertung und den Schlüsselbegriffen Selbstkonzept und Identität wird diese Verbindung deutlich (Zimmer 2019). Aktuell rückt der Begriff aus demokratiepädagogischer Sicht wieder in den Vordergrund. In der videografiebasierten Studie BiKA- -- Beteiligung von Kindern im Kita-Alltag (Hildebrandt et al. 2020) steht neben der Beteiligung der Kinder auch ihre Selbstbestimmung im Fokus. In der Studie wird zwischen Mit- und Selbstbestimmung unterschieden. Allerdings ist seitens der Kinder die »[…] Bereitschaft und Kompetenz zur Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme […] unmittelbar an den Grad an Selbstbestimmung und Teilhabe geknüpft, die die Kinder in den Einrichtungen erfahren« (Hildebrandt et al. 2020, 9). Eine Mitbestimmung ist ohne Selbstbestimmung nicht zu erwarten, denn sie müssen für Beteiligungsprozesse zunächst die eigenen Bedürfnisse erkennen und benennen lernen. Da in der Studie Krippenkinder in ihren Einrichtungen beobachtet wurden, ist der Verweis auf das Bedürfnis nach Selbstbestimmung »[…] über ureigenste Angelegenheiten von Anfang an« (Hildebrandt et al. 2020, 10) zentral. Während die beobachteten Kinder zum großen Teil Selbstbestimmung über ihr eigenes Spielsetting haben, zeigen sich in Schlüsselsituationen des Krippenalltags wie Schlafen und Mahlzeiten noch dramatische Defizite in der Berücksichtigung der Selbstbestimmung der Kinder. Wie anfangs beschrieben ist Selbstbestimmung (und auch Mitbestimmung) in Psychomotorik und Motologie ein vertrautes Thema und schlägt sich in verschiedenen Prinzipien nieder, die in der Praxis handlungsleitend sein sollten. Aus der BiKA-Studie hilft vor allem der Hinweis auf sogenannte Assistenzhandlungen, Selbstbestimmung in psychomotorischen Angeboten noch gezielter zu reflektieren. Assistenzhandlungen sind »[…] alle sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen einer Fachkraft, die auf die Unterstützung der Kinder beim Verrichten von Tätigkeiten zielen« (Hildebrandt et al. 2020, 48). Als unangemessen gelten Assistenzhandlungen, »[…] bei denen eine Fachkraft ohne Zustimmung des Kindes etwas tut, was das Kind allein tun will, die Handlung eines Kindes unterbricht oder dem Kind einen Gegenstand aus der Hand nimmt« (ebd.). Auch in psychomotorischen Angeboten dürfte es wertvoll sein, solche Assistenzhandlungen vermehrt bewusst in den Blick zu nehmen und die Sensibilität dafür zu erhöhen, um Kindern (und Menschen) jeden Alters tatsächlich die gewünschte Selbstbestimmung zu ermöglichen und erfahren zu lassen. [ 92 ] 2 | 2023 Auf den Punkt gebracht Literatur Deci, E., Ryan, R. M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Pädagogik 39 (2), 223- 238 Erikson, E. H. (1979): Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Hammer, R. (2004): Der verstehende Ansatz in der Psychomotorik. In: Köckenberger, H., Hammer, R. (Hrsg.): Psychomotorik. Ansätze und Arbeitsfelder. modernes lernen, Dortmund, 164-186 Hildebrandt, F., Walter-Laager, C., Flöter, M., Pergande, B. (2020): Abschlussbericht zur Studie BiKA- -- Beteiligung von Kindern im Kita-Alltag. https: / / www.fruehe-chancen.de/ fileadmin/ PDF/ Fruehe_Chancen/ Bika_Studie_FH_Potsdam/ Bika_ Abschlussbericht-web.pdf, 14.01.2022 Irmischer, T. (1987): Lehrbrief: Grundzüge der Motopädagogik. Aktionskreis Psychomotorik e. V., Lemgo Irmischer, T. (1981): Bewegungserziehung an der Schule für Geistigbehinderte. Wulff & Co., Dortmund Keßel, P. (2019): Intrinsische Motivation als zentrale Stärke der psychomotorischen Entwicklungsförderung. motorik 42 (2), 71-76, http: / / dx.doi. org/ 10.2378/ mot2019.art13d Kiphard, E. J. (2004): Entstehung der Psychomotorik in Deutschland. In: Köckenberger, H., Hammer, R. (Hrsg.): Psychomotorik. Ansätze und Arbeitsfelder. modernes lernen, Dortmund, 27-43 Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. München, Ernst Reinhardt Völker, U. (1980): Grundlagen der Humanistischen Psychologie. In: Völker, U. (Hrsg.): Humanistische Psychologie. Beltz, Weinheim und Basel, 13-37 Zimmer, R. (2019): Handbuch Psychomotorik. Herder, Freiburg Der Autor Peter Keßel Dipl.-Motologe, Referent für Transfer und Vernetzung am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung e. V. (nifbe), 2.-Vorsitzender der dakp Anschrift Peter Keßel nifbe Jahnstr. 79 D-49080 Osnabrück peter.kessel@nifbe.de Hyperaktive Klein- und Vorschulkinder sind eine besondere Herausforderung: Welche Förderung brauchen diese Kinder? Wie können Eltern kompetent beraten werden? Dieses Buch informiert über Symptome, Ursachen und Erklärungsansätze bei ADHS, der „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“. Aus aktuellen Forschungsergebnissen werden praktische Hilfen für Prävention und frühe Förderung abgeleitet. Das Buch enthält viele praxisorientierte Tipps für therapeutische Interventionen, Spielangebote in der Gruppe und für die Elternberatung. Mit zahlreichen Fallbeispielen und witzigen Cartoons. Prävention und frühe Förderung a w 5., aktual. Auflage 2023. 201 Seiten. 18 Abb. 13 Tab. (978-3-497-03188-7) kt
