Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Impulse für die Praxis: Körpererleben im Wasser für Menschen mit Autismus
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2023
Jan Holthaus
Kinder erwerben wesentliche Kompetenzen für ihre Persönlichkeitsentwicklung im Spiel.
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[ 98 ] 2 | 2023 Impulse für die Praxis [ IMPULSE FÜR DIE PRAXIS ] gestaltet werden? Folgende Besonderheiten sind aus Sicht des Autors dabei zu beachten: ■ Anhaltende Beharrlichkeit anstelle von Druckaufbau ■ Geduld und viel Zeit ■ Richtige Einschätzung der Gefahren des Wassers ■ Autistische Menschen lernen vermehrt durch Beobachtung ■ Regelmäßigkeit der Schwimmangebote ■ Wahrnehmung Die möglicherweise Stress auslösenden Rahmenbedingungen im Wasser müssen berücksichtigt werden: Transfer von der Schule zum Schwimmbad, die MitschülerInnen im Bad und das Umziehen und Duschen. Dieser Beitrag beruht auf der langjährigen Praxiserfahrung des Autors in einer Schule für Menschen mit Behinderungen. Wasser ist ein Element, das neue Bewegungs- und Erlebensmöglichkeiten, z. B. durch die Auftriebskraft, bietet. Im Wasser können neue Bewegungserfahrungen gesammelt werden, die an Land oft verwehrt bleiben. Der psychomotorische Weg im Wasser soll dazu einladen, entwicklungsfördernde Erfahrungen zu sammeln. Wasser bietet Menschen mit Autismus die Möglichkeit, ihren Körper und sich selbst kennenzulernen. Diese Förderung des Körpererlebens im Wasser kann in mehreren Teilschritten gestaltet werden: Schritt 1: Der Weg zum Wasser Die Wegstrecke zum Schwimmbad wird zu Fuß zurückgelegt, um den Weg und dessen Besonderheiten kennenzulernen. Schritt 2: Betreten des Schwimmbades Die Räumlichkeiten wie Umkleiden, Duschen, Toiletten, Schwimmbecken und Rutsche werden unter Ausschluss anderer Personen erkundet. Schritt 3: Der Blick durchs Fenster Die gesamte Schulklasse wird zum Schwimmbad begleitet, um eine Schwimmstunde von außen durch das Fenster zu beobachten. Verschiedenste Beweggründe können Menschen dazu motivieren, das Element »Wasser« aufzusuchen. Während einige ihre Bahnen schwimmen, halten sich andere am Beckenrand auf oder springen und tauchen. Andere vertreiben sich die Zeit mit spielerischen Handlungen im und am Wasser. Letztere vollziehen spielerisch im und am Wasser einen psychomotorischen Weg der Gewöhnung und Bewältigung dieses Mediums. Diese Beobachtung war Anregung dazu, sich mit einem autistischen Menschen auf den Weg der Wassergewöhnung zu begeben. Wie können adäquate Spielsituationen im und am Wasser für einen Menschen mit Autismus zur Förderung des Körpererlebens »Kinder erwerben wesentliche Kompetenzen für ihre Persönlichkeitsentwicklung im Spiel. Bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen sind diese Möglichkeiten erheblich beeinträchtigt, ihre Teilhabe am Spiel mit anderen Kindern ist nur erschwert möglich (…). Dennoch gibt es Wege durch gezielte Interventionen diese Kinder an das Spiel heranzuführen und damit Teilhabe zu ermöglichen (…)« (Nass / Hammer 2019, 194). Körpererleben im Wasser für Menschen mit Autismus [ 99 ] Haas • Wissen kompakt: Schmerz-- ein-Aspekt des Körpererlebens 2 | 2023 [ 99 ] Impulse für die Praxis 2 | 2023 Schritt 4: Der Blick vom Beckenrand Die Klasse wird ins Schwimmbad begleitet, um vom Beckenrand aus das Geschehen im Wasser zu beobachten. Schritt 5: Aktiv werden Es wird eine Fördereinheit im Wasser aktiv gestaltet und die Person mit Autismus wird eingeladen, teilzuhaben. Die Einheiten laufen zur Schaffung von Sicherheit ritualisiert ab. Zum Einstieg und Abschluss treffen sich die Teilnehmenden immer an derselben Stelle des Schwimmbades zu Begrüßung, Materialauswahl und Reflexion. Die weitere Stunde verläuft prozessorientiert. Es kann vorkommen, dass trotz verschiedenster Impulse »nur« ein Plantschen der Füße im Wasser am Beckenrand geschieht. Den Abschluss bildet der Rückblick auf die Stunde. Erfolge / Misserfolge, Gelingen und Schwierigkeiten werden thematisiert. In der Gruppe wird nach Lösungsstrategien gesucht, die in der nächsten Stunde wieder aufgegriffen werden. Es werden klassische Materialien der Wassergewöhnung und spezifische Materialien zur Gestaltung des »Stundenthemas« oder zur Förderung von ausgewählten Kompetenzen eingesetzt. Exemplarische Fördereinheit: »Bau eines Hauses« Einleitend wird geklärt, was alles auf einer Baustelle zu finden sein könnte: z. B. Bagger, Kran, LKW, ArbeiterInnen, Ziegelsteine. Geeignete Materialien zum Hausbau in der Schwimmhalle und ein Bauplatz im oder am Wasser werden gesucht. Diese Materialien werden bereitgelegt, u. a. Schwimmflügel, Wasserbauklötze, Heulrohre, Flossen, Seile, Eimer, Poolnudeln, Schaufeln, Gießkannen, Plastikflaschen, Schwungtuch, große Rohre. Die Bausteine müssen zur Baustelle transportiert werden. Lösungsstrategien für den Transport der Bausteine zur Baustelle werden gemeinsam erarbeitet: Einzeltransport, Transportteams mit oder ohne Nutzung eines Transportkorbes. Beim Hausbau werden Körperkoordination in Anpassung an die Gesetzmäßigkeiten des Wassers, Wahrnehmung der Körperkraft und der Körper im Umgang mit Materialien im Wasser gefördert. Das psychomotorische Heranführen ans Wasser und Schwimmen kann und sollte bewusst bei Kindern im Autismus-Spektrum angewandt werden, da gerade durch eine psychomotorische Haltung und Herangehensweise das Element Wasser eine positive Besetzung für sie erfährt. Literatur Nass, R., Hammer, R. (2019): Spieleentwicklung und Spielförderung bei Kindern mit Autismusspektrumstörung. Praxis der Psychomotorik (4), 194-199 DOI 10.2378 / mot2023.art19d Der Autor Jan Holthaus Physiotherapeut, Manual- und Bobaththerapeut; ÜL-Rehabilitationssport (GB), Dozent im Bereich des Elementar-, Primarschwimmens und Psychomotoriker, Lehrqualifikation Psychomotorik; langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und Erwachsenen mit besonderen Bedürfnissen bei der Lebenshilfe Grafschaft Diepholz und dem RBS Vechta. Anschrift Jan Holthaus Häherstraße 3 49377 Vechta janholthaus@gmx.de • Auf den Spuren Jonny Kiphards - zum 100. Geburtstag • Perspektiven der Professionalisierung in der Psychomotorik - bei Kiphard und heute • Nachhaltige Förderung der Psychomotorik: die Stiftung E. J. Kiphard • Pädagogisch-phänomenologische Videografie in der Motologie • Körper - Be-/ Enthinderung - Verkörperung Vorschau auf die nächsten Hefte
