eJournals Motorik 46/3

Motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2023
463

Fachbeiträge aus Theorie und Praxis: Bewegungserfahrungen in Motologie und Psychomotorik empirisch erforschen - eine phänomenologische Annäherung

71
2023
Nicole Borsutzky
Alexander Ratzmann
Der Beitrag stellt einen in der Fachdisziplin neuen Forschungsansatz vor, um das Erleben im Bewegen empirisch untersuchen zu können, und greift damit eine methodologisch-methodische Forschungslücke auf. Ausgehend vom Gegenstand der Bewegung als leibliches und kinästhetisches Phänomen wird herausgearbeitet, dass sich dieser einem empirisch-konventionellen Dual eines Innen und Außen entzieht. Die Methode der pädagogisch-phänomenologischen Videographie wird als anschlussfähig für empirische motologische Forschung vorgestellt. Abschließend werden Fragen, die die Gegenstands- und Erfahrungstheorien der Fachdisziplin betreffen, aufgeworfen.
7_046_2023_003_0134
Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag stellt einen in der Fachdisziplin neuen Forschungsansatz vor, um das Erleben im Bewegen empirisch untersuchen zu können, und greift damit eine methodologisch-methodische Forschungslücke auf. Ausgehend vom Gegenstand der Bewegung als leibliches und kinästhetisches Phänomen wird herausgearbeitet, dass sich dieser einem empirisch-konventionellen Dual eines Innen und Außen entzieht. Die Methode der pädagogisch-phänomenologischen Videographie wird als anschlussfähig für empirische motologische Forschung vorgestellt. Abschließend werden Fragen, die die Gegenstands- und Erfahrungstheorien der Fachdisziplin betreffen, aufgeworfen. Schlüsselbegriffe: Verstehender Ansatz, Phänomenologie, pädagogisch-phänomenologische Videographie, Bewegung, Leiblichkeit, empirische Forschung Empirically exploring experiences in movement within motology and psychomotricity-- a phenomenological approach Within the discipline the article presents a new research approach for the empirical investigation of the experience in movement, by which it addresses a methodological-methodical research gap. Starting from the object of movement as a bodily and kinaesthetic phenomenon, we show that it eludes an empirical-conventional dual of inside and outside. The method of pedagogical-phenomenological videography is presented as compatible with empirical research in motology. Finally, questions are raised concerning the theories used within the discipline for the study of objects and of experience. Keywords: Understanding approach, phenomenology, videography, movement, corporeality, empirical research [ 134 ] 3 | 2023 motorik, 46. Jg., 134-141, DOI 10.2378 / mot2023.art27d © Ernst Reinhardt Verlag [ FACHBEITRAG ] Bewegungserfahrungen in Motologie und Psychomotorik empirisch erforschen-- eine phänomenologische Annäherung Nicole Borsutzky, Alexander Ratzmann Einleitung Im motologischen Fachdiskurs verstärkt sich jüngst der Ruf, vermehrt empirisch zu forschen (Seewald 2015, 2021), was das Ansinnen unterstreicht, mittels Evidenz die Reputation der Disziplin zu steigern, deren Wissenschaftlichkeit nach außen stärker zu legitimieren (Richter-Mackenstein 2013) und so die Profilierung ihrer gesellschaftlichen Relevanz zu verdeutlichen. Als Widerhall auf diese Forderung wurde im Jahr 2019 die AG Empirie (vgl. hierzu Seewald 2021) gegründet. Eine zentrale Frage der AG war, wie »subjektiv bedeutsame Erfahrungssituationen« (ebd., 114), die in der leibphänomenologischen Tradition der Fachdisziplin begründet sind (ebd. 1992, 2007), auch empirisch eingeholt und gegenstandsangemessen erforscht werden können, ohne durch empirische Vorgehensweisen die Vielschichtigkeit der Erfahrung zu reduzieren (ebd. 2021, 113 f ). Aktuell liegen Studien, die sich empirisch der Erfahrungsdimension annähern, nicht vor. Wie das Phänomen der Bewegungserfahrung methodisch eingeholt werden kann, stellt eine Leerstelle im Fachdiskurs dar. Sofern eine empirische Annäherung geschehen soll, stellen sich Fragen nach gegenstandsangemessenen Forschungszugängen. Die fachliche Methodendis- [ 135 ] Borsutzky, Ratzmann • Bewegungserfahrungen in Motologie und Psychomotorik 3 | 2023 kussion vor dem Hintergrund von Gegenstandsfragen wird bisher nur vereinzelt aufgegriffen (vgl. hierzu Seewald 2015), nicht aber anhand eines tatsächlichen Gegenstandes und einer konkreten Methode ausgearbeitet. Jüngst wird zwar benannt, dass es in der Fachdisziplin einer »kritisch-reflexive[n] Auseinandersetzung mit und in empirischer Forschung« (Vetter et. al. 2021, 9) bedarf, jedoch wird nicht auf den systematischen Zusammenhang von Methode und Gegenstand eingegangen und dieser forschungsmethodologisch eingeholt (z. B. Vetter / Berg 2021). Dieser Forschungslücke nimmt sich der vorliegende Beitrag nun an und entspricht damit auch Haas’ (2023) Einladung, die Thematisierung körperlichen Erfahrens und Erlebens disziplinär wiederzubeleben. Wir möchten in diesem Beitrag einen phänomenologischen Forschungsansatz skizzieren und uns damit der Beantwortung der Frage annähern, wie die Erfahrungsdimension im Bewegen empirisch erforscht werden kann. Hierzu spezifizieren wir das Bewegungsverständnis in der Fachdisziplin und argumentieren anhand folgender Thesen: Wir zeigen erstens, dass eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem systematischen Verhältnis von Methode und Gegenstand für empirische Forschung unumgänglich ist, da empirische Methoden (und ihre Theorien, also Methodologien) und der Forschungsgegenstand einander wechselseitig hervorbringen und (prä) konfigurieren. Hieraus folgt, so unsere zweite These, dass über naturwissenschaftliche Messverfahren nicht an die Erfahrungsdimension herangekommen werden kann, beispielhaft veranschaulicht am Phänomen des Farbempfindens. Unsere dritte These ist, dass durch einen phänomenologischen Forschungsstil und die Methode der pädagogisch-phänomenologischen Videographie eine empirische Annäherung an den Gegenstand der Bewegungserfahrung gelingen kann. Das Phänomen des Farbempfindens Aktuell wird im Fachdiskurs die »Frage nach Forschungsmethoden [gestellt], durch die sich das Selbsterleben analysieren und abbilden lässt« (Vetter et al. 2021, 10). Das setzt die Auseinandersetzung mit dem systematischen Verhältnis von Methode und Gegenstand voraus (These 1), wie wir im Folgenden aufzeigen werden. Daran knüpfen wir die Frage an, inwiefern naturwissenschaftlich-quantitative Messverfahren geeignet sind, um den Gegenstand des Erlebens in seiner Vielschichtigkeit empirisch erfassen zu können (These 2). Soll der Gegenstand des Selbsterlebens tatsächlich abgebildet werden, unterliegt dieser einem repräsentationstheoretischen Paradigma und hat in forschungsmethodologischer Konsequenz den Rückgriff auf naturwissenschaftliche Forschungsmethoden zur Folge. Zentral ist hierbei, dass naturwissenschaftliche Messverfahren von »der Idee einer an sich seienden Außenwelt« (Merleau-Ponty 1966, 29) ausgehen, wodurch wiederum der Gegenstand eine spezifische Konfiguration erhält: Das Erleben wird auf ein Außenverhalten reduziert (Waldenfels 2013, 45), ist also eine direkte Folge eines äußeren Reizes (Merleau-Ponty 1966, 26). Damit geht eine Reduktion der sinnlichen Empfindungswelt in ihrer Vielschichtigkeit einher, wie am folgenden Beispiel des Farbempfindens aufgezeigt wird. Farben sind naturwissenschaftlich nicht zu erklären, sie liegen schlicht nicht vor. Empirisch können einzig Lichtquellen gemessen werden (Fuchs 2021, 45 ff ), nicht aber die Farben an sich. Nichtsdestotrotz erleben wir das saftige Grün eines Baumes oder nehmen das feurige Rot eines Kleides wahr. Das Erleben vollzieht sich zuvorderst nicht als kognitive Informationsverarbeitung, wonach die Farbe im Erleben einzig einen Bedeutungsträger darstellen würde (Waldenfels 2013, 83) und sich entsprechend einem Input-Output-Prinzip empirisch abbilden ließe. Nach Waldenfels erleben wir die Farbe in einem »Moment der Konkretion« (ebd.). Das Farbempfinden ist ein zutiefst leiblich-sinnlicher Wahrnehmungsprozess, dem eine dualistische Erfassung nicht gerecht werden würde, Das Farbempfinden ist ein leiblichsinnlicher Wahrnehmungsprozess. [ 136 ] 3 | 2023 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis weil sich der leibliche Wahrnehmungsprozess und die Qualität des sinnlichen Erlebens einem repräsentationstheoretischen Paradigma entziehen. Es vollzieht sich nämlich auf einer präreflexiven Ebene: »plötzlich ergreift das Sinnliche (…) meinen Blick und ich liefere einen Teil meines Leibes oder gar meinen ganzen Leib jener Weise der Schwingung und Raumerfüllung aus, in der (…) das Rot besteht« (Merleau-Ponty 1966, 249 zit. n. ebd., 84). Empfinden und Empfundenes stehen sich nicht als Subjekt und Objekt gegenüber, sondern greifen ineinander, der Empfindende erfährt sich als Teil der Welt und die Welt als Teil von sich (ebd., 87). Der Prozess des sinnlich-leiblichen Erlebens, das Verhältnis von einem Innen und einem Außen sowie Subjekt und Objekt ist also nicht dualistisch, sondern relational verfasst. Hieraus folgt zweierlei: 1. Wenn das Rot keine offenbare Botschaft ist (Merleau-Ponty, 2004, 174), die man von Außen im Inneren als Evidenz empfängt, so kommen Forschungsmethoden, die von ebenjenem dualistischen Reiz-Reaktions-Prinzip ausgehen, mit dem so gesetzten Gegenstand des Empfindens forschungsmethodologisch an ihre Grenzen. 2. Wenn das Rot einen flüchtigen Überschneidungsraum zwischen der inneren und der äußeren Welt darstellt (ebd., 175), dann bedarf es einer Forschungsmethodologie und -methode, die dieser erkenntnistheoretischen Prämisse Rechnung trägt. Wie anhand des Farbbeispiels gezeigt, ist das Erleben nicht im Repräsentationsmodus zu fassen. Das Wechselverhältnis von Subjekt und Welt lässt sich nicht lokalisieren (Fuchs 2021, 52), denn es »ist nichts anderes als meine Beziehung zur Welt« (ebd.). Resümierend kann entsprechend diesen Ausführungen bilanziert werden, dass aus einem phänomenologischen Paradigma der Gegenstand des subjektiven Erlebens weder als Bild noch als Ding aufzuspüren und abbildbar ist (ebd.). Sich dem Erleben in einem phänomenologischen Paradigma über naturwissenschaftliche Methoden empirisch anzunähern, ist dementsprechend nicht möglich, da methodologische Grundannahmen und methodische Verfahren die qualitativen Dimensionen des Erlebens eingrenzen. Konturen eines leibphänomenologischen Bewegungsverständnisses Was bedeutet das zuvor Herausgearbeitete für den Gegenstand der Bewegungserfahrung? Für die empirische Forschung bedarf es im ersten Schritt einer theoretischen Modellierung des Forschungsgegenstands, genauer gesagt: einer Gegenstandstheorie. Gegenstandstheorien und damit einhergehende Forschungsfragen haben Konsequenzen für die Wahl der Forschungsmethoden, wie auch Forschungsmethoden durch Grundannahmen den Gegenstand (prä)konfigurieren. Wie wir im Folgenden aufzeigen werden, ist in Analogie zum Phänomen des Farbempfindens auch das Phänomen der Bewegungserfahrung nicht dualistisch zu fassen. Es entzieht sich einer Abbildung durch naturwissenschaftliche Mess- und Testverfahren. Wir setzen an einem leibphänomenologisch fundierten Bewegungsverständnis der Motologie und Psychomotorik an (Seewald 1992, 1995, 2007), das sich eng an Merleau-Pontys »Phänomenologie der Wahrnehmung« orientiert. Bewegung ist stets ein Sich-Bewegen, Mit-Bewegen und Vor-anderen-Bewegen im Modus der Interkorporalität (Merleau-Ponty 1966). Im Vordergrund dieses Bewegungsverständnisses steht nicht die absichtliche, bewusst gesteuerte Bewegung (Seewald 1995, 214). Weil Bewegung im engsten Zusammenhang mit der leiblichen Wahrnehmung steht (Merleau-Ponty 1966) und vor aller bewusstseinsmäßigen Reflexion einen präreflexiven Selbst- und Weltbezug aufweist (Seewald 1992, 54), also eine »nicht-thetische, vorobjektive und vorbewußte Erfahrung ist« (Merleau- Ponty 1966, 282), lässt sich das Phänomen der Bewegung, analog zum Phänomen des Farbempfindens, nicht auf ein psycho-physiologisches Zusammenspiel reduzieren (ebd., 79). Hieraus folgt, dass sich die Bewegungserfahrung nicht im Sinne eines Reiz-Reaktions-Schemas abbilden lässt, da hiermit die Erfahrungsdimension nicht erfasst werden kann. Denn diese ist stets leiblich gebunden und damit präreflexiv verortet. Das heißt, auch in dem hier skizzierten Bewegungsverständnis kommt »die ›ursprüngli- [ 137 ] [ 137 ] Borsutzky, Ratzmann • Bewegungserfahrungen in Motologie und Psychomotorik 3 | 2023 che Einheit‹ von Welt und Leib zum Ausdruck« (Seewald 1995, 214). Den Leib bewegen bedeutet »durch ihn hindurch auf die Dinge abzielen, ihn einer Aufforderung entsprechen lassen, die an ihn ohne den Umweg über irgendeine Vorstellung ergeht« (Merleau-Ponty 1966, 168 zit.-n. ebd., 216). Folgt man solch einem Bewegungsverständnis, wird Bewegung nicht wie in naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden auf eine physische Positionsveränderung im Raum reduziert (Merleau-Ponty 1966, 168; Seewald 1995, 215). Bewegung, die leiblich-sinnlich erlebt wird (Seewald 1995, 215), steht im Fokus des Forschungsinteresses und damit die irreduzibel »erlebte Dimension von (…) Bewegung« (ebd. 1992, 41). Bewegung wird somit nicht dualistisch reduziert und nivelliert, sondern das Erleben in seiner Vielschichtigkeit steht im Vordergrund. Aus methodologischen Gründen schlagen wir vor, den Gegenstand Bewegung im Kontext phänomenologisch ausgerichteter empirischer Forschung in Motologie und Psychomotorik als Bewegungserfahrung (vgl. hierzu u. a. Waldenfels 2002) zu spezifizieren, können an dieser Stelle jedoch nicht ins Detail gehen. Resümierend lässt sich somit festhalten, dass der zentrale Gegenstand der Motologie, die Bewegung, in der von uns vorgenommenen phänomenologischen Spezifizierung eines Forschungsansatzes bedarf, der Bewegung als Erfahrung jenseits einer dualistischen Auffassung begreift. Hierfür setzen wir im Folgenden einen phänomenologischen Forschungsansatz an, der in seiner Methodologie die dualistische Auffassung eines Innen und Außen, von Körper und Geist, von Subjekt und Objekt überwindet und sich genau deshalb dem Gegenstandsbereich der Erfahrung empirisch zu nähern vermag. Methodologische Überlegungen für eine empirische Annäherung an Bewegungserfahrungen Wie wir aufgezeigt haben, ist ein direkter empirischer Zugang zu Erfahrungen nicht möglich. Erfahrungen sind nicht direkt beobachtbar und abbildbar. Dennoch kommt der Erfahrung eine entscheidende Rolle in motologisch-psychomotorischen Settings zu. Wie lässt sich das Phänomen der Erfahrung also trotzdem empirisch erforschen? Dafür, so unser Vorschlag, kann auf die Methodologie der pädagogisch-phänomenologischen Videographie zurückgegriffen werden (Brinkmann 2015a; 2015b) (These 3), da sie von dem Phänomencharakter eines Gegenstandes ausgeht: Demzufolge verweist das Erscheinende nicht auf etwas Dahinterliegendes, Eigentliches, Wesenhaftes, so Brinkmann (2015b, 37) mit Bezug auf Heidegger (2001), es sei nicht Repräsentant, sondern zeige sich entsprechend seinem Sein als Phänomen als Oberfläche, die den Ort darstelle »an dem sich etwas zeigt« und »hinter oder unter der (…) nichts ist: kein Wesen, kein Sinn, kein Indikator oder Symptom für etwas Latentes« (Brinkmann 2015b, 38). Daraus lässt sich erstens schließen, dass die pädagogisch-phänomenologische Videographie Sprach- und Repräsentationsmodellen kritisch gegenübersteht (ebd. 2015a, 530). Zweitens, dass die Erkenntnisprozesse der ForscherInnen selbst eingelassen sind in die Kontingenz von Zeit und Raum. Die ForscherInnen verfügen über keine übergeordnete, losgelöste Erkenntnisinstanz. Das heißt, die Erfahrungen der ForscherInnen sind während des Forschens mit empirischen Videodaten mit eingebunden in eine Erfahrung. Daraus folgt drittens, dass die pädagogisch-phänomenologische Videographie die subjektive Erfahrung der ForscherInnen somit nicht nur zum Gegenstand, sondern auch zum Ausgangspunkt ihrer Methodologie nimmt (ebd. 2015a, 531). Dabei bleibt die Erfahrung der ForscherInnen bei der Betrachtung des Videomaterials der Bewegungserfahrung der Beforschten qua Antwortgeschehen mit der eigenen Erfahrung responsiv verwoben und lässt sich ebenso nicht kongruent sprachlich-reflexiv darstellen. Es gibt keinen exklusiveren Zugang der ForscherInnen zu den Erfahrungen der Beforschten (Brinkmann / Rödel 2018). Das Erscheinende verweist nicht auf etwas Dahinterliegendes, Eigentliches, Wesentliches. [ 138 ] 3 | 2023 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Mit der Verwendung des Erfahrungsbegriffs (Waldenfels 2002) geht methodologisch eine Differenz zwischen der leiblichen Erfahrungsqualität und der Art und Weise, wie diese Qualität repräsentiert werden kann, einher. Husserl (1995, 77) beschreibt diese Differenz als signifikative Differenz, wonach ein kategorialer Unterschied zwischen dem leibhaften Erfahren und seiner nachträglichen sprachlichen Fixierung besteht (ebd.). Mit Bezug auf Husserl existiert also eine »Differenz zwischen leiblichem Wahrnehmen (und Erfahren) einerseits und einer sprachlichen, symbolischen, bildlichen oder zeichenförmigen Repräsentation dieser Wahrnehmung und Erfahrung andererseits« (Brinkmann 2019, 138 f ). Die primordiale leibliche und interkorporale Bewegungserfahrung entzieht sich demnach nicht nur naturwissenschaftlichen Messverfahren, sondern auch qualitativen Untersuchungsmethoden, die im Modus der sprachbasierten Repräsentation forschen. Die nachträgliche Artikulation von Erfahrungen kann die vielen verschiedenen Qualitäten der Bewegungserfahrungen, verstanden als Vielzahl qualitativer Schattierungen, diffuser Empfindungen und intentionaler Bezüge der Erfahrung nicht abbilden-- sie nähert sich dieser nur tentativ an (ebd., 138). Das trifft sowohl auf die Erfahrungen der Beforschten als auch auf die Erfahrungen der ForscherInnen während der Videoanalyse zu. Dies gilt es stets forschungsmethodologisch zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie dem Phänomen der Bewegungserfahrung gegenstandsangemessen methodisch begegnet werden kann. Bewegungserfahrungen mit der Methode der pädagogischphänomenologischen Videographie erforschen Zur empirischen Erforschung von Bewegungserfahrungen greifen wir auf die Methode der pädagogisch-phänomenologischen Videographie (Brinkmann / Rödel 2018) zurück, weil sie versucht, Phänomene anhand ihrer Oberflächenstruktur in empirischen Videodaten methodisch kontrolliert zu beschreiben (Brinkmann 2015a, 2015b) und eben nicht von etwas Verborgenem ausgeht, was sich im Äußeren abbilden lässt. Durch Operationalisierungen und operative Verfahrensschritte ist eine Annäherung an Bewegungserfahrungen möglich. Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt erläutert, ist mit Husserl das Phänomen nicht als etwas Vorhandenes zu verstehen, sondern ist stets eingebunden in einen Horizont. Jedes Etwas erscheint nur im Horizont von anderen Möglichkeiten (Brinkmann 2015b, 35 f ). Es gilt deshalb, die Subjektivität der ForscherInnen methodisch einzuholen. Durch die Schritte der Deskription, Reduktion, Variation und Ideation wird der Subjektivität der ForscherInnen produktiv begegnet (Brinkmann / Rödel 2018, 533 ff ), indem diese Schritte einer Öffnung gegenüber den pluralen und ambiguen Sinnphänomenen in der Erfahrung (Brinkmann 2015a, 532) Rechnung tragen sowie die Einklammerung (Reduktion) subjektiver Theorien, Interpretationen und normativer Setzungen der ForscherInnen, die das Phänomen normalerweise verstellen, ermöglichen. Im Hinblick auf Bewegungserfahrungen geht es also nicht darum, die Bewegung als ein äußeres Zeichen eines inneren Ausdrucks zu deuten, sondern anhand der methodischen Schritte die eigenen normativen Prämissen eingangs offenzulegen. Anschließend öffnet sich das Phänomen der Bewegungserfahrung in seiner Vielschichtigkeit durch Multiperspektivität (Variation und Ideation). In diesem phänomenologischen Sinn lässt sich das Phänomen der Bewegungserfahrung nicht auf eine Perspektive stillstellen. Es lässt sich nicht objektivieren und repräsentieren, sondern empirisch pluralisieren. In Form des methodischen Schritts der Typenbildung und Re-Theoretisierung erfolgt abschließend nicht die Rekonstruktion von Sinn, sondern, mit Bezug auf Fink, die Einlegung von Sinn (Brinkmann / Rödel 2018, 535). Obgleich Bewegungshandlungen in den Videodaten sichtbar sind, liegen die mit dem Sich- Bewegen einhergehenden Erfahrungen in den Daten nicht ›sichtbar‹ vor. Aus einem phänomenologischen Forschungsparadigma heraus wäre es ein Kategorienfehler davon auszugehen, dass sich in Bewegung das Innere in einem [ 139 ] [ 139 ] Borsutzky, Ratzmann • Bewegungserfahrungen in Motologie und Psychomotorik 3 | 2023 Äußeren abbildet. Deshalb bedarf es der Anwendung von Operationalisierungen. Sie beschreiben Konstrukte, die theoretisch fundiert und begründet Aufschluss darüber geben, was ›unsichtbar‹ in Videodaten aufscheint (Brinkmann 2015a, 538). Für die Erforschung subjektiver Bewegungserfahrungen schlagen wir vor, auf die Operationalisierungen der Verkörperung und des Antwortgeschehens zurückzugreifen. Anhand der Operationalisierung der Verkörperung als ›leiblichen Ausdrucks‹ lassen sich Mimik, Gestik, Muskeltonus, Bewegungsrhythmus und -dynamik sowie die Bezogenheit auf den materialen und sozialen Raum differenziert beschreiben (Brinkmann / Rödel 2018, 526 ff ). Das ermöglicht, »subjektive Entäußerungen in ihren nicht-sprachlichen Dimensionen empirisch« (ebd., 529) zu beschreiben. Die theoretischen Grundzüge dieser Operationalisierung werden über Merleau-Ponty sowie Plessner hergeleitet (Brinkmann 2015a, 538), da beide den »Dualismus von Körper und Geist und damit die falsche Alternative zwischen Naturalismus und Rationalismus bzw. Kognitivismus überwinden« (ebd.). Die Operationalisierung Antwortgeschehen tritt als spezifische Form der Verkörperung auf und ermöglicht den Einbezug der intersubjektiven und responsiven Dimension der zu untersuchenden Bewegung. Theoretisch fundiert wird diese Operationalisierung durch Waldenfels’ Theorie der Responsivität (Brinkmann 2015a, 539). Anschlussfähig an eine empirische Erforschungsmöglichkeit der Bewegungserfahrung erscheinen beide Operationalisierungen, weil die Motologie und Psychomotorik mit Bezug auf Merleau-Ponty von einem leiblichen, präreflexiven Selbst ausgehen, das, bezugnehmend auf Plessner, als exzentrisches und ambigues Verhältnis zu bestimmen ist (Seewald 1992, 55), sowie das zwischenleiblich-relationale Geschehen in den Mittelpunkt ihres Erkenntnisinteresses rücken (ebd. 2007, 30). Die Operationalisierungen ermöglichen im Prozess der phänomenologischen Analyse die Deskription ausgewählter Verkörperungsdimensionen. Darüber hinaus bewirken sie bei den ForscherInnen das tentative und responsive Sich-Einlassen. Die leibliche Responsivität wird hierbei zu einer produktiven Forschungshaltung in der phänomenologischen Analyse der Bewegungserfahrungen. Das responsiv-leibliche Sich-Einlassen auf die sichtbaren Verkörperungsdimensionen im Prozess des videographischen Sehens ist vergleichbar mit einer Pendelbewegung zwischen der Beschreibung der operationalisierten Verkörperungsdimension und der Wahrnehmung des eigenen Sehens. Im Wechselspiel zwischen ›etwas sehen‹ und ›das eigene Sehen sehen‹ spannt sich ein Rahmen auf, der zwischen Phänomen und ForscherInnen gleichsam vermittelt und damit ›Neues‹ und ›Anderes‹ am Phänomen erkennen lässt (Brinkmann / Rödel 2018). Fazit und Ausblick Der Beitrag hat zum Ziel, die methodologischen Herausforderungen in der empirischen Erforschung von Bewegungserfahrungen zu problematisieren und skizzenhaft einen für die Fachdisziplin neuen phänomenologischen Forschungsansatz vorzustellen, anhand dessen die zentrale Frage bearbeitet wird, wie sich der Bewegungserfahrung empirisch angenähert werden kann. Wir konnten aufzeigen, dass hierfür nicht auf naturwissenschaftliche und qualitative Methoden, die methodologisch auf einem Sprach- und Repräsentationsmodell basieren, zurückgegriffen werden kann, da diese Methoden dem Dual von Subjekt und Objekt unterliegen und die Erfahrungsdimension dadurch nicht gegenstandsangemessen erforscht werden kann. Als Alternative haben wir die methodologischen Grundzüge eines phänomenologischen Forschungsansatzes herausgearbeitet, der von der Oberflächenstruktur eines Phänomens ausgeht. Durch phänomenologische Operationen, insbesondere auch durch das Merkmal leiblicher Responsivität, ist es möglich, Sinn nicht normativ auszulegen, sondern Sinn Phänomenologische Operationen ermöglichen Sinn nicht normativ auszulegen, sondern produktiv am Phänomen zu eröffnen. [ 140 ] 3 | 2023 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis produktiv, aber dennoch ohne Beliebigkeit zu eröffnen, wodurch der Forderung im Fachdiskurs nach einer Empirie nachgekommen werden kann, die durch methodologisch-methodische Setzungen die Erfahrungsdimension nicht reduziert. Grundsätzlich haben sämtliche Methoden und Gegenstände, die von fachdisziplinärem Interesse sind, ihre Berechtigung. In empirischer Forschung bedarf es jedoch generell der Einklammerung ihres Geltungscharakters und ihrer Aussagekraft und der kritischen Reflexion der Entstehungsgeschichte der Ergebnisse sowie der Gegenstandsangemessenheit empirischer Verfahren und Ergebnisse. Gerade weil der Bedarf besteht, in der Fachdisziplin das Erleben auf Grundlage leibphänomenologischer Gegenstandstheorien empirisch zu erforschen, empfehlen wir die Methodologie und Methode der pädagogisch-phänomenologischen Videographie. Sie kann unseres Erachtens zudem im Setting triangulativer Forschungsdesigns erkenntnisbringend eingesetzt werden. Aus unserem Beitrag ergeben sich weitere theoretische und empirische Anschlussmöglichkeiten, zu dessen Überprüfung und Diskussion wir einladen möchten: Im Fachdiskurs liegt bisher keine Erfahrungstheorie vor, zugleich wird Erfahrung jedoch als zentrale Größe motologischer Interventionen markiert (Seewald 2021, 114). Soll ein empirischer Anschluss an Erfahrungsdimensionen gelingen, gilt es zum einen zu überprüfen, inwiefern Erfahrungstheorien (z. B. Waldenfels 2002) anschlussfähig sind, und zum anderen, inwieweit diese im Horizont fachlicher Forschungsgegenstände und deren Gegenstandstheorien tragfähig sind. Diese Prüfung haben wir beispielhaft am Gegenstand von Bewegungserfahrungen vollzogen. Das leibphänomenologisch fundierte Bewegungsverständnis der Fachdisziplin haben wir lediglich grob skizziert und eng geführt auf Merleau-Ponty. Inwieweit dieses Bewegungsverständnis jedoch trägt oder um weitere phänomenologische Theorien ergänzt werden muss, bleibt eine offene Aufgabe. Die Prüfung der Passungsfähigkeit von Gegenstand(stheorie) und Methode ist eine zentrale Aufgabe für empirisches Forschen. Diesbezüglich gilt es auch, neben dem von uns skizzierten Bewegungsverständnis die nicht stringente Verwendung der Termini Empfinden, Erleben und Erfahrung in ein systematisches Verhältnis zueinander zu setzen und auf ihre Anwendbarkeit zu überprüfen. Die Operationalisierungen der pädagogischphänomenologischen Videographie sind pädagogisch fundiert. Wir haben die Bewegungserfahrung an dieser Stelle nicht kontextualisiert, sondern isoliert einer methodologisch-methodischen Analyse unterzogen. Sollen Bewegungserfahrungen im Paradigma von Entwicklung, Bildung, Gesundheit oder Therapie, als die vier Hauptparadigmen der Disziplin, erforscht werden, bedarf es einer Kontextualisierung und weiteren Überprüfung der Gegenstandsangemessenheit der pädagogisch-phänomenologischen Videographie für die Fachdisziplin. Zudem ist zu klären, ob es weitere gegenstandsabhängige Operationalisierungen zur Erfassung von Erfahrungsdimensionen in motologischen Settings braucht. Dieser Beitrag durchlief das Peer Review. Literatur Brinkmann, M. (2019): Pädagogisches (Fremd-)Verstehen. Zur Theorie und Empirie einer interkorporalen Ausdruckshermeneutik. In: Brinkmann, M. (Hrsg.): Verkörperungen. Springer, Wiesbaden, 131-158, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-27491-7_7 Brinkmann, M., Rödel, S. S. (2018): Pädagogischphänomenologische Videographie. Zeigen, Aufmerken und Interattentionalität. In: Moritz, C., Corsten, M. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Videographie. 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Motologie und Psychomotorik- - Marburger Beiträge zu einer responsiven Fachentwicklung, Forschung und Theoriebildung. wvpm, Marburg, 9-15 Vetter, M., Berg, S. (2021): Körpererleben bei Menschen mit Diagnose Morbus Parkinson. Feasibility-Analysen zur Verbesserung von Patientenmündigkeit und Lebenszufriedenheit durch (Selbst-) Reflexion in bewegungs- und wahrnehmungsgetragenen Interventionen. In: Vetter, M., Wuttig, B., Spahn, L., Göhle, U. H. (Hrsg.): Profession- - Gender- - Inklusion. Motologie und Psychomotorik- - Marburger Beiträge zu einer responsiven Fachentwicklung, Forschung und Theoriebildung. wvpm, Marburg, 119-132 Waldenfels, B. (2013): Das leibliche Selbst. 5. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Waldenfels, B. (2002): Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Die AutorInnen Nicole Borsutzky M.A. Motologie, Gastwissenschaftlerin, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Erziehungswissenschaften, Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft Alexander Ratzmann M.A., Senior Scientist Paris Lodron Universität Salzburg, Fachbereich Sport- und Bewegungswissenschaft Abteilung Sportdidaktik u. Fachdidaktik des Sports Kontakt nicole.borsutzky@hu-berlin.de