eJournals Motorik 46/4

Motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2023
464

Forum Psychomotorik: Ist Motorik politisch?

101
2023
Bettina Wuttig
Motorik ist sozial situiert. In Bewegungen und Bewegungsempfindungen spiegeln sich nicht nur soziale und räumliche Arrangements, sondern auch Anerkennungsnormen wider. Am Beispiel der Kolonialisierung des Körperschemas macht der Beitrag deutlich, dass sich mit der Ausprägung von Bewegungsgewohnheiten auch soziale Strukturen in motorische Prozesse einschreiben. Motorik zeigt sich insofern als politisch, als dass ein Körperschema-(zu)-werden mit Prozessen der Subjektivierung verbunden ist.
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Zusammenfassung / Abstract Motorik ist sozial situiert. In Bewegungen und Bewegungsempfindungen spiegeln sich nicht nur soziale und räumliche Arrangements, sondern auch Anerkennungsnormen wider. Am Beispiel der Kolonialisierung des Körperschemas macht der Beitrag deutlich, dass sich mit der Ausprägung von Bewegungsgewohnheiten auch soziale Strukturen in motorische Prozesse einschreiben. Motorik zeigt sich insofern als politisch, als dass ein Körperschema-(zu)-werden mit Prozessen der Subjektivierung verbunden ist. Schlüsselbegriffe: Motorik, Körperschema, leibliches Selbst, Habituierung, Subjektivierung, embodied bias Is motor activity political? Motor activity is always situated, in the sense that social and spatial arrangements, as well as norms of recognition are embodied in (sensations of ) movements. The inscription of social structures in motor processes is made clear by discussing the processes of subjectivation of a colonized body schema-- disclosing movement (experiences) as a political process instead of claiming it to be a cultural á priori. Keywords: motor activity, situated body schema, bodily self, habituation, subjectivation, embodied bias [ 173 ] motorik, 46. Jg., 173-179, DOI 10.2378 / mot2023.art33d © Ernst Reinhardt Verlag 4 | 2023 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Ist Motorik politisch? Bettina Wuttig Was würde es bedeuten, Motorik als politisch zu verstehen? Dieser Beitrag zeigt am Beispiel der Ausbildung des Körperschemas, dass motorische Entwicklung zumindest als in soziale und politische Ermöglichungsbedingungen eingebettet verstanden werden muss. Motorik kann, so besehen, nicht in ein gesellschaftlich neutrales Licht getaucht sein. Bewegung ist sozial situiert, in der Hinsicht, dass sich in Bewegungen und Bewegungsempfindungen gesellschaftliche Verhältnisse, soziale und räumliche Arrangements, Anerkennungsnormen verkörpern. Motorik ist letztlich die Ausprägung von Gewohnheiten, die Formung der somatischen Dimension, dergestalt Form und Materie keine voneinander losgelösten Entitäten darstellen. Soziale Strukturen schreiben sich in motorische Prozesse ein. Der Beitrag zeigt dies exemplarisch an der Ausbildung eines (bestimmten) Körperschemas. Ein Körperschema, welches in seiner phänomenologischen Qualität auf seine Situiertheit in den Bedingungen der Subjektivierungen verweist. Ein motorisches Subjekt zu werden, heißt sodann durch einen Raum zu navigieren, der sich je nach Subjektposition unterschiedlich verfügbar zeigt. Dies soll am Beispiel von Entkörperungsprozessen des kolonialisierten Subjekts deutlich werden. Der soziale Sinn motorischer Gewohnheiten In einer Abkehr von unidirektionalen Modellen, innerhalb derselben Gedanken und Affekte motorische Prozesse (willentlich) steuern, setzt sich zunehmend durch, dass der Körper in Bewegungsentwicklungsprozessen in seiner Verhaltenskomponente (Motorik) und seiner Erlebenskomponente gleichzeitig erfasst wird (Koch 2011, 399 ff; Storch et al. 2006). Bewegungslernen ist aus der Sicht von embodied cognition-Theorien immer auch Er-fahren, Be-greifen, Wahr-nehmen, Aus-drücken von Sinngestalten (Fingerhut et al. 2017). Dieser Grundgedanke findet sich aber bereits seit längerem in der leibphänomenologisch-psychoanalytischen Motologie- - prominent bei Jürgen Seewald (2007). Bewegung ist (hier) zumindest auch verkörperte Biografie; indem das Subjekt sich bewegt, erfasst es sich und die Welt in einem ko-konstitutiven Geworden-sein. In diesem sinnlichen Erfassen erschließt sich indes Sinn, noch bevor ein kognitives Urteil überhaupt gefällt wird (Merlau- Ponty 1966, 57). [ 174 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik Die Soma Studies (Wuttig 2016; 2022) haben dazu, unter anderem im Anschluss an die Neurowissenschaften, die Leibphilosophie Nietzsches und die Habitustheorie Pierre Bourdieus, zeigen können, dass durch Bewegung bzw. motorisches Lernen nicht nur einfach Sinn erschlossen wird bzw. die phänomenale Welt in ihrem Sinn erfasst wird (Merlau-Ponty 1966, 56), sondern dass Sinn immer auch sozialer Sinn ist. Das heißt, wenn über eine Simulation bzw. eine Mimesis von sensorischen, motorischen und introspektiven Zuständen eine Repräsentation von Wissen (Kognition) erfolgt (Koch 2011, 41 ff ) und der Leib sich dabei als gelehrig und vernünftig erweist (Wuttig 2022), dann werden via social embodiment, welches die zwischenmenschliche, intuitive, körperliche Nachahmung meint, die wiederum aus neurowissenschaftlicher Sicht durch eine Aktivierung sogenannter Spiegelneurone erfolgt, Bewegungen an den Bewegungen des Anderen erlernt (Koch 2011, 41). Mit dem auf Nachahmung beruhenden Bewegungslernen wird aber nicht nur eine individuelle oder zwischenmenschliche Art sich zu bewegen »erworben«, sondern die (jeweilige) soziale Welt in ihren möglichen Bedeutungshorizonten, Normen und Anerkennungslogiken mitsamt ihren Affekten, Bewegungen, Haltungen wird sich sozusagen angewöhnt. So schreibt Celine Leboeuf: »Merleau-Ponty recognizes that we acquire habits through a process of learning that is embedded in a social world; he describes how imitating others allows us to form new habits.« (Leboeuf 2020, 49) Die Formierung von Gewohnheiten mitsamt den Bedeutungshorizonten, die je nachdem, wer sie habituiert, unterschiedlich bewertet werden können, zeigt das folgende Beispiel: Der Vater läuft »über den großen Onkel«, bald bemerken die Familienmitglieder, dass der dreijährige Sohn nicht nur das Laufen gelernt hat, sondern wie der Vater »über den großen Onkel läuft«. Mit Blick auf die Eingangsfrage »Ist Motorik politisch? « ist hier vermutlich noch nicht ersichtlich geworden, was an dem, über mimetische Prozesse an den Sohn weiter »vererbten« Innenrotationsgang politisch sein soll. Was aber, wenn nun bspw. die dreijährige Tochter ebenfalls den Innenrotationsgang des Vaters erbt, und hier das sich habituell verfestigende »Über-den-großen-Onkel-Laufen« mit den für Mädchen und Frauen geltenden Körper- und Schönheitsnormen nicht verträgt? Studien zur Geschlechterforschung in der Sportwissenschaft kommen immer wieder zum Ergebnis, dass für Mädchen und Frauen nach wie vor das Ideal des ästhetischen, grazilen Körpers vorherrscht (Wuttig 2023). Bereits dieses eher harmlose Beispiel lässt auf einen möglichen Konflikt zwischen motorischer Mimesis und einem sozial geforderten Körper schließen. Bewegungen scheinen eine gesellschaftliche Rationalität zu verkörpern; dabei können sie sich in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Hegemonien oder im Widerspruch zu denselben befinden. Die Entwicklung der Motorik kann somit zumindest zu einer (körper-)politischen Angelegenheit werden. Die Ausbildung eines kollektiven Körperschemas Kann sich aber über habituelles Bewegungslernen mitsamt der Interaffektivität, innerhalb derselben der eigene Leib von dem Gefühlsausdruck eines anderen Menschen affiziert wird, d. h. die Kinetik und Intensität des anderen am eigenen Leib erfahren wird (Fuchs 2013, 17), ein (sozial-)struktureller Bias mehr oder weniger dauerhaft in ein affektiv-motorisches Schema einschreiben? Insofern dies möglich wäre, dann handelte es sich beim Motorikerwerb tatsächlich um eine (körper-)politische Praxis, da sozialer Bias gesellschaftlich- - im Sinne eines doing difference- - hergestellt wird und somit auf eine (gesellschafts-)politische Praxis verweist. Die Praxistheorie des Soziologen Pierre Bourdieu legt dies nahe. In einer kritischen Sicht auf Maurice Merleau-Pontys Blindheit für soziale Ungleichheitsstrukturen wie soziale Klassen und Geschlechterverhältnisse betont Bourdieu (1987), dass der Modus der Inkorporation zur Ausbildung eines, wie er es nennt, »praktischen Sinns« führt, der die Anpassung an die Erfordernisse des Feldes uno actu des Bewegungslernens »miteinverleibt« und [ 175 ] Wuttig • Ist Motorik politisch? 4 | 2023 [ 175 ] Wuttig • Ist Motorik politisch? 4 | 2023 vorwegnimmt (Bourdieu 1987, 122). Der Leib ist in seiner Hinsicht historisch gewordene Sozialstruktur, die von den Individuen als »natürlich« erlebt wird (ebd.). Dies ist möglich, da die Sozialstruktur in Form einer Verhaltens-, Benimm-, Haltungs- und Geschmacksregel in Fleisch und Blut übergegangen ist; der Akt der mimetischen Aneignung wurde sozusagen vergessen (präreflexiv). Konkret: Bourdieu geht davon aus, dass Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten oder Geschlechteridentifikationen jeweils angemessene modi operandi entwickeln. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Ausbildung des Körperschemas zu. Menschen bilden ein spezifisches Körperschema aus, das mit der Vorstellung vom eigenen Körper und den mit dieser Vorstellung einhergehenden motorischen Fähigkeiten erklärt werden kann (Wuttig 2014, 193). Etwas vereinfacht: Wir tendieren dazu, die sozialen Gewohnheiten derjenigen Gruppe zu inkorporieren, zu der wir glauben dazuzugehören. Diese Zugehörigkeit ist eine praktische- - sie ergibt sich aus den Alltagsbezügen, sie ist aber auch Effekt von Selbst- und Fremdzuschreibungen, Ablagerungen der Imaginationen der anderen über die eigene soziale Gruppe bzw. (Geschlechter-)Klasse. Inwiefern spielt also das Körperschema eine bedeutende Rolle im Erwerb der sozialen Welt? Im Erwerb des Körperschemas wird die Verschränkung von sozialer Welt und Selbst offensichtlich. Die Leibphänomenologie besteht darauf, dass das Selbst nicht nur »eine Motorik entwickelt«, sondern sozusagen als leiblich verfasstes Selbst seine Motorik ist. Als leiblich verfasste Selbste nehmen Menschen sich selbst und die Welt (er-)spürend wahr (Schaufler 2002, 30). Dabei ist der Leib, als belebter und von innen heraus gespürter Körper Träger des Ich. Die Herausbildung des Körperschemas (als mentale Repräsentation des Körpers) ist also nicht vom Selbst und der leiblichen Wahrnehmung zu trennen. Das Körperschema ist dabei leiblich affektiv besetzt. Paul Schilder (1950) macht deutlich, dass die Herausbildung des »individuellen« Körperschemas im Grunde aber ein der sozialen, institutionalisierten Struktur nachgelagertes Ensemble ist (Schilder 1950, 44). Im Körperschema findet sich die Welt- - wenn man so will. Die Entwicklung der Motorik, insofern sie an die Ausbildung eines Körperschemas geknüpft ist, ist hernach eine kollektive Angelegenheit. Denn: Das Körperschema, welches bei Merleau-Ponty als das »Zur-Welt-Sein« des Leibes-verstanden wird und somit die Einheit der gelebten Leiblichkeit als auch die Einheit des Wahrgenommenen bildet, ist untrennbar mit der Frage nach der Subjektivität verbunden (Kristensen 2012, 25). Und: Diese auf das Körperschema sich konstituierende Subjektivität ist relational: »The postural models of human beings are connected with each other« (Schilder 1950, 44). Insofern das Körperschema als grundlegend für die Wahrnehmung des Selbst und die Beziehung mit dem anderen gilt (Kristensen 2016, 54), ist es nicht (nur) physiologisch-individuell, sondern immer bereits von kollektiven Strukturen durchzogen (Schilder 1950, 44). Dieser (postphänomenologische) Gedanke findet sich im Grunde bereits bei Maurice Merleau- Ponty angelegt, wenn er formuliert, dass der leiblich-zwischen-menschliche Raum dem sich zur Welt wahrnehmenden »Ich« nachgelagert ist, und nicht vice versa (Merleau-Ponty 1968, 142). In jedem Fall zeigt sich der Leib als ein symbolisches System, das ihn formt (Kristensen 2016, 56). Es sind eben genau diese symbolischen Ablagerungen der Welt, die den Leib nicht als geschlossene Entität stehen lassen, wie es bspw. das skin-and-skull-boundary- Modell vertritt, demnach der eigene Körper an der Haut-Schädel-Grenze anfängt und dort eben auch die Welt endet (Buller 2021). Aus letzterer Sicht wäre Motorik(-erwerb) kein sozialer, sondern ein ausschließlich mechanistischer, biologischer Prozess. Da sich im leiblichen Erleben aber offenbar symbolische Ablagerungen finden (dies wird besonders in körperpsychotherapeutischen Verfahren deutlich, wenn bestimmte Bewegungen biografische Erinnerungen mitsamt den damit verbundenen Glaubenssätzen wachrufen), kann der Leib als prinzipiell auf andere Im Erwerb des Körperschemas wird die Verschränkung von sozialer Welt und Selbst offensichtlich. [ 176 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik körperliche Leiber hin geöffnet begriffen werden (Merleau-Ponty 1968, 142). Stefan Kristensen (2016, 55) hält fest: »Die Grundidee ist, dass die Struktur des lebendigen Leibkörpers von kollektiven Strukturen durchzogen ist, dass es ein Ineinander gibt von kollektiven und individuellen (im engen Sinne physiologischen) Wirkungen, die dazu beitragen, dem Leibkörper seine Struktur zu geben.« Daraus folgt, dass auch die Ausbildung der Motorik und des Körperschemas keine kulturellen a priori darstellen, sondern vielmehr selbst fleischlich gewordene Effekte der für die Leiberfahrung konstitutiven Bedeutungen der sozialen, kulturellen, politischen und historischen Welt sind (Marcinski 2016, 274). Unter welchen sozialen und politischen Bedingungen kann also wer welche Motorik ausbilden? Am Beispiel der Ausbildung eines kolonialisierten Körperschemas soll dies nun abschließend verdeutlicht werden. Das (entkörperte) Körperschema des kolonialisierten Subjekts Inwieweit die je situativ (un-)mögliche Formung des Körperschemas bereits selbst ein politischer Akt ist, beschreibt der Psychoanalytiker Frantz Fanon in seinen autobiografischen, körperlich-leiblichen (Rassismus-)Erfahrungen des kolonialisierten Schwarzen in einer weißen Welt. Schwarz (großgeschrieben) verweist auf eine politische Kategorie, die als Selbstbezeichnung aus emanzipatorischen Kämpfen hervorgegangen ist; weiß ist kursiv geschrieben und meint in dieser Schreibweise eine politische Kategorie, eine Subjektposition und keine metaphysische oder essentialistische Annahme eines So-Seins von Menschen. Die beschriebenen (Rassismus-) Erfahrungen stellen auch eine kritische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen und generalisierenden Konzepten zum Körperschema dar: »Und dann geschah es, dass wir dem weißen Blick begegneten. Eine ungewohnte Schwere beklemmte uns. Die wirkliche Welt machte uns unseren Anteil streitig. In der weißen Welt stößt der Farbige auf Schwierigkeiten bei der Herausbildung seines Körperschemas. Die Erkenntnis des Körpers ist eine rein negierende Tätigkeit. Eine Erkenntnis in der dritten Person. Rings um den Körper herrscht eine Atmosphäre sicherer Unsicherheit. Ich weiß: Wenn ich rauchen möchte, muss ich den rechten Arm ausstrecken und nach dem Päckchen Zigaretten greifen, das am anderen Ende des Tisches liegt. Die Streichhölzer dagegen sind in der linken Schublade, ich muss mich etwas zurücklehnen. Und alle diese Gesten mache ich nicht aus Gewohnheit, sondern aufgrund einer stillschweigenden Erkenntnis. Langsamer Aufbau meines Ichs als Körper innerhalb einer räumlichen und zeitlichen Welt, dies scheint das Schema zu sein. […] Hinter dem Körperschema hatte ich ein historischrassisches Schema geschaffen. Die Elemente, die ich verwendete, waren mir nicht durch ›Reste von Empfindungen und Wahrnehmungen vor allem taktiler, auditiver, kinästhetischer und visueller Natur‹ geliefert worden, sondern durch den anderen, den Weißen, der mich aus tausend Details, Anekdoten, Erzählungen gesponnen hatte.« (Fanon 2013, 94) Worauf Fanon hier womöglich abhebt, ist, dass es Menschen, die von Rassismus betroffen sind, in einer Welt weißer Hegemonie nicht so ohne weiteres möglich ist, über mimetische Prozesse ein als natürlich empfundenes Körperschema auszubilden. Eine Definition des Körperschemas lautet ja wie folgt: »Das Körperschema besitzt solcher Art nicht nur ein Wissen über die Positionierung unseres Körpers im Raum, sondern es versteht sich auch auf das ›Ergreifen‹ und ›Explorieren‹ der uns umgebenden Dinge, ohne dass wir uns das bewusst vor Augen führen müssten« (Gerlek 2016, 65, Hervorhebung B.W.). Genau das Sichverstehen auf das selbstverständliche, eben von innen kommende, leibvergessene Ergreifen der Dinge (nicht eines, welches aus der Erkenntnis einer dritten Person stammt) scheint Fanon nicht (mehr) zu vermögen, wenn er beschreibt, wie er über kognitive Prozesse versucht, einen Zugang zu seinem Kör- Unter welchen sozialen und politischen Bedingungen kann also wer welche Motorik ausbilden? [ 177 ] Wuttig • Ist Motorik politisch? 4 | 2023 [ 177 ] Wuttig • Ist Motorik politisch? 4 | 2023 per (wieder-) zu erlangen und damit ein Scheitern in der selbstverständlichen Raum- und Welteinhausung andeutet: »Ich weiß: wenn ich rauchen möchte, muss ich den rechten Arm ausstrecken und nach dem Päckchen Zigaretten greifen.« (Fanon 2013, 94) Mit dieser Erfahrung eines Schwarzen Kolonialisierten in einer weißen Welt gerät die Rede von »unserem Körper, »unserem Körperschema«, »unserer Motorik«, die »Soll-Eigenschaften« als den normativen Ist-Zustand ausgibt, die also als angebliche Eigenschaft des universell Menschlichen daherkommt, radikal infrage. Das universell Menschliche zeigt sich bereits immer als das weiße Männliche. Deutlich wird dies an Fanons Auseinandersetzung mit zeitgenössischen neurowissenschaftlichen Schriften zum Körperschema, die unzutreffend von »unserem« Körper sprechen. »L’image de notre corps« (Autor: Jean Lhermitte, vgl. Fanon 2013, 205) (deutsch: das Bild unseres Körpers) geht unter der Hand davon aus, dass der Körper des weißen Mannes und die Strategien seiner Aneignung für alle Menschen gelten müssten. Diese Idee ist ein Mythos. Koloniale, sexistische und sexuierende Ausbeutungsstrukturen machen es für Menschen, die nicht der deutschen Norm entsprechen, genauso wie auch für Mädchen und Frauen, für Transmenschen und Menschen mit Be-Hinderung, nicht ohne weiteres möglich, den eigenen Körper zu affirmieren. Die Affirmation des Selbst wäre aber wohl die Bedingung für eine habituelle Ausbildung des Körperschemas und letztlich auch für eine leibvergessene Motorik, die nicht bei jeder Bewegung das Leibgefühl mit der sozialen Passung (die Bewegung verunsichernd) abgleicht. Genau dies scheint Fanon (2013) nämlich zu beschreiben: In der Assoziation mit seinen alltäglichen Rassismuserfahrungen- - »In der Eisenbahn überließ man mir nicht einen, sondern zwei, drei Plätze« (Fanon 2013, 96)- - spricht er ja auch von einer negierenden Bezugnahme auf die Tätigkeit der Ausbildung des Körperschemas (s. o.). Man gewinnt den Eindruck, als handle es sich in der Tat um eine psychisch qualvolle, selbstkorrektive Tätigkeit und nicht um eine mühelose, präreflexive Gewohnheit. In einer Welt, die seit dem Aufkommen des Humanismus im 17. Jahrhundert den weißen männlichen Körper zum normativen Maßstab für das Menschliche überhaupt nimmt (Braidotti 2014) und die alle anderen Körper abwertet, objektifiziert, kolonialisiert-- eine Praxis, die übrigens bis heute in der Frauensexarbeit, der Kinderarbeit des Südens und der modernen Versklavung von men of color fortwirkt- - ist es nicht ohne weiteres möglich, das eigene Körperschema zu negieren. Der »langsame Aufbau« eines durch den weißen Blick zusammengesetzten Ichs, welches sich nicht mit dem Ich deckt, welches Fanon in den Kolonien entwickelte (entwickeln musste), oder sich gerade allzu sehr deckt, schlägt in der Lähmung der scheinbar selbstverständlichsten Bewegungen auf, funkt dazwischen. Leibvergessenheit hingegen (gemeint ist das »Sich nicht bewusst vor Augen führen müssen« der Bewegung) wird mithin als ein weißes männliches Privileg sichtbar; das kinästhetische Ich kann (Husserl) interrogiert zum »Wer kann kinästhetisch? « (Wuttig 2021, 188). Leibvergessenheit ist nicht so sehr eine universelle Konstante, sondern vielmehr immer auch eine biopolitische Konfiguration. Koloniale Machtverhältnisse schreiben sich- - so scheint es- - bis tief in die organische Ausstattung ein: Menschen, die eine unmarkierte, komfortable Position einnehmen, wird oft nicht einmal klar, dass sie ein partikulares, die gesellschaftlichen Räume bestimmendes weißes Körperschema ausbilden. Das Politische der Motorik zeigt sich, so lässt sich nun resümieren, in dem Verlust der Möglichkeit auf selbstverständliche Verkörperung. Der einst gelernte motorisch-affektive Ausdruck wird zur abgelaufenen Software (»Die Elemente, die ich verwendete, waren mir nicht durch ›Reste von Empfindungen und Wahrnehmungen vor allem taktiler, auditiver, kinästhetischer und visueller Natur‹ geliefert worden«, Fanon 2013, 94), nicht (ein-)lesbar in der Dominanzkultur. Der Zwang zu einem kolonialistischem Motorikmanagement bedeutet auch den Verlust des sense of okayness, der Das kinästhetische Ich kann (Husserl) interrogiert zum »Wer kann kinästhetisch? « [ 178 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik nicht einer individuellen Zueignung oder Aberkennung entspringt, sondern in dessen unmöglicher Verkörperung sich kollektive, politische Verhältnisse widerspiegeln (»de[r] Weiße [,] der mich aus tausend Details, Anekdoten, Erzählungen gesponnen hatte«) (Fanon 2013, 94). Fazit Motorik ist womöglich insofern politisch, als soziale Normen sich verkörpern und motorische »Fähigkeiten« orchestrieren. Die Möglichkeit, den eigenen Körper im Raum selbstverständlich bewegen zu können und dabei eben auf biografische Wahrnehmungen, seien sie taktiler, visueller oder auditiver Natur, mühelos zurückgreifen zu können, die Eigenbewegungen spüren zu können (in einer mimetischen ressemblance etwa mit den Eltern), Dinge zu ergreifen, sie indes in das eigene Körperschema nonchalant zu integrieren und sich darüber in die Welt einzuwohnen (Ahmed 2006) und genau darum auf sie einwirken zu können, sie gestalten zu können, all dies muss als zutiefst eingebettet in die politischen Bedingungen der Ermöglichung begriffen werden. Sich gelingend verkörpern zu können, ist womöglich ein Privileg und nicht die Regel. In jedem Fall sind Körper offene, kollektive Gebilde, die in Relation zu sozialen Prozessen formbar sind- - sie werden Körper und mit ihnen auch Körperschema und Motorik(en). In diesem Sinne muss eine kritische psychomotorische Entwicklungsförderung immer genau diese Ermöglichungsbedingungen des modus operandi sowie des kollektiven leiblichen Geworden-Seins bedenken. Eine Lehre von der apriorischen Entwicklung der Motorik des Menschen wäre ein falsch verstandener Universalismus, der letztlich verkennt, wie situiert motorische Prozesse sind, in ihren politischen Bedingungen der Existenz. Literatur Ahmed, S. (2006): Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others. Duke University Press, Durham, https: / / doi.org/ 10.1515/ 9780822388074 Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main Braidotti, R. (2014): Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Campus, Frankfurt am Main Buller, T. (2021): Actions, Agents and Interfaces. 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UB Marburg, https: / / doi.org/ 10.17192/ z2015.0225 Die Autorin Prof. Dr. Bettina Wuttig Professur für Psychologie der Bewegung am Institut für Sportwissenschaft und Motologie der Philipps-Universität Marburg, Arbeitsschwerpunkte: Verkörperungstheorien, Geschlechterverhältnisse in Sport, Motologie und Körperpsychotherapie; autoethnografische Bewegungsforschung, feministische Wissenschaftskritik und Erkenntnistheorie, Mensch-Technik-(Selbst-)Verhältnisse; Herausgeberin der Reihe Soma Studies beim transcript Verlag. Anschrift Prof. Dr. Bettina Wuttig Barfüßerstr. 1 35037 Marburg wuttig@uni-marburg.de C E R TI F ICAT E P R O G RAM IN L A B A N / B A R T E N I E F F M O V E M E N T S T U D I E S Director: Antja Kennedy Phone: +49 30 52282446 info@eurolab-programs.com www.eurolab-programs.com Applic. De Summer Intensive in English in Berlin adline: Feb 24, 2023 .